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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In ihrem Roman "Wo der Wolf lauert" blickt Ayelet Gundar-Goshen in die Abgründe der amerikanischen Schmelztiegel-Kultur.
Silicon Valley: Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Sechzehnjährige werden mit dem Auto zur Schule gebracht, die Hälfte von ihnen auch wieder abgeholt. Sicherheit geht über alles, dicht gefolgt von geistiger Gesundheit. Die Schule hat einen eigenen Wachschutz und bietet psychologische Beratung an. So entsteht eine feste Burg der behüteten Kindheit.
Lilach Schuster ist eine Mutter, die ihren Sohn Adam abholt. Sie ist mit ihrem Mann Michael aus Israel eingewandert. Adam, in den Vereinigten Staaten geboren, ist für diese "Kampfsoldatin der Elternarmee" noch immer das schutzbedürftige Baby. Ein schmächtiger Junge ist er, sensibel und still. Einer, der einen geprügelten Hund vor dem Tod rettet und keiner Fliege etwas zuleide tut. Und doch muss Lilach, die Ich-Erzählerin, sich im nur sieben Zeilen umfassenden ersten Kapitel damit auseinandersetzen, dass ihr Junge einen Klassenkameraden getötet haben soll. Jamal. Einen Schwarzen.
In der Rückschau erzählt sich Lilach an den Verdacht heran, um dann die weitere Entwicklung zu schildern. Es gibt kaum Gewissheiten in diesem Roman, im Grunde nur zwei, nämlich erst einen Anschlag auf eine Synagoge, bei der ein Mädchen in Adams Alter getötet wird, und später den Tod Jamals. Da sich in letzter Zeit antisemitische Vorfälle gehäuft haben, soll Adam an einem Selbstverteidigungskurs teilnehmen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erliegt er schon bald der Faszination Uris, eines ehemaligen israelischen Elitesoldaten. Als dann Jamal bei einer Party stirbt, dauert es nicht lange, bis an der Mauer ums Schulgelände in roten Buchstaben Adam Schuster als dessen jüdischer Mörder genannt wird und die Nation of Islam Rache ankündigt. Ermittlungen werden eingeleitet.
Ayelet Gundar-Goshen bedient sich der Elemente eines Thrillers, deshalb sei von der Handlung nicht allzu viel preisgegeben. Die 1982 in Tel Aviv geborene Autorin packt viel Stoff in ihre Geschichte - eine Fehlgeburt und eine Adoption, Probleme im Altenheim und Wirtschaftsspionage -, verliert aber nie die Übersicht, sondern erzählt ebenso packend wie feinsinnig. Mit dem offenen Ende grenzt sie sich deutlich von der Genreliteratur ab und kehrt zu zentralen Fragen zurück: Wie stark beeinflussen Stereotypen die Wahrnehmung anderer? Wie stark Wunschvorstellungen? Warum zieht Lilach es vor, zu glauben, Adam verliere ständig Skateboards, Turnschuhe und T-Shirts, statt einmal die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, all das könne ihm gestohlen worden sein? Ihr Sohn könne in seiner festungsartigen Schule gemobbt werden? Obwohl sie doch in Amerika geblieben waren, damit Adam sicher aufwächst? In der Absicht, ihn "vor dem israelischen Irrsinn zu bewahren", haben sie ihn jedoch "einem anderen Irrsinn ausgesetzt".
Es ist einer der wenigen schwächeren Momente des Buchs, dass Gundar-Goshen die Darstellung der Schulatmosphäre vernachlässigt, um sich ganz auf Adam und Jamal zu konzentrieren. Das wiederum gelingt ihr verstörend und damit gut. Beide Mütter wissen wenig über ihre Söhne, wie sich zeigt, als Jamals Mutter Annabella Lilach besucht. Der fällt dabei auf, "dass ich noch nie eine schwarze Frau in meinem Wohnzimmer empfangen hatte".
Die beiden Todesfälle lösen eine ganze Kette von Reaktionen aus, die von offener Gewalt, aber auch von sublimen Denkmustern geprägt sind. "Der verschlafene Junge, der am Morgen in den Kurs gegangen war, kam mit einem spektakulären Traum wieder heraus: Ein Terrorist würde in die Synagoge stürmen, und er wäre derjenige, der ihn stoppen könnte." In dieser Beobachtung Lilachs steckt neben der Heldenanfälligkeit auch das Potential zur Verklärung des "Herkunftslandes" zum Sehnsuchtsort. Folgerichtig reist Adam nach Israel. Als die Mutter des getöteten Mädchens erklärt: "Mein Vater ist mit Martin Luther King marschiert, und glauben Sie mir, Martin Luther King würde sich schämen, wenn er hörte, dass ein Schwarzer mit einer Machete in eine Synagoge stürmt wie ein Raubtier im Dschungel", fordern zwei Verbände sie auf, "sich für ihre rassistische Bemerkung zu entschuldigen". Ohne es je direkt anzusprechen, legt Gundar-Goshen auch in ihrem vierten Roman den Finger in offene Wunden: Wer "darf" wann den biographischen Hintergrund eines Opfers oder eines Täters benennen? Was sagt dieser Hintergrund über den Charakter eines Menschen aus?
Das Beste an diesem Roman - und dieses Verdienst ist auch dem Verlag hoch anzurechnen - ist freilich, dass die Autorin mit ihrer Leserschaft auf Augenhöhe kommuniziert. Sie hält sie für mündig, zu unterscheiden zwischen der Meinung der Autorin und den Stimmen der Figuren in einem literarischen Universum. Misjö Gottseibeiuns kann getrost draußenbleiben, hier wird der Teufel beim Namen genannt.
Das liest sich herausfordernd: "Wirklich ein Glück, dass man es nicht mehr sagen darf, denn seit man nicht mehr Nigger sagt, hat sich alles geändert, nicht wahr, Nayla?", fragt Dwayne, ein Schwarzer, seine schwarze Mitbewohnerin im Altenheim und frotzelt. "Seitdem man aufgehört hat, deine Kinder so zu nennen, hast du gar keine Angst mehr, dass ein weißer Polizist ihnen am helllichten Tag eine Kugel in den Leib schießen könnte!" Lilach gegenüber hält er aber auch fest: "Schau, Lila, kann sein, dass ein schwarzer Junge nach der Schule deinen Sohn verhaut, aber sobald sie die Schule abgeschlossen haben, wird dein Sohn so tun, als gehöre dieser Staat seinen Eltern. Die Mutter des toten Jungen ist in Amerika geboren und wird auch hier sterben, aber ich versichere dir, du gehörst viel mehr dazu als sie."
Vordergründig geht es in dem Roman um Antisemitismus und Rassismus, aber auch um eine Mutter-Sohn-Beziehung. Die Brisanz lauert jedoch wolfsgleich im Subtext, der ein mutiges und kraftvolles Plädoyer birgt für eine Wahrnehmung, die sich mit primitiven Schablonen nicht begnügt, sondern sich der Komplexität eines Problems stellt. Möge dieses Plädoyer auf offene Ohren stoßen. CHRISTIANE PÖHLMANN
Ayelet Gundar-Goshen: "Wo der Wolf lauert". Roman.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich 2021. 352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ayelet Gundar-Goshen erzählt in ihrem Roman „Wo der Wolf lauert“, warum man vom Antisemitismus sprechen und vom Rassismus nicht schweigen muss
Es gibt Bücher, die entwickeln ihren Sog von den ersten Zeilen an. Wie der vierte Roman der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen: In der ersten Szene schon stellt sich heraus, dass der jugendliche Sohn der Ich-Erzählerin, Adam, einen Mord begangen haben soll. Und von da an zittert die Leserin, der Leser mit ihr.
Aber „Wo der Wolf lauert“ ist kein Krimi, man würde dem Roman nicht gerecht, wenn man ihn ins Genreregal stellte. Es geht nicht um die Suche nach dem Mörder, sondern um das Leben einer Familie, das zerfasert und zerfällt: ein Leben fern der Heimat, das sich unerwartet anders entwickelt als erhofft. Gundar-Goshen, die auch als Psychologin arbeitet, zeichnet ihre Protagonistinnen und Protagonisten als vielschichtige Figuren.
Sie erzählt von der Beziehung zwischen Lilach Schuster und ihrem Mann Michael, Israelis, die nach Kalifornien ausgewandert sind, weil Michael eine Karriere in einem der erfolgreichen Start-ups im Silicon Valley lockt. Lilach ist Ehefrau, Hausfrau und Mutter, nebenbei ehrenamtlich in einer Seniorenresidenz aktiv. Ihr Alltag ist der für Palo Alto womöglich typische von Menschen, die versuchen anzukommen. Auch, indem sie sich anpassen.
Sie wollten ja vor allem weg: Als Eltern wünschen sich Lilach und Michael, dass Adam Tausende Kilometer vom Nahostkonflikt entfernt aufwächst. Unberührt von dem Strudel, in den man unwillkürlich hineingezogen wird, wenn man, wie die Autorin, in Tel Aviv lebt. Etwa weil Raketenbeschuss plötzlich Realität werden kann. Was aber, wenn in der Ferne eine andere Bedrohung Wirklichkeit wird? In diesem Fall ein Anschlag auf eine Synagoge, mitten in den USA, unweit ihres neuen Wohnortes. Diese Bedrohung kommt sehr nahe – auch nicht religiös lebende Juden können sich dem nicht entziehen.
Gundar-Goshen beschreibt eindrücklich, was es mit Menschen macht, mit antisemitischen Angriffen konfrontiert zu sein. Es kann um ein Messerattentat in einer Synagoge gehen, aber genauso um Schmierereien an einem Schulgebäude: Prägnant zeichnet die Autorin das Gefühl nach, permanent einer Gefahr ausgesetzt zu sein, anders zu sein, nicht ganz dazuzugehören.
Das Besondere an diesem Buch ist die Perspektive, in der die Autorin vieles sehen lässt, was in Israel selbstverständlich ist: das Primat der Familie, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das während der für Männer drei Jahre dauernden Zeit bei der Armee entsteht. Dass die Arbeit in einer militärischen Einheit ein Verantwortungs- und Pflichtgefühl zurücklässt, dem man sich auch in einem anderen Land nicht entziehen kann, macht Gundar-Goshen nachvollziehbar. Und erklärt, warum sich Michael und insbesondere Lilach auf den früheren Elitesoldaten Uri einlassen, der wie sie aus Israel ausgewandert ist.
Gundar-Goshen hat selbst eine Weile mit ihrer Familie in Kalifornien gelebt und ist von dort nach Israel zurückgekehrt. Deshalb ist anzunehmen, dass ihre eigenen Erfahrungen in dem Roman enthalten sind. Sie schildert – eine weitere Stärke dieses Buchs – mit klarem Blick die Gesellschaft der USA, ihre Brüche, ihre Zerrissenheit. Auch wenn Präsident Donald Trump nicht genannt wird, zeigt sie doch sehr klar auch die Auswirkungen seiner Politik auf ein Land, in dem Rassismus zur Alltagserfahrung vieler Menschen gehört. Der Junge, der bei dem Mord auf den ersten Seiten getötet wird, ist schwarz. Aber ist er auch ein Opfer?
Dieser Roman versucht zu vermitteln, dass eindeutige Erklärungen unmöglich sind, dass es Antisemitismus genauso gibt wie Islamfeindlichkeit. Es wird auch die Frage verhandelt, wie wehrhaft jeder Einzelne, jede Einzelne sein darf oder sogar sein muss. Gundar-Goshen treibt die Geschichte professionell voran, man merkt, dass sie nicht nur Psychologie, sondern auch Drehbuch-Schreiben studiert hat. Ihr 2015 erschienener zweiter Roman „Löwen wecken“ wird gerade als TV-Serie verfilmt. Er handelt von einem Arzt in der Negevwüste, der einen eritreischen Flüchtling überfährt und Fahrerflucht begeht. Flucht, Vertreibung und Verantwortung – wo immer die Autorin auch aktuelle Themen in ihren Romanen verhandelt, zwingt sie ihre Leserinnen und Leser, die eigene Position immer wieder aufzugeben und sich die Frage zu stellen: Wie würde ich in dieser Situation handeln?
Für ihr 2013 veröffentlichtes Debüt
„Eine Nacht, Markowitz“ wurde Ayelet Gundar-Goshen mit dem Sapir-Preis ausgezeichnet, der nicht nur der prestigeträchtigste, sondern auch der bestdotierte Literaturpreis in Israel ist. Drei ihrer vier Bücher hat Ruth Achlama übersetzt – die wichtigste Mittlerin zwischen der hebräischen und der deutschen Sprache und zwischen den Kulturen. Mehr als siebzig Bücher hat Achlama übersetzt, darunter zahlreiche von Amos Oz, David Grossman und Meir Shalev. Derzeit arbeitet sie an einem Buch des Historikers Tom Segev über seinen Vater. Es ist auch Achlamas Feinfühligkeit zu verdanken, dass der Roman „Wo der Wolf lauert“ in all seinen Zwischentönen auf Deutsch so famos zu verstehen ist.
Mit Ayelet Gundar-Goshen, die 1982 geboren ist, zeigt sich eindrucksvoll, welch literarische Talente es in der jüngeren Generation in Israel gibt, und dass es jenseits der Altmeister Oz und Grossman dort noch vieles zu entdecken gilt. Es ist auch dem Schweizer Verlag Kein & Aber zu verdanken, dass Bücher von jüngeren Autorinnen und Autoren wie Noa Yedlin, Yonatan Sagiv oder Yishai Sarid ins Deutsche übersetzt werden. Romane wie „Wo der Wolf lauert“ vermitteln eine jüdisch-israelische Perspektive, in diesem Fall mit einer Spannung, die bis zu den letzten Seiten des Buches anhält. Und dieses Ende ist ganz anders als vermutet.
ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Ruth Achlama sei Dank, ist dieser
Roman auch auf Deutsch in allen
Zwischentönen verständlich
Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert. Roman. Aus dem
Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich 2021.
352 Seiten, 25 Euro.
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