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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Zarte Gewalt, gewaltige Zärtlichkeit: Neues von Bodo Kirchhoff
Es ist jetzt genau ein Vierteljahrhundert her, daß der Schriftsteller Bodo Kirchhoff die literarische Bühne betrat. Die abgegriffene Bühnenmetapher ist hier einmal angebracht, denn Bodo Kirchhoff hat wie nur wenige seiner Zunft die theatralischen Aspekte seiner Profession und ihres Betriebs im Blick. Nicht zufällig hat er mehrere Bühnenstücke geschrieben, darunter "Body-Building" von 1979, "Wer sich liebt" (1984) oder "Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf" (1995). Ein recht ordentlich entwickelter Hang zur Selbstdarstellung hat ihm oft den Vorwurf des Pfauenhaften eingetragen; die Konsequenz, mit der er das Erotische auch in seinen abseitigen Aspekten zum Thema seiner Bücher machte, führte dazu, daß dieser Autor in den achtziger Jahren von vielen als eitler Erotomane abgestempelt wurde: Kirchhoff war der schöne Spezialist für den Rotlichtbezirk der deutschen Prosa. Und lange Zeit sah es aus, als hafte dieses Etikett an ihm wie die Fliege am Leim. Noch heute, gut zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Erzählungsbandes "Die Einsamkeit der Haut", werden Fernsehbeiträge über den Schriftsteller und seine Bücher mit Szenen aus Bordellen und Nachtclubs illustriert.
Kirchhoff dürfte nicht viel Energie darauf verschwendet haben, dieses Klischee abzuschütteln. Heute muß man sagen: Er hat es überwunden, indem er ihm treu blieb. Nach wie vor steht das weite Feld der Erotik im Zentrum seines Werks, nach wie vor ist er hin- und hergerissen zwischen dem Licht der Scheinwerfer und der Einsamkeit der Schriftstellerklause. Er geißelt den Zustand der literarischen Öffentlichkeit und bemüht sich zugleich um eine eigene Literatursendung im Fernsehen, einem Medium, das er als Drehbuchschreiber kennengelernt hat und dessen Gesetze für ihn ebenso gelten wie für jeden anderen. So pendelt Bodo Kirchhoff emsig zwischen Laufsteg und Gehäus'.
Auch in seinem neuen Roman spielt die Bühne eine Rolle. Nach den Proben zu einer Schüleraufführung von Shakespeares "Sommernachtstraum" findet die Liebesszene zwischen Pyramus und Thisbe im Heizungskeller des Hölderlin-Gymnasiums eine Fortsetzung. Bei Musik und Kerzenlicht kommen sich die Schülerin Tizia und der Ich-Erzähler Viktor näher. Der Hausmeister hört Geräusche, deren Deutung er lieber den Hierarchen des Gymnasiums überläßt, die beim benachbarten Griechen sitzen, um den Geburtstag der Direktorin zu feiern. Als das alarmierte Lehrerkollegium sich vor der Tür des Heizungskellers drängt, den Fleischspieß noch in der Hand, die geschmorten Auberginen in der Alufolie, scheint die Situation peinlich, aber nicht dramatisch. Erst als am nächsten Tag Tizia und ihre Mutter eine Vergewaltigung beim Lehrerkollegium anzeigen (nicht aber bei der Polizei), stehen die Lehrer des "Hölderlin" vor einem Problem, das ernster ist als jede Versetzungsfrage: Wem sollen sie glauben, den Anschuldigungen Tizias, die Viktors Schulverweis fordert, oder den Unschuldsbeteuerungen des Ministersohns Viktor?
Ein Schulroman also? Nein, denn die Passagen des Buches, in denen ausführlich die entscheidende Sitzung des Kollegiums beschrieben wird, sind zwar ein Kabinettstückchen des Genres, aber nicht das Herz dieses Buches. Kirchhoff, ein Menschenbeobachter, versammelt Klischeebilder - den dümmlichen Sportlehrer, den wunderlichen Philologen, die vertrocknete Stellvertreterin, das Ehepaar, dessen Herz für Henna im Haar, die "Dritte Welt" und alle Opfer schlägt - und er erfüllt sie alle im Handumdrehen mit Leben. Das ist so scharf beobachtet, so witzig, dramaturgisch geschickt und spannungsreich erzählt, daß man an die Kammerspiele von David Mamet denken muß. Wie Mamet hat Kirchhoff vor dem Klischee ebensowenig Scheu wie das Leben selbst.
All das zeigt Kirchhoff auf der Höhe - nicht seiner Kunst, aber seines Handwerks. Ist das ein Kompliment? Ja und nein, denn natürlich hat Kirchhoff mehr im Sinn, als unter Beweis zu stellen, daß ein perfekter Unterhaltungsschriftsteller an ihm verloren gegangen ist. Deshalb hat er eine komplizierte Erzählstruktur ersonnen. Was wir über die Konferenz erfahren, ist Viktors bearbeitete Fassung eines Protokolls, das sein Deutsch- und Philospohielehrer Branzger verfaßt hat. Lehrer und Schüler haben unmittelbar nach dem Vorfall im Heizungskeller ein Geschäft verabredet: Branzger erzählt Viktor den Verlauf der Konferenz, wenn Viktor im Gegenzug dem Lehrer gesteht, was wirklich zwischen ihm und Tizia geschah. Zum Zeitpunkt von Viktors Bericht liegen diese Ereignisse mehr als zehn Jahre zurück. Viktor ist mittlerweile Mitarbeiter im Goethe-Institut von Lissabon, wo er eine Abendveranstaltung zum Thema "Das traurige Ich" vorbereiten. Um den melancholischen, fadoumflorten Portugiesen deutsches Herzeleid nahezubringen, sucht er eine junge Schauspielerin, die möglichst ohne Honorar deutsche Lyrik vorträgt. Er findet sie am Stadttheater in der Provinz. Es ist Tizia, die der Schauspielerei also die Treue gehalten hat. Steckt darin vielleicht ein Hinweis auf mangelnde Glaubwürdigkeit? Weil Viktor sie einlädt, ohne sich zu erkennen zu geben, und wir immer noch nicht wissen, was damals geschah, muß man zumindest fürchten, es sei nun das zweite Mal, daß Viktor die Frau, die er begehrt, in einen Hinterhalt lockt.
Während er auf Tizias Ankunft wartet und sich unversehens ein Techtelmechtel mit der Institutsleiterin anbahnt, schreibt er jenen Roman, den Lehrer Branzger von seinem Lieblingsschüler verlangt hatte, ohne es auszusprechen. Branzgers Deal diente nicht nur der Befriedigung der masochistisch angehauchten Neugier eines kranken alten Mannes, der unglücklich in seinen Schüler verliebt war, sondern sollte Viktor etwas lehren, was auf keinem Lehrplan verzeichnet ist - das Kunststück, über seine eigenen Gefühle nachzudenken und zu sprechen, Rechenschaft abzulegen nicht in moralischem, sondern in poetischem Sinn.
Liebe, Begehren und Verlangen, Lust, Gier und Gewalt - all dies steht im Zentrum von Branzgers Denken und von diesem Roman. Sein Titel bezieht sich auf jenen Ort an der portugiesischen Küste, wo das Land endet und das Meer beginnt, wo Europa sich mit dem Atlantik vermählt. Das ist Kirchhoffs bezwingend schönes Bild für die Liebe: Sie ist der Ort, an dem wir den Boden unter den Füßen verlieren und von Wellen getragen werden, die uns im nächsten Moment zu verschlingen drohen. Auch den Abgrund in Kauf zu nehmen, das ist eine der Einsichten, die der philantropische Egomane Branzger vermitteln will - wenn es sein muß, mit Gewalt.
Wo die Gewalt anfängt, wenn zwei sich lieben, das ist eine der Fragen, die Bodo Kirchhoff beschäftigen. Im Roman sieht sich das Lehrerkollegium plötzlich mit ihr konfrontiert. Wer über die Liebe spricht, das ist Kirchhoffs Moral, muß damit rechnen, daß es ihm die Eingeweide von innen nach außen kehrt, ob er will oder nicht. Den Beweis läßt er das Lehrerkollegium ebenso führen wie Viktor und den alten Branzger selbst, der nicht nur seinen Schüler liebt, sondern auch eine leidenschaftliche Affäre mit dessen Theaterlehrerin Kressnitz hatte. Wie Tizia und Viktor standen auch Branzger und seine junge Kollegin auf einer gemeinsamen Klassenreise nach Portugal an jenem Punkt der Küste, wo das Meer beginnt.
So konkurrieren also drei Liebesgeschichten in diesem Roman miteinander (und etliche andere spielen am Rande ihre Rolle): Viktor war versessen auf die schöne Tizia, Branzger, der Mann, der von sich sagt, er müsse lieben ohne Unterlaß, liebt seinen Schüler und trauert der Kressnitz nach. Und hier, in der Affäre mit der verschlossenen Kunstlehrerin, scheint plötzlich wieder jener Branzger auf, der schon in Bodo Kirchhoffs Prosadebüt aus dem Jahr 1979 die Hauptfigur abgab. In der Novelle "Ohne Eifer, ohne Zorn" war Branzger ein einsamer Antiheld mit abstoßenden Neigungen. Eine unsympathische Figur, nicht nur wegen ihrem Hang zu koprophilen und nekrophilen Handlungen. Ein Vierteljahrhundert später ist Branzger ein auf anrührende und abstoßende Weise liebevolles Wesen, gefährlich, klug, zärtlich und skrupellos. In den Zwiegesprächen zwischen Lehrer und Schüler, ihrem schillernden Spiel von Werben und Gewähren, Verstehen und Verweigern, erweist sich Kirchhoff wiederum als auf der Höhe - nicht nur seines Handwerks, sondern auch seiner Kunst. Tizia, die schöne, kluge, unerreichbar scheinende Tizia, kann Viktor nur von außen sehen. Er begehrt eine hübsche Hülle. Den alten, nicht nur von Krankheit gezeichneten Branzger hingegen sieht Viktor, wie er ist: ein abstoßendes, geistfunkelndes, gefährliches Wrack, das ihn kaum zu berühren wagt, ihm aber näher kommt als jeder andere Mensch zuvor. Von Branzger lernt Viktor, daß das Meer schon weit außerhalb des Bettes seinen Anfang nimmt.
Die "Einsamkeit der Haut" ist noch immer Kirchhoffs Thema, aber die Rotlichtbezirke der Prosa hat er endgültig hinter sich gelassen. Nun muß er nur noch die Koketterie ablegen. Denn was anderes als Koketterie ist es, wenn in gemäßigten Abständen Frankfurter Lokalprominenz ohne jede dramaturgischen Begründung Erwähnung findet, wenn die Oberbürgermeisterin, der ehemalige Kulturdezernent oder eine Nachrichtensprecherin mit ein paar Zeilen gegrüßt werden. Ein Freundschaftsdienst mag es sein, wenn Kirchhoffs enger Freund und Verleger Joachim Unseld auf wenigen Seiten als guter Freund Branzgers beschrieben wird, der mit einer mythischen Vaterfigur ringt und aus dem Unternehmen ausscheidet, das der Erbe schließlich an die Stiefmutter verliert. Die kleine Suhrkamp-Kolportage hat im Roman zwar ihre Funktion als Beispiel einer wunderbaren Männerfreundschaft, aber die Frage bleibt: Was soll's? Man kann darüber aber nicht ohne große Mühen hinweglesen, sondern man tut es auch. Kirchhoff mag in seinem neuen Roman zwar über solche Kieselsteine stolpern, aber wo das Land endet und das Meer beginnt, ist seine Prosa oft von bewundernswerter Sicherheit.
Bodo Kirchhoff: "Wo das Meer beginnt". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 307 S., geb., 19,80 [Euro].
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