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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Wie ist das Glück klein, dass es in einer Pille Platz hat: Zwei Bände mit nachgelassenen Texten der Schriftstellerin Aglaja Veteranyi
Aglaja Veteranyi (1962 bis 2002) gehört zu den ungewöhnlichsten Persönlichkeiten der deutschsprachigen Literatur. Als Tochter zweier Star-Artisten des rumänischen Staatszirkus führte sie das Leben einer Fahrenden. Ihr Vater war ein ungarischer Clown, die Mutter eine rumänische Hochseiltänzerin mit einer Paradenummer, bei der sie, an ihren langen Haaren hängend, jonglierte, Feuerfackeln etwa. Die Erziehung der Kleinen zwischen Manege und Wohnwagen - oft an der Seite einer geliebten Tante, die nach ihr sah, wenn die Eltern keine Zeit hatten, vorübergehend auch mit der älteren Schwester im Kinderheim - sah einen regelmäßigen Schulunterricht nicht vor. Schon vom dritten Lebensjahr an war das blondlockige Mädchen im Zirkus aufgetreten. Und anders als ihre Schwester, die den Zirkus liebte, hatte sie sich geschämt, winken zu müssen "wie ein Äffchen".
Als sie fünf Jahre alt war, floh die Familie aus Rumänien und bereiste mit großen Zirkussen Europa, Afrika, Südamerika. Die Eltern gaben ihre eheliche Gemeinsamkeit auf: "Als wir uns in Buenos Aires trennten, vorläufig für immer, saß ich wie eine Zuschauerin im Publikum und weinte." Kurz darauf erlitt die Mutter einen Arbeitsunfall, und die Zwölfjährige war gezwungen, als (Nackt-)Tänzerin in spanischen Varietés aufzutreten, um die Restfamilie zu ernähren. Da sie für solche Engagements zu jung war, klebte man ihr ein behaartes Dreieck zwischen die Beine. Damit habe sie sich angezogen gefühlt.
Fünfzehnjährig kam sie als Analphabetin, die Rumänisch und Spanisch sprach, mit der Mutter und der älteren Schwester als Asylsuchende nach Zürich. Sie lernte Deutsch, bewarb sich mit Erfolg bei der "Schauspiel Gemeinschaft Zürich" und begann, gefördert vom damaligen Leiter Hannes Becher, der sie anhielt, das Tagebuch einer Rolle zu verfassen, in der neuen Sprache zu schreiben. Unter Bechers Ägide nahm sie einen Künstlernamen an: Aus Monika Veteranni wurde Aglaja Veteranyi. Sie schnitt sich das lange blonde Haar ab und färbte es schwarz, spielte Theater, entwarf Performances und veröffentlichte zunehmend in Anthologien und Zeitschriften. Seit 1982 nannte sie sich freie Schriftstellerin.
Aber erst 1999 erschien ihr Buchdebüt. Veteranyis autobiographisch inspirierte Miniaturen "Warum das Kind in der Polenta kocht" wurden ein überraschender Erfolg. Die Sätze dieser Autorin klangen einfach, als wären sie kindlich. Aber ihre Wörter hatten Widerhaken. So initiierte sie ein abgründiges Spiel mit der Verstörung.
Wo immer Aglaja Veteranyi stand und ging, notierte sie. Ihre Lesungen waren Ereignisse. Während eines ihrer letzten Auftritte im Herbst 2001 saß sie im Zürcher "James Joyce Pub" auf dem Tresen, über dem Schoß ein altes weißes Brautkleid, auf das sie mit einem Textilschreiber in klarer Handschrift ihre Texte geschrieben hatte. So las sie aus dem Faltenwurf der rituellen Unschuld der Frauen, dem Hochzeitskleid, den todessehnsüchtigen Schlüsseltext "Ana lebt". Wenige Monate später, am 3. Februar 2002, einen Tag nach dem sechzigsten Todestag von Daniil Charms und einen Tag vor dem Geburtstag ihrer geliebten Mutter, um die sie ein Kinderleben lang Angst gehabt hatte, ging Aglaja Veteranyi in die Kälte des Zürichsees, um zu ertrinken.
"Ana lebt" und andere kurze bislang unveröffentlichte oder verstreut erschienene Texte sind nun im Nachlassband "Wörter statt Möbel - Fundstücke" herausgekommen, zeitgleich mit "Café Papa - Fragmente", einem Band, der längere Texte aus Veteranyis Vermächtnis versammelt. Ihr Lebens- und Bühnenpartner Jens Nielsen schrieb die aufschlussreichen Nachworte. Wunderbare Schätze wurden gehoben. Es findet sich nicht nur die Urfassung von "Warum das Kind in der Polenta kocht", sondern auch späte Skizzen zu einem Vaterroman, eine Reportage, die Veteranyi über eine Reise zum "Lustigen Friedhof" im rumänischen Sapanta verfasste, oder ihre poetischen Auseinandersetzungen mit Charms.
"Ana lebt" skizziert das Psychogramm einer Frau, die puppenhaft in sich selbst gefangen ist, indem sie in sich fällt, zerfällt: "Die Ana in Ana wackelt. / Sie fällt nach links, nach rechts, in den Arm, in ein Bein, / ins Auge." Diese Ana weint "lange Tränen" und nimmt eine Pille gegen ihr Unglück, wobei sie denkt: "Wie ist das Glück klein, dass es in einer Pille Platz hat."
Die Grenze zwischen dem eigenen Empfinden und den Objekten der Außenwelt ist aufgehoben. Deshalb fällt und zerfällt Ana und muss sich immer wieder beschwören: "Ich bin eine ganze, sagt Ana zu Ana." Sie friert und zieht sich "die Jacke" an, "die Decke" und "den Schlaf". So ist am Ende der Tod "lang" wie die Tränen, und er "liegt auf Anas Gesicht und schläft".
Aglaja Veteranyis Texte bewegen sich in einem Paradox: Sie sind in ihrer scheinbar einfachen und klaren Poetizität sehr schön, und sie gehen dabei an eine Schmerzgrenze und vielleicht darüber hinaus. Es sind Sätze, die die Lust am Surrealen berühren, aber auch den Wahnsinn, die Psychose. Im Zimmer dieser Poesie werden "Wörter statt Möbel" verrückt.
Da die Wörter selbst objekthaft bleiben, entsteht eine poetische Unordnung, die den Leser zwingt, neu nachzudenken. Und ihn auftauchen lässt aus dem gewöhnlichen Begreifen, ihn wortwach macht im Dämmer seiner alltäglichen Wahrnehmung und Begrifflichkeit. Peter Handke, für den das genaue Beobachten ein poetologischer Imperativ war, sprach von der notwendigen "Augenwäsche". Veteranyis Poesie leistete eine wunderbare Wortreinigung. In ihren Texten geht eine innere Manege auf, wobei die Wörter etwas Materialhaftes und damit eine spröde Frische behalten, die in einer Muttersprache kaum (oder eben nur durch strengste Bewusstheit) gelingen kann.
Immer wieder kommen in Veteranyis Texten Verletzungen, Selbstverletzungen ins Bild. Und hier, in dieser schönen Sprache der einfachen, furchtbaren Sätze erscheint Missbrauch von eigener bitterer Süße, familiengemütlich wie Mutters Marmelade: "Mein Vater und ich sahen uns einen Kinderfilm an. Hoffentlich steckt er mir die Hand nicht unter den Rock, dachte ich. Aber gewünscht habe ich es schon."
ANGELIKA OVERATH
Aglaja Veteranyi: "Wörter statt Möbel". Fundstücke.
Edition spoken script 28.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2018.
180 S., geb., 18,50 [Euro].
Aglaja Veteranyi:
"Café Papa". Fragmente.
Edition spoken script 29.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2018.
151 S., geb., 18,50 [Euro].
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