"Klärende Stellungnahmen, die ganze Epochen beleuchten. Daniel Kehlmann ist eindeutig ein Leser nach Borges-Art: ein grandioser Überblicker." Gustav Seibt, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Wie geht ein Romancier mit Historie und Erfindung um? Hat der Roman als Gattung Zukunft? Welche eigenen Werke würde man auf eine einsame Insel mitnehmen? Und ist "Der Herr der Ringe" große Literatur? Mit eigenen und fremden Büchern beschäftigt sich Daniel Kehlmann in diesen Essays, mit Autoren aus Europa und Amerika, mit dem Handwerk des Schreibens und dem Abenteuer des Lesens.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2005Eine Eule auf Panoramaflug
Daniel Kehlmann als Essayist und seine „Vermessung der Welt”, gelesen von Ulrich Matthes
Einer der Sieger dieses Literaturjahres ist der erst dreißig Jahre alte Daniel Kehlmann. Sein historischer Roman „Die Vermessung der Welt” ist Ideenpoesie, die Scharfsinn mit Anschauungskraft verbindet, wie man es im deutschsprachigen Erzählen selten erlebt. In seinen Helden, dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß und dem Naturforscher Alexander von Humboldt, findet Kehlmann zwei Urformen wissenschaftlicher Weltaneignung, den besessenen Sammler der Empirie (Humboldt), und den weltverachtenden Abstrahierer (Gauß) - und zwei Formen von Lieblosigkeit, die sich zum traurigen Schluss treffen, indem sie einander wechselseitig ihre Vergeblichkeit vor Augen bringen. Endlich wieder ein Besteller ohne Herzschmerz.
Nur hohe Reflektiertheit vermochte ein solches Kammerspiel der Wissenschaft hervorzubringen. Und so kann Daniel Kehlmann in seinem Essay „Wo ist Carlos Montúfar?”, dem titelgebenden Stück einer Sammlung literarischer Aufsätze, sein Verfahren mit gläserner Durchsichtigkeit erklären: das Weglassen und Zuspitzen des historischen Materials, den Primat der „Wahrheit” über die „Wirklichkeit”.
Das ist als Argument alles andere als neu. Neu ist, dass Kehlmann der in den zweiten Rang gerückten Wirklichkeit doch seinen Tribut zollt: Er erinnert an eben jenen Carlos Montúfar, der neben Bonpland, der im Roman die Rolle des Sancho Pansa beim Quixote Humboldt einnimmt, auch dabei war - und aus Gründen der erzählerischen Ökonomie wegfallen musste. Dabei verbirgt sich hinter dieser Gestalt womöglich ein erotisches Drama, das Humboldt bewogen haben soll, den vierten Teil seines südamerikanischen Reiseberichtes zu verbrennen. Künftige Ausgaben des Romans sollten diesen Text im Anhang bringen, schon um der köstlichen Charakterisierung willen, die Kehlmann für Humboldt findet: eine „Kreuzung aus Don Quixote und Hindenburg” nennt er ihn.
Im Übrigen liefert Kehlmann noch einen Kommentar zum Humboldt-Hype von 2004, in dem uns das „Kosmos”-Werk als Beispiel großer Wissenschaft verkauft wurde: Überholt sei es schon bei Erscheinen gewesen - leugnete es doch die zukunftsträchtige Evolutionstheorie und verharrte in von Gauß längst widerlegten geometrischen Vorstellungen! Und das passt zu unserer Gegenwart: Das Land der Ideen und Innovationen rankt sich empor an vergangenen Erfolgen, die aber zu ihrer Zeit auch nur noch Fassade bedeuteten. Gut, dass in der Dämmerung der Kultur wenigstens die Kehlmann-Eule ihren Flug beginnt!
So wie man die Wissenschaftler klassifizieren kann, so mag man vielleicht auch die Leser und Kritiker in Typen ordnen. Kehlmanns Bändchen mit seinen 18 weiteren Stücken - überwiegend Gelegenheitsarbeiten zu verschiedensten Autoren und Gegenständen, Voltaire, Stendhal, Sacher-Masoch, Hamsun, Tolkien, Céline, Updike, Helmut Krausser und etlichen mehr - jedenfalls legt dies nahe. Es gibt die Forscher im Unterholz, die Anatomen und Motivesammler, die Biografen und Detektive, die Wanderer in den Tälern. Und es gibt die Überflieger, die Literatur in Landschaften panoramatisch erfassen, nur hier und da das Licht einer Einzelwahrnehmung setzen, dafür aber ganze Lektürekontinente in Synthesen bringen können. Zwei gleichermaßen große Leser mögen den Kontrast veranschaulichen: Nabokov und Borges.
So eine Schlamperei!
Nabokov, der Mikroskopierer, bemerkt es, wenn bei Dostojewskij eine Krinoline gestreift ins Zimmer kommt, um sie 20 Seiten später kariert wieder zu verlassen: Welche Schlamperei! Borges würde sich bei solchen Petitessen nie aufhalten, sondern lieber ganz allgemein Tolstois Homerizität mit Dostojewskijs biblischem Flackern vergleichen. Kehlmann nun ist eindeutig ein Leser nach Borges-Art: ein grandioser Überblicker, der beispielsweise das vieltausendseitige Phänomen „Herr der Ringe” in zehn Seiten so plastisch umreißen kann, dass man das plausible Wortspiel „Bored by the Rings” auf einmal für grundfalsch hält.
Updike als letzter christlicher Erzähler, Hamsuns verführerische Selbstrechtfertigung, Sacher-Masochs Kafka präludierende Erzählform, Céline als nur halbinteressanter Dichter des Bösen - das sind klärende Stellungnahmen, die ganze Epochen beleuchten und es zugleich schaffen, den unabweisbaren Drang zur Nachprüfung zu erzeugen. Kehlmanns Eintreten für Helmut Krausser bedeutet einen Ritterschlag, den die Kritik nun nicht mehr ignorieren kann; das schreibt zerknirscht der Rezensent, der Krausser vor Jahren unter der grausamen Überschrift „Genieverdacht ausgeräumt” besprochen hatte.
Bei Kehlmann jedenfalls scheint sich der Genieverdacht zu verdichten. Von der „Vermessung der Welt” ist schon ein Hörbuch zu haben, und zwar gelesen von Ulrich Matthes. Eine solche Verwandlung bedeutet einen ernsten Qualitätstest für neue Prosa. Gerade bei einem so meisterhaften Sprecher wie Matthes könnten Schwächen unbarmherzig hörbar werden: in Form der Unterforderung. Stattdessen führt er einen Text vor, der das Zeug zum Bühnenstück hat. Dass Matthes dabei so weise ist, sein schier grenzenloses Register zurückhaltend einzusetzen - also Ton in Ton zu malen, statt schaustellerische Buntheit vorzuführen - beweist, dass sich hier zwei Intellektuelle getroffen haben.
Zu loben ist übrigens auch das kleine feine Beiheft zum Hörbuch, das mit frechen, sympathisch studentisch klingenden Formulierungen auf sich aufmerksam macht: „Daniel Kehlmann ist Österreicher, aber von einer durch vermeintliche Innerlichkeit unterfütterten Polemikprosa à la Jelinek oder Bernhard ist er weltenweit entfernt. . . . In der Tonlage IST ER]näher an Buster Keaton als an dem österreichischen Todesgelächter, mit dem insbesondere bei Thomas Bernhard alles von Anfang an a priori zugeschmettert wurde, als hätte dem je eine Erkenntnis zugrunde gelegen.” Nicht übel!
GUSTAV SEIBT
DANIEL KEHLMANN: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2005. 153 Seiten, 12,00 Euro.
DANIEL KEHLMANN: Die Vermessung der Welt. Gelesen von Ulrich Matthes. 5 CDs, ca. 300 Min. Rowohlt bei Deutsche Grammophon Gesellschaft. Ca. 22 Euro.
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Daniel Kehlmann als Essayist und seine „Vermessung der Welt”, gelesen von Ulrich Matthes
Einer der Sieger dieses Literaturjahres ist der erst dreißig Jahre alte Daniel Kehlmann. Sein historischer Roman „Die Vermessung der Welt” ist Ideenpoesie, die Scharfsinn mit Anschauungskraft verbindet, wie man es im deutschsprachigen Erzählen selten erlebt. In seinen Helden, dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß und dem Naturforscher Alexander von Humboldt, findet Kehlmann zwei Urformen wissenschaftlicher Weltaneignung, den besessenen Sammler der Empirie (Humboldt), und den weltverachtenden Abstrahierer (Gauß) - und zwei Formen von Lieblosigkeit, die sich zum traurigen Schluss treffen, indem sie einander wechselseitig ihre Vergeblichkeit vor Augen bringen. Endlich wieder ein Besteller ohne Herzschmerz.
Nur hohe Reflektiertheit vermochte ein solches Kammerspiel der Wissenschaft hervorzubringen. Und so kann Daniel Kehlmann in seinem Essay „Wo ist Carlos Montúfar?”, dem titelgebenden Stück einer Sammlung literarischer Aufsätze, sein Verfahren mit gläserner Durchsichtigkeit erklären: das Weglassen und Zuspitzen des historischen Materials, den Primat der „Wahrheit” über die „Wirklichkeit”.
Das ist als Argument alles andere als neu. Neu ist, dass Kehlmann der in den zweiten Rang gerückten Wirklichkeit doch seinen Tribut zollt: Er erinnert an eben jenen Carlos Montúfar, der neben Bonpland, der im Roman die Rolle des Sancho Pansa beim Quixote Humboldt einnimmt, auch dabei war - und aus Gründen der erzählerischen Ökonomie wegfallen musste. Dabei verbirgt sich hinter dieser Gestalt womöglich ein erotisches Drama, das Humboldt bewogen haben soll, den vierten Teil seines südamerikanischen Reiseberichtes zu verbrennen. Künftige Ausgaben des Romans sollten diesen Text im Anhang bringen, schon um der köstlichen Charakterisierung willen, die Kehlmann für Humboldt findet: eine „Kreuzung aus Don Quixote und Hindenburg” nennt er ihn.
Im Übrigen liefert Kehlmann noch einen Kommentar zum Humboldt-Hype von 2004, in dem uns das „Kosmos”-Werk als Beispiel großer Wissenschaft verkauft wurde: Überholt sei es schon bei Erscheinen gewesen - leugnete es doch die zukunftsträchtige Evolutionstheorie und verharrte in von Gauß längst widerlegten geometrischen Vorstellungen! Und das passt zu unserer Gegenwart: Das Land der Ideen und Innovationen rankt sich empor an vergangenen Erfolgen, die aber zu ihrer Zeit auch nur noch Fassade bedeuteten. Gut, dass in der Dämmerung der Kultur wenigstens die Kehlmann-Eule ihren Flug beginnt!
So wie man die Wissenschaftler klassifizieren kann, so mag man vielleicht auch die Leser und Kritiker in Typen ordnen. Kehlmanns Bändchen mit seinen 18 weiteren Stücken - überwiegend Gelegenheitsarbeiten zu verschiedensten Autoren und Gegenständen, Voltaire, Stendhal, Sacher-Masoch, Hamsun, Tolkien, Céline, Updike, Helmut Krausser und etlichen mehr - jedenfalls legt dies nahe. Es gibt die Forscher im Unterholz, die Anatomen und Motivesammler, die Biografen und Detektive, die Wanderer in den Tälern. Und es gibt die Überflieger, die Literatur in Landschaften panoramatisch erfassen, nur hier und da das Licht einer Einzelwahrnehmung setzen, dafür aber ganze Lektürekontinente in Synthesen bringen können. Zwei gleichermaßen große Leser mögen den Kontrast veranschaulichen: Nabokov und Borges.
So eine Schlamperei!
Nabokov, der Mikroskopierer, bemerkt es, wenn bei Dostojewskij eine Krinoline gestreift ins Zimmer kommt, um sie 20 Seiten später kariert wieder zu verlassen: Welche Schlamperei! Borges würde sich bei solchen Petitessen nie aufhalten, sondern lieber ganz allgemein Tolstois Homerizität mit Dostojewskijs biblischem Flackern vergleichen. Kehlmann nun ist eindeutig ein Leser nach Borges-Art: ein grandioser Überblicker, der beispielsweise das vieltausendseitige Phänomen „Herr der Ringe” in zehn Seiten so plastisch umreißen kann, dass man das plausible Wortspiel „Bored by the Rings” auf einmal für grundfalsch hält.
Updike als letzter christlicher Erzähler, Hamsuns verführerische Selbstrechtfertigung, Sacher-Masochs Kafka präludierende Erzählform, Céline als nur halbinteressanter Dichter des Bösen - das sind klärende Stellungnahmen, die ganze Epochen beleuchten und es zugleich schaffen, den unabweisbaren Drang zur Nachprüfung zu erzeugen. Kehlmanns Eintreten für Helmut Krausser bedeutet einen Ritterschlag, den die Kritik nun nicht mehr ignorieren kann; das schreibt zerknirscht der Rezensent, der Krausser vor Jahren unter der grausamen Überschrift „Genieverdacht ausgeräumt” besprochen hatte.
Bei Kehlmann jedenfalls scheint sich der Genieverdacht zu verdichten. Von der „Vermessung der Welt” ist schon ein Hörbuch zu haben, und zwar gelesen von Ulrich Matthes. Eine solche Verwandlung bedeutet einen ernsten Qualitätstest für neue Prosa. Gerade bei einem so meisterhaften Sprecher wie Matthes könnten Schwächen unbarmherzig hörbar werden: in Form der Unterforderung. Stattdessen führt er einen Text vor, der das Zeug zum Bühnenstück hat. Dass Matthes dabei so weise ist, sein schier grenzenloses Register zurückhaltend einzusetzen - also Ton in Ton zu malen, statt schaustellerische Buntheit vorzuführen - beweist, dass sich hier zwei Intellektuelle getroffen haben.
Zu loben ist übrigens auch das kleine feine Beiheft zum Hörbuch, das mit frechen, sympathisch studentisch klingenden Formulierungen auf sich aufmerksam macht: „Daniel Kehlmann ist Österreicher, aber von einer durch vermeintliche Innerlichkeit unterfütterten Polemikprosa à la Jelinek oder Bernhard ist er weltenweit entfernt. . . . In der Tonlage IST ER]näher an Buster Keaton als an dem österreichischen Todesgelächter, mit dem insbesondere bei Thomas Bernhard alles von Anfang an a priori zugeschmettert wurde, als hätte dem je eine Erkenntnis zugrunde gelegen.” Nicht übel!
GUSTAV SEIBT
DANIEL KEHLMANN: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2005. 153 Seiten, 12,00 Euro.
DANIEL KEHLMANN: Die Vermessung der Welt. Gelesen von Ulrich Matthes. 5 CDs, ca. 300 Min. Rowohlt bei Deutsche Grammophon Gesellschaft. Ca. 22 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Daniel Kehlmann schreibt über Kafka, Celine, Helmut Krausser, Updike, Voltaire, Hamsun, von Humboldt, insgesamt 18 Stücke - und erregt damit das Entzücken von Gustav Seibt: "Klärende Stellungnahmen, die ganze Epochen beleuchten". Sogar eines Besseren belehrt sieht der Rezensent sich - hat er selbst doch einmal Krausser, für den Kehlmann eine Lanze bricht, verrissen. Auch dass Humboldts "Kosmos", jenes Enzensberger-Großprojekt, bereits bei seinem Erscheinen auf überholten, hinfälligen wissenschaftlichen Ansichten basiert habe, macht Kehlmann en passant klar. Diese Form von gelehrter Subversion gefällt Seibt sehr. Und wenn der "grandiose Überblicker" mit seinen gerade mal 30 Jahren den "Herrn der Ringe" auf denPunkt bringt, erweckt das im Rezensenten endlich die Leselust, die Tolkien in ihm bis dahin nicht erzeugt zu haben scheint. Überhaupt, merkt Seibt dankbar und anerkennend an, vermag der junge Schriftsteller es, den Griff zum Originaltext zu provozieren, und sei es zum Zwecke des Nachprüfens.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Daniel Kehlmanns Bücher verströmen den irritierenden Reiz von Meistern wie Nabokov oder Proust. Stern