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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Elisabeth Wellershaus sucht die eigene Identität
Das Gefühl, anders zu sein, kennt Elisabeth Wellershaus seit ihrer Kindheit im Hamburger Stadtteil Volksdorf. Es ist ihr täglicher Begleiter, denn sie ist die Tochter einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters, den sie einmal jährlich in aufregenden Besuchen während der Ferienwochen sieht. Seit seiner Flucht aus Äquatorialguinea lebt er als Freigeist und Langzeitmieter spartanisch ausgestatteter Hostelzimmer an der Costa del Sol - das Kontrastprogramm zum bürgerlichen Milieu der Großeltern, durch das die Familie seit Generationen mühelos navigiert: "Mein schwereloses Mittelmeerleben und die bodenständige deutsche Vorstadt: Immer wieder krachten sie mit Karacho ineinander." Wellershaus ist geübt in beidem, aber nie gehört sie irgendwo wirklich dazu.
In "Wo die Fremde beginnt" nimmt sie die Suche nach der eigenen Identität zum Anlass für einen Versuch, die Mauern der Selbst- und Fremdzuschreibungen zu durchbrechen und ihre Mitmenschen einzeln in den Blick zu nehmen. Heute weiß sie, dass in ihrem Ferienzuhause keine radikale Unbestimmtheit herrschte, genauso wenig wie sich das bürgerliche Berlin-Pankow, ihre Wahlheimat, dem "Bedürfnis nach Abgrenzung" entziehen kann. Hier, mitten in der Hauptstadt, die Wellershaus mit Begriffen wie "Superdiversität" in Verbindung bringt, wird ein verschlossenes Tor zum Hof ihres Wohnkomplexes zum Symbol für das Trennen von Leben in ein Davor und Dahinter.
Auch Wellershaus kann sich nicht vom Unwohlsein freimachen, das sie befällt, wenn sie sich im nahe gelegenen Brennpunktviertel jenseits der S-Bahn-Schienen bewegt. "Dass ich ein Fremdeln reproduzierte, in dessen Fokus ich andernorts selbst stand" wird zur zentralen Beobachtung, anhand derer sie sich den eigenen Ausgrenzungserfahrungen nähert. Sie schildert den Versuch, die Familie des Vaters in Malabo, der Hauptstadt Äquatorialguineas, zu besuchen, der schon am Flughafen scheitert. Sie erzählt von den Seemannsgeschichten des weißen Großvaters, die mit der Geschichte ihrer schwarzen Verwandtschaft über Jahrhunderte kolonialer Ausbeutung verbunden sind. Und sie erzählt von Integrationsfachtagungen im ländlichen Raum, den Wellershaus und ihre Kollegin als Städter voller Zuschreibungen und Vorverurteilungen betreten, nur um auf ein überraschend diverses Umfeld zu treffen.
"Wo die Fremde beginnt" ist nicht bloß eine Abhandlung über Identität zwischen Weiß-Sein und Schwarz-Sein. Ihre Kindheit voller Widersprüche und Sehnsüchte nimmt Wellershaus zum Anlass, den Wunsch nach Zugehörigkeit als solchen zu verhandeln. "Sind wir nicht alle multikollektive Wesen mit einer Vielzahl persönlicher Zugehörigkeiten? Sind wir einander und uns selbst nicht alle fremd?" Mit solchen Fragen rückt sie das Gefühl der Distanz zwischen Individuen mitten in die weißen, bürgerlichen Kreise, in denen sie sich seit Kindertagen bewegt.
Die körperlichen Fassaden, die Lesbarkeit suggerieren, werden für uneindeutig erklärt, denn "biografische Besonderheiten, familiäre Verbindungen, historische Verstrickungen" sind von ihnen nicht abzulesen. Andererseits verlieren öffentliche Räume im globalen Vergleich ihre Einzigartigkeit und werden so zum Symbol einer Gleichschaltung von Erfahrungswelten: Die "architektonische Uniformität kurz vor der London Bridge" erinnert Wellershaus an Volksdorf, und in der Warschauer Brücke zwischen Berlin-Friedrichshain und Neukölln erkennt "Kollegin D." die "Brücke des Präsidenten" in Damaskus wieder.
So intim die Aufarbeitung der eigenen Geschichte anmutet, so umfassend sind die Schlüsse, die Wellershaus daraus zieht. "Wo die Fremde beginnt" kreist um gegenseitiges Verständnis und globales Miteinander genauso wie die Notwendigkeit, eigene Betroffenheit zu kommunizieren - gerade weil sie in Identitätsdebatten instrumentalisiert wird -, "um den vermeintlich emotionalen oder gar irrationalen Ansatz verschiedenster Minderheiten zu untermauern". Schon längst, erklärt Wellershaus, könnte die Sehnsucht nach ökonomischer und sozialer Gleichheit überwunden und die Gesellschaft eine wirklich vielfältige sein, in der das Miteinander von Pluralität profitiert. So, wie es in Zeiten von superdiverser Gemeinschaften längst diskutiert wird. Aber: "Die Arbeit am Wir müsste mit dem aufrichtigen Interesse am Du beginnen", bringt sie ihre Suche nach Identität als kollektive Erfahrung auf den Punkt. ELISA SCHÜLER
Elisabeth Wellershaus: "Wo die Fremde beginnt". Über Identität in der fragilen Gegenwart.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 158 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Jurybegründung
Platz 3 der Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk im Januar 2023: "Die Journalistin analysiert das Fremdsein in all seinen Facetten - und zeigt, wie es das Leben zu bereichern vermag."
"'Wo die Fremde beginnt' ist nicht bloß eine Abhandlung über Identität zwischen Weiß-Sein und Schwarz-Sein ... So intim die Aufarbeitung der eigenen Geschichte anmutet, so umfassend sind die Schlüsse, die Wellershaus daraus zieht."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Elisa Schüler
"Wellershaus berichtet in einem neuen Sachbuch über ihre sehr persönliche Suche nach Identität. Und sie tut das ohne den Anspruch, fündig zu werden. Das macht »Wo die Fremde beginnt« so besonders, ein tastendes Buch, postidentitär."
SPIEGEL, Tobias Becker
Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk im Februar 2023: "Die Journalistin analysiert das Fremdsein - und zeigt, wie es das Leben bereichert."
"Elisabeth Wellershaus lotet in einem hochreflektierten Selbstversuch aus, 'Wo die Fremde beginnt' ... Entstanden ist ein fein gewobener Text, der zwar auf autobiografischem Fundament aufsetzt, diesen subjektiven Ansatz jedoch in einen komplexen wissenschaftlichen und literarischen Kontext einbettet."
Frankfurter Rundschau, Andrea Pollmeier
"Ein wertvoller, lesenswerter Beitrag ebenso zu Fragen um afropa?isches Leben wie um die Suche nach Identita?t und den Appell, den eigenen Nachbar*innen die Hand zu reichen."
Missy Magazin, Isabella Caldart
"Ein Zeitporträt ... Wellershaus' Text ist eine theoretisch unterfütterte Meditation über Nähe und Distanz. ... Ein nachdenkliches, selbstreflektiertes Buch über alltägliche Diskriminierung und Exklusion - und ihr Gegenteil."
Hamburger Abendblatt, Thomas Andre
"Ihr Buch ist Lebensgeschichte und soziologische Feldstudie anhand der eigenen Biographie, die Verbindung zwischen beidem gelingt ihr vortrefflich. ... Das Buch ist voller scharfen Beobachtungen."
a tempo, Konstantin Sakkas
"Eine schöne Bewegung, die fast etwas Rhythmisches hat, zeichnet das Buch aus. Es erarbeitet sein Thema in konzentrischen Kreisen, in denen sich Bilder des Zuhauseseins und der Verbundenheit mit Bildern der Fremdheit abwechseln." Der Tagesspiegel, Meike Fessmann
"Elisabeth Wellershaus analysiert, wie komplex und bereichernd FREMDHEIT ist."
tip Berlin, Eva Apraku
"Ein Buch, das eine nachhaltige Nachdenklichkeit hinterlässt."
General Anzeiger, Ludger Kersting
"Poetisch beschreibt sie, was sie sieht, wem sie begegnet."
taz, Sophia Zessnik
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