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Tamara Bach erzählt in "Wörter mit L.", ihrem ersten Roman für Kinder, vom haarfeinen Riss auf der Schwelle zur Pubertät.
Von Eva-Maria Magel
Vielleicht wird aus Pauline mal eine Dichterin. Schon jetzt, mit elf Jahren, hat sie einen Sinn für Sprache und für das, was nicht gesagt wird, aber trotzdem da ist. Und sie weiß: "Poesie ist ein Wort, das so schön ist wie das Ding, das es beschreibt." Das ist Pauline, in deren Leben innerhalb weniger Tage Dinge geschehen, die man sich so sehr wünscht wie Keuchhusten, die aber trotzdem geschehen müssen. Weil es die Zeit dafür ist. Ihre Mutter verliebt sich, ihre beste Freundin auch, und über dieser "dämlichen Herzscheiße" gerät Paulines bislang einigermaßen in der Balance gehaltenes Mädchenleben in Schieflage.
Erfreulicherweise hat Pauline obendrein einen Sinn dafür, wie mit dem Keuchhusten des Lebens zu verfahren sei. Auch wenn ihr das gar nicht so vorkommt. Aber wenn sie der Mutter an einem Papatag unangekündigt einen Besuch abstattet und hinter der hektisch errötenden Mama plötzlich ein Mann auftaucht, dann entwickelt Pauline eine Grandezza, an der man sich sofort ein Beispiel nehmen möchte. "Und darum geh ich jetzt einen Schritt vor und sag ,Guten Tag, mein Name ist Pauline, ich bin hier die Tochter'." Hui, würde Pauline jetzt innerlich sagen. Und äußerlich mucksmäuschenstill bleiben.
Um das Innere und Äußere, Ersteres extrem stürmisch, Zweites nur so ein bisschen bewegt, geht es in "Wörter mit L". Die übrigens, so explizit, gar keine Rolle spielen. Man denkt sich aber sein Teil. Darin ist Tamara Bach, vielfach ausgezeichnete Autorin, versiert. Schon in früheren Romanen, allesamt für Jugendliche und junge Erwachsene, hat Bach gezeigt, dass sie eine Meisterin der Leerstelle ist. Oder der Rhythmisierung von Überfluss und Mäßigung des Erzählens. Sie lässt sich in ihrem ersten Buch für Jüngere nicht darauf ein, die Schwierigkeiten und Freuden, die Differenz von Innen und Außen für diese Protagonisten kleiner zu machen, bloß weil sie jünger sind. Im Gegenteil.
Das Kunststück ist, die Lebenswelt von Pauline, die von Donnerstagabend bis Sonntagmittag bei ihrer Single-Mama und den Rest der Zeit in der Patchworkfamilie ihres Vaters lebt, bei einem heftigen Schwanken zu zeigen und den Lesern dennoch das Vertrauen zu geben, das könne alles gut werden. Bach erzählt nicht den x-ten Pubertätsroman. Sie erzählt von diesem hauchfeinen Riss, dieser winzigen, beinahe unmerklichen und doch herzzerreißenden Schwelle, an der das Kind selbst merkt, dass es beginnt, kein Kind mehr zu sein. Noch gar nicht neugierig auf das, was kommt, eher ängstlich und genervt, aus der Ruhe gebracht zu werden.
Pauline sieht das zum ersten Mal nach dem Schwimmunterricht, als alle Mädchen unter der Dusche stehen. "Das ist nicht mehr so wie damals im Kindergarten im Sommer, wo man sich einfach ausgezogen hat und durch den Rasensprenger gehüpft ist. Da haben wir ja alle noch gleich ausgesehen", denkt sie, "wie Frösche, mit Blähbauch und Beinen, die nur zum Springen da waren." Als sie an sich hinuntersieht, stellt sie fest: "Ich bin kein Frosch mehr." Da aber wankt schon längst alles. Natascha, die beste Freundin, mit der sie immer alles geteilt hat, tuschelt jetzt lieber mit der drögen Leonie übers Verliebtsein. Während Pauline plötzlich dauernd Lukas begegnet. Wie die meisten Kinder des Romans hat auch er getrennte Eltern. Abgeklärt pendeln die Kinder zwischen zwei Zuhauses, die von den Eltern vereinbarten Regeln, so willkürlich sie erscheinen, sind bislang immer befolgt worden. Nun aber setzen die Fragen ein, die Wut, der Wunsch, mitzuentscheiden. Das meiste davon bleibt ungesagt. Aus den Schulhof- und Elterndialogen, knapp und präzise sogar im Ausweichen, der Endungen beraubt wie in gesprochener Sprache, wird im inneren Monolog ein großer bildhafter Reichtum.
Bach stattet die Erwachsenen in wenigen Nebensätzen mit Lebensgeschichten aus. Da ist Jan, Paulines Vater, immer noch gekränkt, weil die einstige Geliebte nur das Kind, nicht aber ihn wollte. Und der jetzt die Bilderbuchfamilie leben will: Jan, Jette und Jonathan - das hat eine Prise Satire. Aber eben auch die Wärme, die Pauline zum Ausgleich braucht. Wenn Pauline beschreibt, wie ihre kühle Mutter mit dem vier Jahre alten "Halbbruder" Jonathan umgeht, steckt eine Welt in wenigen Sätzen. Es ist Pauline selbst, die in der Lage ist, diese Welt zu beschreiben. Und Jette, die gütige Stiefmutter, die Pauline eine Schreibmaschine schenkt, für ihre Geschichten. Ansonsten ist sie so hilflos wie alle Erwachsenen den Gefühlen eines Kindes gegenüber, das an dieser hauchfeinen Schwelle steht. Aber man darf sich sicher sein, dass die patent-poetische Pauline diese Schwelle nimmt.
Tamara Bach: "Wörter mit L".
Carlsen Verlag, Hamburg 2019. 176 S., geb., 11,- [Euro]. Ab 11 J.
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