Ein Haus, die Bewohner und ihre Geschichten - "Ioana Pârvulescus Roman macht Fernweh nach Heimat und Heimweh nach der Ferne." Jan Koneffke Das Tor ist der Mund, die Fenster sind die Augen - in der Vorstellung der kleinen Ana bekommt das Haus in der einstmaligen Johannisgasse im siebenbürgischen Kronstadt ein Gesicht, hat Gedanken und Gefühle. Zwei Erdbeben, zwei Weltkriege und einen Bombenangriff hat es heldenhaft überlebt und das Verschwinden seiner "Geschwister" vis-à-vis auf Kosten eines Plattenbauhotels. Von den Bewohnern dieses Hauses über mehrere Generationen und mit mehreren Nationalitäten erzählt die gebürtige Kronstädterin Ioana P¿rvulescu in ihrem ersten auf Deutsch veröffentlichtem Roman, dem es spielerisch gelingt, eine freudlose Zeit in einem permanenten Glanz erscheinen zu lassen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sabine Berking schätzt den Blick auf das multikulturelle Kronstadt in den 1960ern, wie ihn Ioana Parvulescu in ihrem Roman eröffnet. Die Kinderperspektive der 5-jährigen Ezählerin auf politische Geschehnisse, Familienereignisse und Sommerferien bringt es laut Berking allerdings auch mit sich, dass alles spannend und undurchsichtig und Rumänien als eine Art kommunistisches Bullerbü erscheint. Etwas weniger aus der Zeit gefallene Verklärung wie in Parvulescus Roman "Das Leben beginnt am Freitag" hätte dem Buch gut getan, glaubt Berking.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2021Bullerbü im wilden Osten
Das seelische Gleichgewicht bleibt unerschütterlich: Ioana Pârvulescu erinnert an eine rumänische Kindheit in Siebenbürgen
"Glitschen" nannten die Kinder jene Eisbahnen, die sie winters vor den Schulen anlegten. So wie diese Wortschöpfung aus dem Dialekt der Siebenbürger Sachsen rutschten die Wörter im rumänischen Brasov "von einer Sprache in die andere, mit hoher Geschwindigkeit und Grazie, als trügen sie Schlittschuhe". Wie die Dinge, so wechselte auch der Ort in seiner Geschichte immer wieder den Namen oder trug mehrere gleichzeitig. Auf Ungarisch Brassó, auf Rumänisch Brasov, auf Deutsch Kronstadt. Zehn Jahre lang mussten Stadt und Bewohner gar den Namen des Diktators Stalin ertragen. Neben Deutschen, Ungarn und Rumänen siedelten in der ehedem vom Deutschen Ritterorden gegründeten kosmopolitischen Handelsmetropole im Südosten Transsylvaniens Bulgaren, Armenier, Juden, Roma, Griechen oder russische Lipowaner.
In Ioana Pârvulescus nun auf Deutsch erschienenem Roman "Wo die Hunde in drei Sprachen bellen" werden ein altersgezeichnetes Haus und die Stadt Brasov zu den eigentlichen Helden der Geschichten. Das rumänische Original trägt den Titel "Innocentii", die Unschuldigen. Das trifft vor allem auf die Erzählerin zu. Ana ist zu Beginn der Handlung, Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, kaum fünf Jahre alt und zu ihrem Verdruss noch nicht einmal schulpflichtig. Mit Eltern, Onkel und Tante, Cousins und Großeltern lebt sie in einem zweistöckigen Gebäude im Zentrum von Brasov, in der Wladimir-Majakowski-Strada, die früher die Straße des heiligen Johannes war und inzwischen wieder so heißt. Ana berichtet vom Geschehen um sie herum und davon, was sie aus den Erzählungen der Großelterngeneration aus dem "Altreich" aufschnappt, womit wohl die Zeit der Habsburger Monarchie gemeint ist, zu der Kronstadt bis zum Vertrag von Trianon gehörte.
Die Sechziger waren im kommunistischen Rumänien ein kurzes, vorsichtiges politisches Tauwetter, bevor der Größenwahn Nicolae Ceausescus das Land in den Abgrund riss. Die Traumata der Vergangenheit und die Unbilden des Kommunismus tauchen in den vielen Episoden eher am Rande auf, etwa als Ana von einem Nachbarn erzählt, der wie gut siebzigtausend Rumäniendeutsche nach dem Krieg in ein sowjetisches Zwangsarbeitslager deportiert worden war. Seine abenteuerliche Flucht aus der Gefangenschaft erscheint ihr in ihrer kindlichen Fantasie ähnlich spannend wie die des Grafen von Monte Christo aus seinem Inselkerker. An diese Geschichten muss Ana denken, als sie die Eltern auf dem Dachboden über Fluchtpläne tuscheln hört. Auch dass sie ein Jahr von der Schule zurückgestellt wird, nicht von den Behörden, sondern von den Eltern selbst, hat politische Gründe. Die einst für alle offenen und als gut geltenden deutschen Schulen sind plötzlich nur noch mit Herkunftsnachweis zu besuchen, doch in Anas buntem Stammbaum lässt sich beim besten Willen kein Siebenbürger Sachse finden. Die Eltern hoffen auf eine Revision dieser die Volksgruppen voneinander isolierenden staatlichen Regel binnen Jahresfrist: Vergebens, ein Jahr später muss Ana auf eine rumänische Schule.
Dass die Familie der neuen Staatsideologie distanziert begegnet, weiß sie durch die Tante mit "den Lippen wie Jane Fonda", eine engagierte Lehrerin und Schuldirektorin. Weil diese das Pionierhalstuch eines Schülers als "roten Fummel" bezeichnet hatte, wurde sie beinahe suspendiert. Diese politischen Konflikte sind für Ana weitaus weniger interessant als das Schicksal eines Straßenhundes oder die wundersamen Dinge, die sich im Geschäft des Antiquars befinden, der, wie die Legende besagt, den Kugelschreiber erfunden haben soll. Tante und Großeltern versuchen den Kindern ihre Begeisterung für die Plansprache Esperanto zu vermitteln, die in der kosmopolitischen Jugend der Alten en vogue gewesen war. Doch vielen Erwartungen zum Trotz vermochte die nach dem Pseudonym ihres jüdischen Erfinders "Doktor Hoffnung" benannte Weltsprache die zerstrittene Menschheit nicht zu einen.
Mit ihren Freunden erkundet Ana Kronstadt, planscht im Pool der Dachterrasse des einst noblen Hotel "Aro" und wird Zeugin, wie die Häuser auf der anderen Straßenseite einem neuen "Aro" Platz machen müssen. Die Sommerferien genießt sie mit der Familie im Butschetsch-Gebirge oder im eiskalten Becken des Waldbades. Bei einer der häufigen Wanderungen begegnet die Familie einem Belgier, im abgeschotteten Rumänien wirkt er auf die Kinder wie ein Außerirdischer. Nichts, so scheint es, kann das Mädchen aus dem seelischen Gleichgewicht bringen, nicht einmal der plötzliche Tod des Vaters. Das Haus gleicht einer Festung gegen die Unbill des Lebens, eine Art Bullerbü-Idylle im kommunistischen Rumänien.
Ioana Pârvulescu wurde 1960 in Brasov geboren und lehrt seit vielen Jahren an der Universität von Bukarest Literatur. Sie übersetzt aus dem Französischen und Deutschen, unter anderem Milan Kundera, Saint-Exupéry und Rilke. Der nun im Wiener Zsolnay Verlag auf Deutsch erschienene Roman ist ihr dritter von insgesamt bisher vier. Schade, dass der Verlag diesen und nicht den mit dem Preis der Europäischen Union für Literatur ausgezeichneten Roman "Viata începe vineri" (Das Leben beginnt am Freitag, 2009) fürs Entrée in deutscher Sprache gewählt hat. Die Autorin, am Ende der Sicht Anas entwachsen, gesteht selbst, die Vergangenheit "mit sympathischer Tinte" geschrieben zu haben. Die Verklärung der Kindheit und die unschuldig-ungetrübte Sicht auf die noch fernere Vergangenheit wirken wie aus der Zeit gefallen. Auch die kindliche Erzählweise, die den Leser mit "Du" anspricht, mutet in diesem nicht für Kinder erdachten Buch bisweilen etwas bemüht an.
Dennoch ist die Lektüre ein Gewinn, öffnet sie doch den Blick in eine hierzulande vielen unbekannte Landschaft und Kulturgeschichte Europas. Man ahnt den Preis, den die einst multikulturelle Stadt durch den Verlust ganzer Bevölkerungsgruppen, allen voran Juden und Siebenbürger Sachsen, zahlen musste. Geblieben ist ein kaum zerstörter Stadtkern und der magische "labyrinthische Wald, in dem man sich verirrt, wenn man die Stimme nur nach außen richtet". SABINE BERKING
Ioana Pârvulescu: "Wo die Hunde in drei Sprachen bellen". Roman.
Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 360 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das seelische Gleichgewicht bleibt unerschütterlich: Ioana Pârvulescu erinnert an eine rumänische Kindheit in Siebenbürgen
"Glitschen" nannten die Kinder jene Eisbahnen, die sie winters vor den Schulen anlegten. So wie diese Wortschöpfung aus dem Dialekt der Siebenbürger Sachsen rutschten die Wörter im rumänischen Brasov "von einer Sprache in die andere, mit hoher Geschwindigkeit und Grazie, als trügen sie Schlittschuhe". Wie die Dinge, so wechselte auch der Ort in seiner Geschichte immer wieder den Namen oder trug mehrere gleichzeitig. Auf Ungarisch Brassó, auf Rumänisch Brasov, auf Deutsch Kronstadt. Zehn Jahre lang mussten Stadt und Bewohner gar den Namen des Diktators Stalin ertragen. Neben Deutschen, Ungarn und Rumänen siedelten in der ehedem vom Deutschen Ritterorden gegründeten kosmopolitischen Handelsmetropole im Südosten Transsylvaniens Bulgaren, Armenier, Juden, Roma, Griechen oder russische Lipowaner.
In Ioana Pârvulescus nun auf Deutsch erschienenem Roman "Wo die Hunde in drei Sprachen bellen" werden ein altersgezeichnetes Haus und die Stadt Brasov zu den eigentlichen Helden der Geschichten. Das rumänische Original trägt den Titel "Innocentii", die Unschuldigen. Das trifft vor allem auf die Erzählerin zu. Ana ist zu Beginn der Handlung, Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, kaum fünf Jahre alt und zu ihrem Verdruss noch nicht einmal schulpflichtig. Mit Eltern, Onkel und Tante, Cousins und Großeltern lebt sie in einem zweistöckigen Gebäude im Zentrum von Brasov, in der Wladimir-Majakowski-Strada, die früher die Straße des heiligen Johannes war und inzwischen wieder so heißt. Ana berichtet vom Geschehen um sie herum und davon, was sie aus den Erzählungen der Großelterngeneration aus dem "Altreich" aufschnappt, womit wohl die Zeit der Habsburger Monarchie gemeint ist, zu der Kronstadt bis zum Vertrag von Trianon gehörte.
Die Sechziger waren im kommunistischen Rumänien ein kurzes, vorsichtiges politisches Tauwetter, bevor der Größenwahn Nicolae Ceausescus das Land in den Abgrund riss. Die Traumata der Vergangenheit und die Unbilden des Kommunismus tauchen in den vielen Episoden eher am Rande auf, etwa als Ana von einem Nachbarn erzählt, der wie gut siebzigtausend Rumäniendeutsche nach dem Krieg in ein sowjetisches Zwangsarbeitslager deportiert worden war. Seine abenteuerliche Flucht aus der Gefangenschaft erscheint ihr in ihrer kindlichen Fantasie ähnlich spannend wie die des Grafen von Monte Christo aus seinem Inselkerker. An diese Geschichten muss Ana denken, als sie die Eltern auf dem Dachboden über Fluchtpläne tuscheln hört. Auch dass sie ein Jahr von der Schule zurückgestellt wird, nicht von den Behörden, sondern von den Eltern selbst, hat politische Gründe. Die einst für alle offenen und als gut geltenden deutschen Schulen sind plötzlich nur noch mit Herkunftsnachweis zu besuchen, doch in Anas buntem Stammbaum lässt sich beim besten Willen kein Siebenbürger Sachse finden. Die Eltern hoffen auf eine Revision dieser die Volksgruppen voneinander isolierenden staatlichen Regel binnen Jahresfrist: Vergebens, ein Jahr später muss Ana auf eine rumänische Schule.
Dass die Familie der neuen Staatsideologie distanziert begegnet, weiß sie durch die Tante mit "den Lippen wie Jane Fonda", eine engagierte Lehrerin und Schuldirektorin. Weil diese das Pionierhalstuch eines Schülers als "roten Fummel" bezeichnet hatte, wurde sie beinahe suspendiert. Diese politischen Konflikte sind für Ana weitaus weniger interessant als das Schicksal eines Straßenhundes oder die wundersamen Dinge, die sich im Geschäft des Antiquars befinden, der, wie die Legende besagt, den Kugelschreiber erfunden haben soll. Tante und Großeltern versuchen den Kindern ihre Begeisterung für die Plansprache Esperanto zu vermitteln, die in der kosmopolitischen Jugend der Alten en vogue gewesen war. Doch vielen Erwartungen zum Trotz vermochte die nach dem Pseudonym ihres jüdischen Erfinders "Doktor Hoffnung" benannte Weltsprache die zerstrittene Menschheit nicht zu einen.
Mit ihren Freunden erkundet Ana Kronstadt, planscht im Pool der Dachterrasse des einst noblen Hotel "Aro" und wird Zeugin, wie die Häuser auf der anderen Straßenseite einem neuen "Aro" Platz machen müssen. Die Sommerferien genießt sie mit der Familie im Butschetsch-Gebirge oder im eiskalten Becken des Waldbades. Bei einer der häufigen Wanderungen begegnet die Familie einem Belgier, im abgeschotteten Rumänien wirkt er auf die Kinder wie ein Außerirdischer. Nichts, so scheint es, kann das Mädchen aus dem seelischen Gleichgewicht bringen, nicht einmal der plötzliche Tod des Vaters. Das Haus gleicht einer Festung gegen die Unbill des Lebens, eine Art Bullerbü-Idylle im kommunistischen Rumänien.
Ioana Pârvulescu wurde 1960 in Brasov geboren und lehrt seit vielen Jahren an der Universität von Bukarest Literatur. Sie übersetzt aus dem Französischen und Deutschen, unter anderem Milan Kundera, Saint-Exupéry und Rilke. Der nun im Wiener Zsolnay Verlag auf Deutsch erschienene Roman ist ihr dritter von insgesamt bisher vier. Schade, dass der Verlag diesen und nicht den mit dem Preis der Europäischen Union für Literatur ausgezeichneten Roman "Viata începe vineri" (Das Leben beginnt am Freitag, 2009) fürs Entrée in deutscher Sprache gewählt hat. Die Autorin, am Ende der Sicht Anas entwachsen, gesteht selbst, die Vergangenheit "mit sympathischer Tinte" geschrieben zu haben. Die Verklärung der Kindheit und die unschuldig-ungetrübte Sicht auf die noch fernere Vergangenheit wirken wie aus der Zeit gefallen. Auch die kindliche Erzählweise, die den Leser mit "Du" anspricht, mutet in diesem nicht für Kinder erdachten Buch bisweilen etwas bemüht an.
Dennoch ist die Lektüre ein Gewinn, öffnet sie doch den Blick in eine hierzulande vielen unbekannte Landschaft und Kulturgeschichte Europas. Man ahnt den Preis, den die einst multikulturelle Stadt durch den Verlust ganzer Bevölkerungsgruppen, allen voran Juden und Siebenbürger Sachsen, zahlen musste. Geblieben ist ein kaum zerstörter Stadtkern und der magische "labyrinthische Wald, in dem man sich verirrt, wenn man die Stimme nur nach außen richtet". SABINE BERKING
Ioana Pârvulescu: "Wo die Hunde in drei Sprachen bellen". Roman.
Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 360 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Beiläufig und mit bezaubernder Leichtigkeit erzählt hier eine rumänische Autorin von der Geschichte und der Vergänglichkeit des multikulturellen Lebens in einer Stadt, die einst ein Zentrum siebenbürgisch-sächsischen Lebens war. Ein wunderbarer Roman ist Pârvulescu da gelungen, durch den man gehen kann wie durch ein literarisches Stadtmuseum." Mirko Schwanitz, BR Diwan, 12.0.921
"Mit Witz und Intelligenz, sinnlicher Prägnanz und vor allem mit Wärme konterkariert Pârvulescu poetische Kindheitserinnerungen der sechziger Jahre auf versteckt sarkastische Weise mit der historischen Wirklichkeit des Kommunismus." Jan Koneffke, Neue Zürcher Zeitung, 02.09.21
"Mit Witz und Intelligenz, sinnlicher Prägnanz und vor allem mit Wärme konterkariert Pârvulescu poetische Kindheitserinnerungen der sechziger Jahre auf versteckt sarkastische Weise mit der historischen Wirklichkeit des Kommunismus." Jan Koneffke, Neue Zürcher Zeitung, 02.09.21