»Ein reiches und reichhaltiges Buch. Diese heitere Bösartigkeit führt vielleicht zur Verbesserung der Welt oder ins nächste Wirtshaus.« Elfriede Jelinek
Es ist das Jahr 1994. In einem Kärntner Dorf am Fuß der Karawanken sitzt die Erzählerin unter einem Lkw und beobachtet die Welt und die Menschen knieabwärts. Sie ist elf Jahre alt und spielt Verstecken mit ihrer Freundin Luca aus Bosnien. Zum letzten Mal, denn die Familie zieht um. Der Hof ist zu klein geworden für den Ehrgeiz der Mutter, die ausschließlich eines im Kopf hat – bürgerlich werden! Nach und nach treffen immer mehr Nachbarsleute ein, um beim Umzug zu helfen, und das Kind in seinem Versteck beginnt zu erzählen: von seiner Angst, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil es kurze Haare hat. Weil es Bubenjeans trägt. Weil es heimlich in Luca verliebt ist. Dabei ist sie nicht die Einzige, die etwas verbergen muss. Sie kennt Geschichten über die Ankommenden, die in tiefe Abgründe blicken lassen und doch auch Mitgefühl wecken.
Julia Jost schildert in ihrem Debütroman das Aufwachsen in einer archaischen Bergwelt zwischen Stammtisch und Beichtstuhl – und wie man hier als querstehendes Kind überlebt und sich der vorgegebenen Ordnung widersetzt: dank einer zärtlichen Freundschaft und durch ein wildes, überbordendes Erzählen, das die Wirklichkeit besser macht, als sie ist.
ZDF-»aspekte«-Literaturpreis 2024 (Shortlist) Österreichischer Buchpreis, Debüt des Jahres 2024 (Shortlist) Literaturpreis Fulda 2024 (Shortlist) ORF-Bestenliste SWR-Bestenliste
Es ist das Jahr 1994. In einem Kärntner Dorf am Fuß der Karawanken sitzt die Erzählerin unter einem Lkw und beobachtet die Welt und die Menschen knieabwärts. Sie ist elf Jahre alt und spielt Verstecken mit ihrer Freundin Luca aus Bosnien. Zum letzten Mal, denn die Familie zieht um. Der Hof ist zu klein geworden für den Ehrgeiz der Mutter, die ausschließlich eines im Kopf hat – bürgerlich werden! Nach und nach treffen immer mehr Nachbarsleute ein, um beim Umzug zu helfen, und das Kind in seinem Versteck beginnt zu erzählen: von seiner Angst, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil es kurze Haare hat. Weil es Bubenjeans trägt. Weil es heimlich in Luca verliebt ist. Dabei ist sie nicht die Einzige, die etwas verbergen muss. Sie kennt Geschichten über die Ankommenden, die in tiefe Abgründe blicken lassen und doch auch Mitgefühl wecken.
Julia Jost schildert in ihrem Debütroman das Aufwachsen in einer archaischen Bergwelt zwischen Stammtisch und Beichtstuhl – und wie man hier als querstehendes Kind überlebt und sich der vorgegebenen Ordnung widersetzt: dank einer zärtlichen Freundschaft und durch ein wildes, überbordendes Erzählen, das die Wirklichkeit besser macht, als sie ist.
ZDF-»aspekte«-Literaturpreis 2024 (Shortlist) Österreichischer Buchpreis, Debüt des Jahres 2024 (Shortlist) Literaturpreis Fulda 2024 (Shortlist) ORF-Bestenliste SWR-Bestenliste
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Von einem Dorf in Kärnten und dessen völlig alltäglichem Grauen erzählt Julia Josts Debütroman: Ein Kind stirbt beim Spielen mit anderen Kindern, SS-Devotionalien tauchen auf, Homosexualität ist verpönt, Väter verprügeln ihre Söhne. Davon berichtet eine elfjährige Erzählerin, die für Rezensentin Judith von Sternburg eigentlich ein bisschen zu klug für ihr Alter ist, deren Sprache sie zwar stark und überzeugend findet, die sie aber gelegentlich an Josef Winkler erinnert. Stellenweise droht der Roman zu überladen zu werden, aber auch das hat Methode - und Witz, schließt die Kritikerin, die den Roman vor allem sprachlich überzeugend findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2024Vier Frauengenerationen und alle unglücklich
Julia Josts Romandebüt schaut mit unbarmherzigem Blick auf die Abgründe des Dorflebens
Noch in den traurigsten Passagen lacht man innerlich beim Lesen. Der Erstlingsroman "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" der Österreicherin Julia Jost ist derart temperamentvoll und pfiffig geschrieben, dass man gar nicht anders kann. Die Vorzüge dieses Erzählens stechen sofort ins Auge: eine ebenso burschikose wie unbarmherzige Beobachtungsgabe, mit der die verborgensten Abgründe ausgeleuchtet werden. Und eine urtümliche Form von schlagfertigem Mutterwitz, der die Verhältnisse denunziert, ins Surreale überdehnt und gleichzeitig mit ihren dunklen Abgründen versöhnt.
Julia Jost erzählt die Geschichte einer Elfjährigen, die 1994 in einem Kärtner Dorf am Fuße der Karawanken unter dem Lkw ihres Vaters sitzt und aus ihrer Optik beschreibt, was sie sieht. Natürlich ist es eine Erwachsenenperspektive, die der kindlichen Icherzählerin untergeschoben wird. In einer effektvollen, manchmal etwas gar inkohärenten und wilden Mischung aus kindlicher Beobachtung, altkluger Interpretation und Erinnerungen an das Familien-, Schul- und Dorfleben leuchtet Bild um Bild einer Kindheit in der österreichischen Provinz auf. Die Geschichte birgt gehöriges Entlarvungspotential, und zwar gerade in der komischen Überzeichnung. Die Einschübe im Kärntner Dialekt, mit denen die Erzählerin die Sprechspuren ihrer Figuren untermalt, verstärken noch den maliziösen Grundton. Die Autorin hat den Menschen genau aufs Maul geschaut: Sie verraten sich selbst durch ihre derbe Sprache, die lautstark durch den Text hallt.
Das Dorf, in der das Mädchen aufwächst, ist eine gewalttätige Welt. Hier herrscht ein Leben zwischen rigider Sozialkontrolle, patriarchalischer Macht, verdeckten Schandflecken wie der Nazivergangenheit und den Drohungen des Beichtstuhls. Und das Kind passt da nicht hinein: ein androgynes, zwischen den Geschlechtern flottierendes Mädchen mit kurzen Haaren, das die Jeans provozierend locker auf den Hüften trägt und ab und zu eine Socke in die Hose steckt, sodass es auch als ein Bub durchgehen könnte. Heimlich ist es in seine Freundin Luca verliebt, die Tochter des bosnischen Hausmeisters.
Dieses verbotene Begehren versteckt das Mädchen, das zwei ältere Brüder hat, sorgfältig vor den anderen, weil es fürchtet, dafür im Katzensee ertränkt zu werden. Die traditionellen Regeln im Kärtner Schakatal sind eisern, und wer gegen die vorgegebene Ordnung verstößt, wird brutal bestraft. Es ist eine Dorfgemeinschaft der Selbstgerechten, Scheinmoralischen und Opportunistischen, in der die Starken überleben und die Schwachen mit Ausgrenzung bestraft werden.
Franzi ist so einer. Ein Opfer seiner Naivität, der die gruppendynamischen Gesetze des Provinzdorfs mit dem Tode bezahlen wird. Er trägt ein pastelllila T-Shirt und blaue Puma-Schuhe mit einem Klettverschluss-Geheimfach. Kein Einheimischer - er ist aus Tirol nach Kärnten emigriert. Warum, erfährt die Icherzählerin aus einem Gespräch der beiden Mütter: Franzi war Messdiener in einer angesehenen katholischen Volksschule in Innsbruck. Als er einmal nach der Heiligen Messe nicht zurückkehrte, suchte ihn die Mutter in der Sakristei und ertappte den Geistlichen in flagranti, als der ihr Kind missbrauchte. Sie packte den "nackten Putto", "schaffte ihn ins Auto und rauschte nach Hause in ihre Reihenhaushälfte". Gleich am anderen Tag zog sie weg, nach Kärnten.
Dort aber ist Franzi ein Außenseiter. Um sich die Freundschaft der Klassenkameraden zu sichern, lässt er sich von den Stärksten der Klasse zu gewalttätigen Initiationsritualen überreden. Die Mutprobe endet mit seinem Ertrinken in einem Brunnen. Andreas, der Klassenstärkste, Karla, Ludwig und Volker lassen ihn an einem Seil befestigt hinunter, damit er ein Messer hole, das sie hinuntergeworfen haben. Es ist großes, heuchlerisches Theater, das die Dorfbevölkerung bei Franzis Beerdigung aufführt: Die Eltern überschlagen sich vor Mitleid und Barmherzigkeit. Kein Wort, dass es ihre Kinder waren, die getötet haben.
Ein halbes Jahr nach Franzis Tod hat Andreas, als er einmal die erwartete Sport- und Schulleistung nicht erbrachte, eine Unterredung mit dem Vater - ein Anschauungsunterricht der patriarchalischen Härte. Das bestärkt ihn darin, fortan zu den Siegern gehören zu wollen und andere Menschen zu verängstigen, statt selbst verängstigt zu werden. Sein Vater war als Feuerwehrmann an der Bergung des toten Kindes beteiligt und beschreibt dem Sohn akribisch, wie die Leiche des ertrunkenen Buben aussah. Er will ihm damit demonstrieren, was mit Jungen passiert, wenn sie verweichlicht und zu weibischen Knaben werden.
Sich rechtzeitig auf die richtige Seite zu schlagen hat in diesem Dorf Tradition. Schon 1932 war die Hälfte der Verbindungsbrüder der NSDAP beigetreten, obwohl die Partei noch verboten war. Am 12. März 1938 konnte Kärnten als erstes Bundesland Österreichs die vollständige Machtübernahme der NSDAP verkünden. In ihrer Heimat, so berichtet die Stubenhofoma der Erzählerin noch in den Neunzigerjahren stolz, stimmten damals 99,83 Prozent für den Anschluss; in 105 Gemeinden gab es kein einziges Nein.
Julia Jost weiß, wovon sie spricht. Sie wurde 1982 in Kärnten geboren, arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie am Thalia Theater in Hamburg. Das Denken in suggestiven Bildern und komischen Dramaturgien merkt man ihrem Erstling an. Szene um Szene entwirft sie das Leben einer Familie, deren Träume nicht mit der Realität übereinstimmen. Die Mutter ist unglücklich, als sie begreift, dass ihr zwischen den Geschlechtern schwankendes Kind niemals in den Traum des Hochzeitskleides hineinpassen wird, das sie ihr vererben will. Die Mutter der Stubenhofoma war unglücklich, weil diese ein uneheliches Kind bekam. Und die Großmutter selbst wiederum ist unglücklich, weil ihre Tochter studierte, Studienrätin wurde und nicht den traditionellen Gratschbacher Hof der Familie bewirtschaften wollte.
Das Ende ist ebenso überraschend wie explosiv: Die durch den Verkauf des Gratschbacher Hofs und die agile Geschäftstüchtigkeit des Vaters der Icherzählerin wohlhabend gewordene Familie zieht weg aus der provinziellen Enge in ein bürgerliches Umfeld. Der soziale Aufstieg lässt als Opfer das Mädchen zurück, das seine in den alten Verhältnissen zurückgebliebene Freundin Luca verliert.
Julia Jost ist es mit ihrem Erstling gelungen, in einer turbulent-burlesken, plastischen Geschichte die Identitätssuche eines pubertierenden Kindes und die Kritik an einer verlogenen Gesellschaft zur Sprache zu bringen. Es ist die Geschichte einer schwierigen Selbstfindung, die ohne einen Beiklang von Moral auskommt. PIA REINACHER
Julia Jost: "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
231 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julia Josts Romandebüt schaut mit unbarmherzigem Blick auf die Abgründe des Dorflebens
Noch in den traurigsten Passagen lacht man innerlich beim Lesen. Der Erstlingsroman "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" der Österreicherin Julia Jost ist derart temperamentvoll und pfiffig geschrieben, dass man gar nicht anders kann. Die Vorzüge dieses Erzählens stechen sofort ins Auge: eine ebenso burschikose wie unbarmherzige Beobachtungsgabe, mit der die verborgensten Abgründe ausgeleuchtet werden. Und eine urtümliche Form von schlagfertigem Mutterwitz, der die Verhältnisse denunziert, ins Surreale überdehnt und gleichzeitig mit ihren dunklen Abgründen versöhnt.
Julia Jost erzählt die Geschichte einer Elfjährigen, die 1994 in einem Kärtner Dorf am Fuße der Karawanken unter dem Lkw ihres Vaters sitzt und aus ihrer Optik beschreibt, was sie sieht. Natürlich ist es eine Erwachsenenperspektive, die der kindlichen Icherzählerin untergeschoben wird. In einer effektvollen, manchmal etwas gar inkohärenten und wilden Mischung aus kindlicher Beobachtung, altkluger Interpretation und Erinnerungen an das Familien-, Schul- und Dorfleben leuchtet Bild um Bild einer Kindheit in der österreichischen Provinz auf. Die Geschichte birgt gehöriges Entlarvungspotential, und zwar gerade in der komischen Überzeichnung. Die Einschübe im Kärntner Dialekt, mit denen die Erzählerin die Sprechspuren ihrer Figuren untermalt, verstärken noch den maliziösen Grundton. Die Autorin hat den Menschen genau aufs Maul geschaut: Sie verraten sich selbst durch ihre derbe Sprache, die lautstark durch den Text hallt.
Das Dorf, in der das Mädchen aufwächst, ist eine gewalttätige Welt. Hier herrscht ein Leben zwischen rigider Sozialkontrolle, patriarchalischer Macht, verdeckten Schandflecken wie der Nazivergangenheit und den Drohungen des Beichtstuhls. Und das Kind passt da nicht hinein: ein androgynes, zwischen den Geschlechtern flottierendes Mädchen mit kurzen Haaren, das die Jeans provozierend locker auf den Hüften trägt und ab und zu eine Socke in die Hose steckt, sodass es auch als ein Bub durchgehen könnte. Heimlich ist es in seine Freundin Luca verliebt, die Tochter des bosnischen Hausmeisters.
Dieses verbotene Begehren versteckt das Mädchen, das zwei ältere Brüder hat, sorgfältig vor den anderen, weil es fürchtet, dafür im Katzensee ertränkt zu werden. Die traditionellen Regeln im Kärtner Schakatal sind eisern, und wer gegen die vorgegebene Ordnung verstößt, wird brutal bestraft. Es ist eine Dorfgemeinschaft der Selbstgerechten, Scheinmoralischen und Opportunistischen, in der die Starken überleben und die Schwachen mit Ausgrenzung bestraft werden.
Franzi ist so einer. Ein Opfer seiner Naivität, der die gruppendynamischen Gesetze des Provinzdorfs mit dem Tode bezahlen wird. Er trägt ein pastelllila T-Shirt und blaue Puma-Schuhe mit einem Klettverschluss-Geheimfach. Kein Einheimischer - er ist aus Tirol nach Kärnten emigriert. Warum, erfährt die Icherzählerin aus einem Gespräch der beiden Mütter: Franzi war Messdiener in einer angesehenen katholischen Volksschule in Innsbruck. Als er einmal nach der Heiligen Messe nicht zurückkehrte, suchte ihn die Mutter in der Sakristei und ertappte den Geistlichen in flagranti, als der ihr Kind missbrauchte. Sie packte den "nackten Putto", "schaffte ihn ins Auto und rauschte nach Hause in ihre Reihenhaushälfte". Gleich am anderen Tag zog sie weg, nach Kärnten.
Dort aber ist Franzi ein Außenseiter. Um sich die Freundschaft der Klassenkameraden zu sichern, lässt er sich von den Stärksten der Klasse zu gewalttätigen Initiationsritualen überreden. Die Mutprobe endet mit seinem Ertrinken in einem Brunnen. Andreas, der Klassenstärkste, Karla, Ludwig und Volker lassen ihn an einem Seil befestigt hinunter, damit er ein Messer hole, das sie hinuntergeworfen haben. Es ist großes, heuchlerisches Theater, das die Dorfbevölkerung bei Franzis Beerdigung aufführt: Die Eltern überschlagen sich vor Mitleid und Barmherzigkeit. Kein Wort, dass es ihre Kinder waren, die getötet haben.
Ein halbes Jahr nach Franzis Tod hat Andreas, als er einmal die erwartete Sport- und Schulleistung nicht erbrachte, eine Unterredung mit dem Vater - ein Anschauungsunterricht der patriarchalischen Härte. Das bestärkt ihn darin, fortan zu den Siegern gehören zu wollen und andere Menschen zu verängstigen, statt selbst verängstigt zu werden. Sein Vater war als Feuerwehrmann an der Bergung des toten Kindes beteiligt und beschreibt dem Sohn akribisch, wie die Leiche des ertrunkenen Buben aussah. Er will ihm damit demonstrieren, was mit Jungen passiert, wenn sie verweichlicht und zu weibischen Knaben werden.
Sich rechtzeitig auf die richtige Seite zu schlagen hat in diesem Dorf Tradition. Schon 1932 war die Hälfte der Verbindungsbrüder der NSDAP beigetreten, obwohl die Partei noch verboten war. Am 12. März 1938 konnte Kärnten als erstes Bundesland Österreichs die vollständige Machtübernahme der NSDAP verkünden. In ihrer Heimat, so berichtet die Stubenhofoma der Erzählerin noch in den Neunzigerjahren stolz, stimmten damals 99,83 Prozent für den Anschluss; in 105 Gemeinden gab es kein einziges Nein.
Julia Jost weiß, wovon sie spricht. Sie wurde 1982 in Kärnten geboren, arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie am Thalia Theater in Hamburg. Das Denken in suggestiven Bildern und komischen Dramaturgien merkt man ihrem Erstling an. Szene um Szene entwirft sie das Leben einer Familie, deren Träume nicht mit der Realität übereinstimmen. Die Mutter ist unglücklich, als sie begreift, dass ihr zwischen den Geschlechtern schwankendes Kind niemals in den Traum des Hochzeitskleides hineinpassen wird, das sie ihr vererben will. Die Mutter der Stubenhofoma war unglücklich, weil diese ein uneheliches Kind bekam. Und die Großmutter selbst wiederum ist unglücklich, weil ihre Tochter studierte, Studienrätin wurde und nicht den traditionellen Gratschbacher Hof der Familie bewirtschaften wollte.
Das Ende ist ebenso überraschend wie explosiv: Die durch den Verkauf des Gratschbacher Hofs und die agile Geschäftstüchtigkeit des Vaters der Icherzählerin wohlhabend gewordene Familie zieht weg aus der provinziellen Enge in ein bürgerliches Umfeld. Der soziale Aufstieg lässt als Opfer das Mädchen zurück, das seine in den alten Verhältnissen zurückgebliebene Freundin Luca verliert.
Julia Jost ist es mit ihrem Erstling gelungen, in einer turbulent-burlesken, plastischen Geschichte die Identitätssuche eines pubertierenden Kindes und die Kritik an einer verlogenen Gesellschaft zur Sprache zu bringen. Es ist die Geschichte einer schwierigen Selbstfindung, die ohne einen Beiklang von Moral auskommt. PIA REINACHER
Julia Jost: "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
231 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.02.2024Alle meine Verbrecher
Seit die Wirtsfamilie zu Geld gekommen ist, liegen Idylle und Monstrosität noch enger beieinander im Kärnten von Julia Josts atemberaubendem Debüt.
Dort, wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, im südlichsten Kärnten an der Grenze zu Slowenien, liegt der Gratschbacher Hof, und damit man ihn auch findet, gibt es ganz am Anfang eine Wegbeschreibung, die einen in das schmale Buch quasi hinein inhaliert wie in einen dieser Miniaturstaubsauger mit Turboantrieb.
Man folgt also der „rabiat plätschernden Drau“ stromabwärts, vorbei am Wörthersee „mit der verwitterten und morschen Seebühne aus Dunst“, aus dem „maßlosen Schatten“ des Nadelwaldes dort hinaus, „wo eine entwurzelte Urfichte den Waldrand kreuzt wie ein bemoostes Tier im Winterschlaf“. „Du läufst weiter, rechts von dir rotglühender Sand am Tennisplatz, die Luft darüber flirrend umsäumt vom dumpfen Klang des Abschlags und von den Geräuschen bremsender Stan-Smith-Schuhe.“ Die Substantive knattern, die Verben spreizen sich, die Adjektive versprühen ihr Parfüm wie tollwütig in alle Richtungen, und als man zweieinhalb Seiten später tatsächlich angekommen ist in Gratschbach, hat man Drehschwindel im Kopf, aber gar nicht mal unangenehm.
Sommer 1994. Vor dem Gratschbacher Hof steht ein Umzugslaster, unter dem Laster liegt die elfjährige Ich-Erzählerin. Ihren Namen wird man nie erfahren, aber weil sie mit ihrer bosnischen Freundin Luca, in die sie verliebt ist, mal die Initialen L+J in eine Rotbuche geritzt hat, wollen wir sie J. nennen. J. also hält gerade ein fünf Jahre altes Volksschulklassenfoto in den Händen, das einen maßlosen Schatten auf die nun folgende Erzählung werfen wird, denn auf dem Foto ist ihr Mitschüler Franzi am Tag seines Todes zu sehen. Tragisch verunglückt beim Herausfischen eines Messers aus den tiefsten Tiefen des Gratschbachhof-Brunnens. Das Messer haben die Kinder von einem Nazi-Opa ausgeborgt, es trägt die Gravur „Meine Ehre heißt Treue“ der Waffen-SS. Und da sieht man schon, dass in dieser lakonisch-heiter dahingeplauderten Geschichte nicht nur die Brunnen Abgründe sind.
Aber zurück unter den Umzugslaster, zu J. „Jo Servus, wos mochst du denn unter dem Lkw, du weast jo gonz dreckig, Mädale!“ Sehr richtig, was macht sie da? Es ist so, dass ihre Eltern zu Reichtum gekommen sind, indem der Vater auf nicht ganz sauberen Wegen 50 Lkws nach Belgrad vertickt hat, weshalb der Gasthof nun an einen Berliner verkauft ist und die Bürgerlichkeit in Gestalt einer sepiafarbenen Stadtwohnung schon wartet. Der Tag des Umzugs: Auf den Lastern lagern die Möbel-Trophäen der Mutter, die sich als Lehrerin, Kindeserzieherin und Gasthofköchin bis auf die Knochen wundgearbeitet hat, um sich mit Eintreffen des Geldes wohlig aufseufzend der Shopping-Sucht zu ergeben. Irgendwo zählt die heiß begehrte Luca weithin hörbar von 100 abwärts, J. liegt in ihrem Versteck und betrachtet die Füße der Dorfbelegschaft, die nach und nach eintrifft, um der Familie ihre letzte Aufwartung zu machen.
Da sind die lackroten Sandalen der Buschenschank-Wirtin Marlene, die den Männern Schnaps und bei Bedarf auch sich selbst kredenzt. Da sind die elefantengrauen Gesundheitsschuhe der Kirchendienerin Wutzegaunig, die ihren Sohn wegen seines ausbleibenden Mädcheninteresses so lange gepiesackt hat, bis er sich eines Tages in der Kapelle erhängt hat. Es verspritzt ihr Gift die Stubenhofoma mütterlicherseits, die der Stubenhofopa damals „noch obendrauf“ gelegt bekam, als er beim Nachbarsbauern um eine Fuhre Ziegelsteine anfragte. Der Focknhocker kommt, der als „Berufsverbrecher“ 1943 im KZ gelandet war und seither als Kommunist verschrien ist, und der Gemeindebürgermeister Gernot Pfandl, der den Lkw-Deal eingefädelt hat und heimlich auf junge Burschen steht, kommt sowieso, weil er PR-Fotos von sich selbst beim Mitanpacken braucht. Es kommen die alten und die neuen Nazis, die Schläger und die Dauerrauschigen, die Jagdschützen und die Schürzenjäger, es ist ein Bauerntheater wahrhaft vom Feinsten.
Die Autorin Julia Jost (J.!), 1982 geboren und in einem Dorf in Kärnten aufgewachsen, hat als Regisseurin am Hamburger Thalia-Theater gearbeitet und war 2019 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert. Ihr Roman wird als eines der spannendsten Debüts des Jahres gehandelt, und gar nicht mal in erster Linie wegen seines kuriosen Personals, frisch aus der ländlichen Monstrositätenschmiede. Was dieses Buch bemerkenswert macht, ist sein Sound. Das Kärntnerische in den Dialogen, das elfjährige Kind als Erzählstimme.
Dieses Kind ist in seiner eigenen Coming-of-Age-Geschichte mehr stille Zeugin als Handelnde – Mädchenkleider mag sie nicht, Luca küssen und mit dem großen Bruder auf den Dobratsch steigen dafür schon, sehr viel mehr erfährt man nicht über J. Die Existenzen um sie herum hingegen: hochinteressant! Alle Gratschbach-Leben auf einmal will sie erzählen, weshalb die Geschichte in atemlosem Tempo von einer Biografie zur nächsten springt, sich in vielerlei Vergangenheiten verirrt, triumphierend in Sackgassen einfährt und auf dem Absatz wieder kehrtmacht, um irgendwann unter schwerem Schnaufen an einen Ausgangspunkt zurückzukehren, den man als Leser in der Zwischenzeit vergessen hat. Am Ende steht alles nebeneinander, mehr zusammengeflickt als wirklich miteinander verbunden: das Schöne und das Schreckliche, der Gratschbach-Rasen und der Gratschbach-Mist, die 4 Non Blondes auf dem Sony-Walkman und Franzis Brunnentod, frei von jeglicher Beurteilung. Was in einer Zeit permanenter moralischer Checkpoint-Charlies dann ebenfalls beides ist: erleichternd und (sanft) erschreckend. Bis hierhin alles nicht unanstrengend, aber irgendwie doch ziemlich genial. Doch dann kommt um die Mitte des Buches herum – J. liegt immer noch unter dem Laster, die von 100 abwärts zählende Luca ist inzwischen in den Vierzigern angekommen – der Moment, in dem man begreift: Das wird jetzt alles immer weiter so vor sich hin mäandern. Noch mehr Gratschbacher werden kommen, noch mehr anrührende und perverse Lebensgeschichten aus der ländlichen Provinz erzählt werden, und wenn Luca bei null angekommen ist, wird J. mit ihrem moralisch krummen Vater und der shoppingsüchtigen Mutter in den Laster steigen, die anrührend perversen Gratschbacher werden die Hacken zusammenknallen und winken, und das wird es dann gewesen sein, The End.
Wenn irgendwer mal fragt, hast du diesen Karawanken-Roman gelesen, wird man sagen, das Buch habe sich letzten Endes nicht dazu aufraffen können, sich zu einem Kern-des-Ganzen zu verdichten. Man wird es mit Bedauern sagen, wie es nur bei guten Büchern der Fall ist.
TANJA REST
Julia Jost:
Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht.
Roman. Suhrkamp,
Berlin 2024.
231 Seiten, 24 Euro.
Die Dramaturgin und Regisseurin Julia Jost.
Foto: Rafaela Pröll / Suhrkamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seit die Wirtsfamilie zu Geld gekommen ist, liegen Idylle und Monstrosität noch enger beieinander im Kärnten von Julia Josts atemberaubendem Debüt.
Dort, wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, im südlichsten Kärnten an der Grenze zu Slowenien, liegt der Gratschbacher Hof, und damit man ihn auch findet, gibt es ganz am Anfang eine Wegbeschreibung, die einen in das schmale Buch quasi hinein inhaliert wie in einen dieser Miniaturstaubsauger mit Turboantrieb.
Man folgt also der „rabiat plätschernden Drau“ stromabwärts, vorbei am Wörthersee „mit der verwitterten und morschen Seebühne aus Dunst“, aus dem „maßlosen Schatten“ des Nadelwaldes dort hinaus, „wo eine entwurzelte Urfichte den Waldrand kreuzt wie ein bemoostes Tier im Winterschlaf“. „Du läufst weiter, rechts von dir rotglühender Sand am Tennisplatz, die Luft darüber flirrend umsäumt vom dumpfen Klang des Abschlags und von den Geräuschen bremsender Stan-Smith-Schuhe.“ Die Substantive knattern, die Verben spreizen sich, die Adjektive versprühen ihr Parfüm wie tollwütig in alle Richtungen, und als man zweieinhalb Seiten später tatsächlich angekommen ist in Gratschbach, hat man Drehschwindel im Kopf, aber gar nicht mal unangenehm.
Sommer 1994. Vor dem Gratschbacher Hof steht ein Umzugslaster, unter dem Laster liegt die elfjährige Ich-Erzählerin. Ihren Namen wird man nie erfahren, aber weil sie mit ihrer bosnischen Freundin Luca, in die sie verliebt ist, mal die Initialen L+J in eine Rotbuche geritzt hat, wollen wir sie J. nennen. J. also hält gerade ein fünf Jahre altes Volksschulklassenfoto in den Händen, das einen maßlosen Schatten auf die nun folgende Erzählung werfen wird, denn auf dem Foto ist ihr Mitschüler Franzi am Tag seines Todes zu sehen. Tragisch verunglückt beim Herausfischen eines Messers aus den tiefsten Tiefen des Gratschbachhof-Brunnens. Das Messer haben die Kinder von einem Nazi-Opa ausgeborgt, es trägt die Gravur „Meine Ehre heißt Treue“ der Waffen-SS. Und da sieht man schon, dass in dieser lakonisch-heiter dahingeplauderten Geschichte nicht nur die Brunnen Abgründe sind.
Aber zurück unter den Umzugslaster, zu J. „Jo Servus, wos mochst du denn unter dem Lkw, du weast jo gonz dreckig, Mädale!“ Sehr richtig, was macht sie da? Es ist so, dass ihre Eltern zu Reichtum gekommen sind, indem der Vater auf nicht ganz sauberen Wegen 50 Lkws nach Belgrad vertickt hat, weshalb der Gasthof nun an einen Berliner verkauft ist und die Bürgerlichkeit in Gestalt einer sepiafarbenen Stadtwohnung schon wartet. Der Tag des Umzugs: Auf den Lastern lagern die Möbel-Trophäen der Mutter, die sich als Lehrerin, Kindeserzieherin und Gasthofköchin bis auf die Knochen wundgearbeitet hat, um sich mit Eintreffen des Geldes wohlig aufseufzend der Shopping-Sucht zu ergeben. Irgendwo zählt die heiß begehrte Luca weithin hörbar von 100 abwärts, J. liegt in ihrem Versteck und betrachtet die Füße der Dorfbelegschaft, die nach und nach eintrifft, um der Familie ihre letzte Aufwartung zu machen.
Da sind die lackroten Sandalen der Buschenschank-Wirtin Marlene, die den Männern Schnaps und bei Bedarf auch sich selbst kredenzt. Da sind die elefantengrauen Gesundheitsschuhe der Kirchendienerin Wutzegaunig, die ihren Sohn wegen seines ausbleibenden Mädcheninteresses so lange gepiesackt hat, bis er sich eines Tages in der Kapelle erhängt hat. Es verspritzt ihr Gift die Stubenhofoma mütterlicherseits, die der Stubenhofopa damals „noch obendrauf“ gelegt bekam, als er beim Nachbarsbauern um eine Fuhre Ziegelsteine anfragte. Der Focknhocker kommt, der als „Berufsverbrecher“ 1943 im KZ gelandet war und seither als Kommunist verschrien ist, und der Gemeindebürgermeister Gernot Pfandl, der den Lkw-Deal eingefädelt hat und heimlich auf junge Burschen steht, kommt sowieso, weil er PR-Fotos von sich selbst beim Mitanpacken braucht. Es kommen die alten und die neuen Nazis, die Schläger und die Dauerrauschigen, die Jagdschützen und die Schürzenjäger, es ist ein Bauerntheater wahrhaft vom Feinsten.
Die Autorin Julia Jost (J.!), 1982 geboren und in einem Dorf in Kärnten aufgewachsen, hat als Regisseurin am Hamburger Thalia-Theater gearbeitet und war 2019 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert. Ihr Roman wird als eines der spannendsten Debüts des Jahres gehandelt, und gar nicht mal in erster Linie wegen seines kuriosen Personals, frisch aus der ländlichen Monstrositätenschmiede. Was dieses Buch bemerkenswert macht, ist sein Sound. Das Kärntnerische in den Dialogen, das elfjährige Kind als Erzählstimme.
Dieses Kind ist in seiner eigenen Coming-of-Age-Geschichte mehr stille Zeugin als Handelnde – Mädchenkleider mag sie nicht, Luca küssen und mit dem großen Bruder auf den Dobratsch steigen dafür schon, sehr viel mehr erfährt man nicht über J. Die Existenzen um sie herum hingegen: hochinteressant! Alle Gratschbach-Leben auf einmal will sie erzählen, weshalb die Geschichte in atemlosem Tempo von einer Biografie zur nächsten springt, sich in vielerlei Vergangenheiten verirrt, triumphierend in Sackgassen einfährt und auf dem Absatz wieder kehrtmacht, um irgendwann unter schwerem Schnaufen an einen Ausgangspunkt zurückzukehren, den man als Leser in der Zwischenzeit vergessen hat. Am Ende steht alles nebeneinander, mehr zusammengeflickt als wirklich miteinander verbunden: das Schöne und das Schreckliche, der Gratschbach-Rasen und der Gratschbach-Mist, die 4 Non Blondes auf dem Sony-Walkman und Franzis Brunnentod, frei von jeglicher Beurteilung. Was in einer Zeit permanenter moralischer Checkpoint-Charlies dann ebenfalls beides ist: erleichternd und (sanft) erschreckend. Bis hierhin alles nicht unanstrengend, aber irgendwie doch ziemlich genial. Doch dann kommt um die Mitte des Buches herum – J. liegt immer noch unter dem Laster, die von 100 abwärts zählende Luca ist inzwischen in den Vierzigern angekommen – der Moment, in dem man begreift: Das wird jetzt alles immer weiter so vor sich hin mäandern. Noch mehr Gratschbacher werden kommen, noch mehr anrührende und perverse Lebensgeschichten aus der ländlichen Provinz erzählt werden, und wenn Luca bei null angekommen ist, wird J. mit ihrem moralisch krummen Vater und der shoppingsüchtigen Mutter in den Laster steigen, die anrührend perversen Gratschbacher werden die Hacken zusammenknallen und winken, und das wird es dann gewesen sein, The End.
Wenn irgendwer mal fragt, hast du diesen Karawanken-Roman gelesen, wird man sagen, das Buch habe sich letzten Endes nicht dazu aufraffen können, sich zu einem Kern-des-Ganzen zu verdichten. Man wird es mit Bedauern sagen, wie es nur bei guten Büchern der Fall ist.
TANJA REST
Julia Jost:
Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht.
Roman. Suhrkamp,
Berlin 2024.
231 Seiten, 24 Euro.
Die Dramaturgin und Regisseurin Julia Jost.
Foto: Rafaela Pröll / Suhrkamp
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