Rezension / Literaturbericht aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Deutsches Seminar), Sprache: Deutsch, Abstract: Mit dem 2004 im Eichborn-Verlag erschienenen Roman "Wörterbuch" von Jenny Erpenbeck im Stil eines inneren Monologs das Psychogramm einer im kindlichen Entwicklungsstadium steckengebliebenen jungen Frau, der es nicht gelingt, sich aus dem Einfluss einer übermächtigen Vaterfigur zu lösen und eine eigene Identität zu entwickeln. Im Rückblendeverfahren werden in einer Sequenz scheinbar willkürlich aneinander gereihter Szenen und Episoden missglückte Versuche dargeboten, sich gegenüber der zerstörerischen Gewalt des Vaters zu behaupten und einen selbst gewählten Entwicklungsweg einzuschlagen. Die namenlose Ich-Erzählerin kann als Anti-Heldin und weiblicher Gegenentwurf zu einer expressionistischen Heldenfigur aufgefasst werden, die - wie der Protagonist in Walter Hasenclevers Drama "Der Sohn" - voller Sendungsbewusstsein und Pathos gegen ihren Vater revoltiert, sich triumphierend über ihn erhebt und wie neu geboren zu einem Leben auf höherer Ebene aufschwingt. Demgegenüber scheint Erpenbecks Protagonistin - bildlich gesprochen - das Schicksal der rätselhaften "schwarzgekleideten Engel" teilen zu müssen, die vom Himmel ins Meer stürzen und darin untergehen. Ihr wird kein Leben in Aussicht gestellt, das in eine höhere Daseinsstufe einmündet oder zumindest eine neue Perspektive im irdischen Leben eröffnet. Ihr steht kein Therapeut beratend zur Seite, der ihr dabei hilft, traumatische Kindheitserlebnisse zu verarbeiten. Im Unterschied zu einer sich gegenüber ihrer verständnislosen Umgebung behauptenden expressionistischen Zentralfigur, trifft sie - mit Ausnahme von Leidensgenossen - nur auf übermächtige Gegenspieler, denen sie nicht gewachsen ist. Das Innenleben der Erzählerin erweist sich als eine Art "terra incognita", eine unerforschte, unergründliche, zerklüftete Seelenlandschaft, die sich dem Zugriff der Sprache und damit der Mitteilbarkeit zu widersetzen scheint, oder wie ein Labyrinth von "Gehirnwindungen", in dem irgendwo ein winziger Rest ("ein Löffelchen") ihres einstigen Ichs versteckt ist. Analog zum Zerschneiden von Nahrung, wird das wiederholt im Text aufgerufene Instrument des "Messers" wie ein Skalpell benutzt, um das eigene Innenleben zu sezieren bzw. es in einem selbstzerstörerischen Akt gegen sich selbst zu richten, "um die Erinnerung abzustechen". In diesem mit intensiven Bildern angereicherten Psychodrama muss Erpenbecks Zentralfigur die ihr aufgezwungene Rolle einer "Selbstauslöschung" ohne Gegenwehr übernehmen.
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