SaSa StaniSics erstes Kinderbuch erzählt von der Angst und macht Mut Ein Ferienlager tief im Wald. Das ewige Wandern, das Braten von Folienkartoffeln, das Sirren von Mücken. Heranwachsende, ein paar Tage aufeinander und auf die Natur losgelassen, lose von einigen mehr oder weniger motivierten Betreuern begleitet. Zwei Klassenkameraden, Außenseiter, versuchen die unliebsamen Aktivitäten und Gruppenzwänge auszuhalten. Einen der beiden, Jörg, trifft es hart - er wird unter Druck gesetzt, erniedrigt, wird andersiger gemacht. Der andere beobachtet die Übergriffe bloß, aus Angst, selbst Opfer zu werden. Als die Situation zu eskalieren droht, taucht auch noch der Wolf auf. Ein Alptraum bloß? Oder eine Aufforderung, sich dem Alptraum der Wirklichkeit zu stellen und mutig zu sein: für sich und andere? WOLF ist ein meisterhaft beobachtender Kinderroman darüber, wie schmal der Grat zwischen Anderssein und Ausgrenzung ist. - thematisiert Mobbing unter Jugendlichen - ein Buch über Freundschaft, Empathie und Charakterbildung - grandios erzählt vom vielfach preisgekrönten Bestseller-Autor SaSa StaniSic
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2023Er kauert am Bett, seine Augen leuchten
Sasa Stanisic zeigt in "Wolf", wie man zum Außenseiter gemacht wird
Kemi lehnt die Natur ab. Bäume findet er "nur als Schrank super". Und über Abenteuer liest er lieber, als selbst welche zu erleben. Auf keinen Fall will er in das Ferienlager, für das seine Mutter ihn angemeldet hat. Er hat keine Lust auf Klopapierfetzen, die an dreckigen Fliesen kleben, auf Mücken, verkohlte Kartoffeln und schon gar nicht auf seine Mitschüler. Lieber würde er mit Erwachsenen über die Börse reden. Aber er versteht, dass seine Mutter Zeit für sich braucht. Also fährt Kemi mit und landet wie erwartet in einer "Aktivitätenhölle" aus Basteln, Nachtwalk, Klettergarten und Wanderung zum Wasserfall. Jeden Bespaßungsversuch der Betreuer durchschaut er und enttarnt das gesamte Ferienprogramm als ausgelagerte Erziehung.
Das Zimmer muss er sich mit dem Außenseiter Jörg teilen. Einige Jungs haben es auf Jörg abgesehen. Sie füllen Salzwasser in seine Trinkflasche, rempeln ihn an und werfen seinen Rucksack in den Schlamm. Kemi beobachtet das alles. Er erkennt, wie sich die Welt um ihn herum in Grüppchen aufteilt, die der Kinder ebenso wie die der Erwachsenen: "Die Ausländereltern stehen zusammen, die Ökos lassen eine Tupperbox mit Radieschen kreisen, die Jacken der Outdoor-Eltern reflektieren sinnlos vor sich hin." Und er erkennt, dass einige, wie Jörg und er selbst, aus diesem Schema rausfallen.
Das Setting wirkt an einigen Stellen aus der Zeit gefallen: der Puddingpokal, der Schmetterling im Marmeladenglas und der Außenseiter mit Zauberwürfel. Aber das Phänomen Mobbing ist zeitlos und Sasa Stanisic fängt es treffend ein. Nicht Anderssein ist das Problem, sondern dass man von anderen anders gemacht wird. Die Gründe dafür sind beliebig. Jörg wird anders gemacht, weil er Jörg heißt oder weil er seine T-Shirts sorgsam faltet. Weil er Segelohren hat oder weil er Sachen wie "Alles paletti!" sagt, die uncool sind, auch wenn niemand erklären könnte, wieso. Jörg könnte auch unauffällig auf einem Stuhl sitzen, und jemand würde fragen: "Wie sitzt du denn?" So zeigt Stanisic auf kluge Weise, wie die Muster von Ausschluss und Gruppenbildung funktionieren, ohne ein Lehrbuch aus der Geschichte der zwei Außenseiter zu machen.
Die Gratwanderung zwischen Realismus und Ermutigung gelingt dem preisgekrönten Autor der Romane "Herkunft" und "Vor dem Fest", indem er den Erzähler Kemi das Erzählen selbst reflektieren lässt. So verkündet Kemi schon auf halber Strecke, dass ein Happy End, in dem sich die Täter entschuldigen und Jörg plötzlich beliebt wird, unrealistisch ist. Das heißt andererseits aber nicht, dass sich diejenigen, die gemobbt werden, mit allem abfinden müssen. Kemis Gedanken über seine Rolle als Erzähler macht deutlich: Das Leben besteht aus Geschichten. Und man kann sich aussuchen, wie man sie erzählt. Man kann sich aussuchen, wen man als Trottel darstellt. Wer die Guten und wer die Bösen sind. Ob man sich selbst zum zynischen, aber sympathischen Besserwisser macht und den Zimmernachbarn zum Mobbingopfer. Ob man einen Hirsch namens Dietmar vorkommen lässt oder einen Wolf.
Der titelgebende Wolf taucht mal in der Nacht auf, mal am Tag. Nachts heult er und kauert am Bettende mit leuchtenden gelben Augen. Er will etwas. Aber was? Will er, dass man sich wehrt oder dass man ihn ignoriert? Wie kann man den Wolf vertreiben? Oder sollte man ihm die Tür öffnen, damit er sich auf den Fußboden legt und einen bewacht?
Der Wolf ist hier nicht einfach eine Metapher für das Mobbing. Er ist da, um die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu verwischen. Das Spiel mit der Phantasie führt dem Leser vor Augen, dass die Realität nicht in Stein gemeißelt ist. Die einfühlsamen Illustrationen von Regina Kehn verstärken diese Botschaft. Man muss sich seiner Geschichte nicht ergeben.
Das gilt für beide Außenseiter: Kemi kann entweder als einsamer, stolzer Wolf jeden Spaß im Rudel verteufeln. Oder er kann zugeben, dass einige Aktivitäten gar nicht so blöd sind und dass er sich insgeheim freut, als Jörg ihm einen Gelbwürfeligen Dickkopffalter fängt. Man kann seine Geschichte auch in die Hand nehmen, indem man das Tablett auf den Boden knallt. Das tut Jörg, als ihm alles zu viel wird. Danach ist es still. Diese Stille, nachdem man etwas Wichtiges gesagt hat, nachdem man all die Wut rausgelassen hat, die man immer heruntergeschluckt hat, diese Stille gehört dann nur einem selbst. HELENA SCHÄFER
Sasa Stanisic: "Wolf". Roman.
Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen Verlag, Hamburg 2023. 192 S., geb, 14,- Euro. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sasa Stanisic zeigt in "Wolf", wie man zum Außenseiter gemacht wird
Kemi lehnt die Natur ab. Bäume findet er "nur als Schrank super". Und über Abenteuer liest er lieber, als selbst welche zu erleben. Auf keinen Fall will er in das Ferienlager, für das seine Mutter ihn angemeldet hat. Er hat keine Lust auf Klopapierfetzen, die an dreckigen Fliesen kleben, auf Mücken, verkohlte Kartoffeln und schon gar nicht auf seine Mitschüler. Lieber würde er mit Erwachsenen über die Börse reden. Aber er versteht, dass seine Mutter Zeit für sich braucht. Also fährt Kemi mit und landet wie erwartet in einer "Aktivitätenhölle" aus Basteln, Nachtwalk, Klettergarten und Wanderung zum Wasserfall. Jeden Bespaßungsversuch der Betreuer durchschaut er und enttarnt das gesamte Ferienprogramm als ausgelagerte Erziehung.
Das Zimmer muss er sich mit dem Außenseiter Jörg teilen. Einige Jungs haben es auf Jörg abgesehen. Sie füllen Salzwasser in seine Trinkflasche, rempeln ihn an und werfen seinen Rucksack in den Schlamm. Kemi beobachtet das alles. Er erkennt, wie sich die Welt um ihn herum in Grüppchen aufteilt, die der Kinder ebenso wie die der Erwachsenen: "Die Ausländereltern stehen zusammen, die Ökos lassen eine Tupperbox mit Radieschen kreisen, die Jacken der Outdoor-Eltern reflektieren sinnlos vor sich hin." Und er erkennt, dass einige, wie Jörg und er selbst, aus diesem Schema rausfallen.
Das Setting wirkt an einigen Stellen aus der Zeit gefallen: der Puddingpokal, der Schmetterling im Marmeladenglas und der Außenseiter mit Zauberwürfel. Aber das Phänomen Mobbing ist zeitlos und Sasa Stanisic fängt es treffend ein. Nicht Anderssein ist das Problem, sondern dass man von anderen anders gemacht wird. Die Gründe dafür sind beliebig. Jörg wird anders gemacht, weil er Jörg heißt oder weil er seine T-Shirts sorgsam faltet. Weil er Segelohren hat oder weil er Sachen wie "Alles paletti!" sagt, die uncool sind, auch wenn niemand erklären könnte, wieso. Jörg könnte auch unauffällig auf einem Stuhl sitzen, und jemand würde fragen: "Wie sitzt du denn?" So zeigt Stanisic auf kluge Weise, wie die Muster von Ausschluss und Gruppenbildung funktionieren, ohne ein Lehrbuch aus der Geschichte der zwei Außenseiter zu machen.
Die Gratwanderung zwischen Realismus und Ermutigung gelingt dem preisgekrönten Autor der Romane "Herkunft" und "Vor dem Fest", indem er den Erzähler Kemi das Erzählen selbst reflektieren lässt. So verkündet Kemi schon auf halber Strecke, dass ein Happy End, in dem sich die Täter entschuldigen und Jörg plötzlich beliebt wird, unrealistisch ist. Das heißt andererseits aber nicht, dass sich diejenigen, die gemobbt werden, mit allem abfinden müssen. Kemis Gedanken über seine Rolle als Erzähler macht deutlich: Das Leben besteht aus Geschichten. Und man kann sich aussuchen, wie man sie erzählt. Man kann sich aussuchen, wen man als Trottel darstellt. Wer die Guten und wer die Bösen sind. Ob man sich selbst zum zynischen, aber sympathischen Besserwisser macht und den Zimmernachbarn zum Mobbingopfer. Ob man einen Hirsch namens Dietmar vorkommen lässt oder einen Wolf.
Der titelgebende Wolf taucht mal in der Nacht auf, mal am Tag. Nachts heult er und kauert am Bettende mit leuchtenden gelben Augen. Er will etwas. Aber was? Will er, dass man sich wehrt oder dass man ihn ignoriert? Wie kann man den Wolf vertreiben? Oder sollte man ihm die Tür öffnen, damit er sich auf den Fußboden legt und einen bewacht?
Der Wolf ist hier nicht einfach eine Metapher für das Mobbing. Er ist da, um die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu verwischen. Das Spiel mit der Phantasie führt dem Leser vor Augen, dass die Realität nicht in Stein gemeißelt ist. Die einfühlsamen Illustrationen von Regina Kehn verstärken diese Botschaft. Man muss sich seiner Geschichte nicht ergeben.
Das gilt für beide Außenseiter: Kemi kann entweder als einsamer, stolzer Wolf jeden Spaß im Rudel verteufeln. Oder er kann zugeben, dass einige Aktivitäten gar nicht so blöd sind und dass er sich insgeheim freut, als Jörg ihm einen Gelbwürfeligen Dickkopffalter fängt. Man kann seine Geschichte auch in die Hand nehmen, indem man das Tablett auf den Boden knallt. Das tut Jörg, als ihm alles zu viel wird. Danach ist es still. Diese Stille, nachdem man etwas Wichtiges gesagt hat, nachdem man all die Wut rausgelassen hat, die man immer heruntergeschluckt hat, diese Stille gehört dann nur einem selbst. HELENA SCHÄFER
Sasa Stanisic: "Wolf". Roman.
Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen Verlag, Hamburg 2023. 192 S., geb, 14,- Euro. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Cornelia Geißler erlebt lustige und beunruhigende Momente in diesem Kinderbuch von Sasa Stanisic, das von Ferien im Zeltlager erzählt, aber mehr noch vom Anderssein. Oder , wie es das Ich dieser Erzählung sagen würdet:vom Andersigsein. Die Rezensentin tut sich nicht leicht damit, die Geschichte nachzuerzählen, weil sie die Pointe nicht verraten möchte. Aber sie versichert, dass es sich bei "Wolf" keineswegs um eine Tiergeschichte handelt, sondern um ein wirklich "sehr gutes" Kinderbuch. Die Illustration von Regina Kehn gefallen Geißler auch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.05.2023Sag niemals „Pustekuchen“
Der neue Kinderroman von Saša Stanišić erzählt von Mobbing und Selbstermächtigung.
Vor allem ist „Wolf“ ein Loblied aufs Anderssein
VON CHRISTINE KNÖDLER
Wenn Saša Stanišić, vielfach ausgezeichneter Autor von belletristischen Romanen wie „Herkunft“, „Vor dem Fest“ und „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ einen Kinderroman schreibt, sind die Erwartungen hoch. Wie macht er das? Macht er was anders? Flucht oder Zuflucht in Geschichten und Erinnerungen ist wiederkehrendes Motiv seines poetischen, pointiert komischen Erzählens für Erwachsene. 2021 hat er mit seinem Kinderbuchdebüt „Hey, hey, hey, Taxi!“ ein Fest der Geschichtenanfänge hingelegt: Taxifahrten werden zum Auftakt abgefahrener Abenteuer, Kinder können sie als Sprungbrett nutzen, um selbst weiterzuerzählen. Der Ruf nach dem Taxi als Lockruf ins Reich der Fantasie.
Auch in „Wolf“ ist das so. Kemi, bis zum Schluss des Buchs namenloser Ich-Erzähler, ist Worte-Erfinder und Geschichten-Ausdenker. Er beschäftigt sich mit der Wirkung von Wörtern. „Übrigens“ hat es diesbezüglich in sich: „Sätze, die meine Mutter mit „übrigens“ beginnt, enden nicht gut für mich“, weiß Kemi. Und weil in diesem Roman jedes Wort sitzt und jedes Wort zählt, braucht es keine fünf Zeilen, bis „übrigens“ im Raum steht und bewirkt, dass Kemi ins Ferienlager muss. Als überzeugter Einzelgänger lehnt er alles Gruppengedöns ab, noch blöder findet er die Natur, Bäume mag er „nur als Schrank“, Kinder mag er nur aus der Ferne. Und jetzt ist er ausgerechnet allein unter Bäumen? Allein unter Kindern? Fährt er eben seinen bewährten Verweigerungskurs weiter und erweist sich dabei als unbestechlicher Beobachter und bissiger Kommentator, knapp im Ton und sehr witzig: Nicht nur der Autor, auch seine Hauptfigur weiß eben, wie Geschichtenerzählen geht.
Also ab ins Ferienlager. Die ganze Klasse fährt mit, damit sind die Rollen verteilt. Es gibt die Freundlichen, die Harmlosen, die mit und ohne Heimweh. Es gibt Benisha – Kemi mag sie sehr. Es gibt den fiesen Marko und sein Gefolge. Es gibt die Betreuer, die sich als Nicht-Betreuer erweisen: Der Wald ist voller schräger Stanišićscher Figuren und ihren Geschichten, der eine oder andere Hirsch springt ebenfalls durch den Wald. Kemi denkt ihn sich aus. Sehr real sind hingegen die Mücken und Zecken. Es gibt weiterhin den großen und großartigen tätowierten Koch, der sich als einer der wenigen Erwachsenen um die Kinder kümmern wird. Es gibt die durchgeknallte Försterin Beate, die ganz am Ende allen noch die Naturschutz-Leviten lesen wird. Und es gibt Jörg.
Und damit fängt die eigentliche Geschichte an. Denn Jörg, Zauberwürfel-Meister, Zeichenkünstler, auf fast altmodische Art liebenswürdig und begeisterungsfähig, mit großem Herzen und sehr großen Ohren, ruft die Markos dieser Welt auf den Plan. Das Repertoire der Quälereien ist bekannt: hinterrücks drangsalieren, ausgrenzen, Angst machen, schubsen, Rucksack in den Dreck schmeißen, das Leben versauen. So funktioniert Mobbing. Übrigens. Kemi durchschaut das alles ganz genau. Aber er sagt nichts. Nur wenn Jörg wieder Wörter benutzt wie „Pustekuchen“ oder „Pfoten waschen“, würde er ihm gern sagen: Sag das nicht! Weil, wer so spricht, endgültig im Aus landet. Was er stattdessen sagt: „Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du?“
„Andersiger“ ist ein typisches Kemi-Wort. Ein bisschen unverständlich, aber unbedingt wert, sich selbst einen Reim darauf zu machen. Auch in seinen Sätzen kämpft er sich, wie durchs Dickicht eines Waldes, immer weiter zum Eigentlichen vor. Dann schlägt die Stunde des Wolfs. Mit seinen grässlichen Zähnen, seinem stinkenden Atem und seinen gelb glimmenden Augen sucht er Kemi nachts heim. Er macht ihm Angst. Wenn der
Wolf auftritt, ändert sich übrigens der Ton. Nichts ist mehr witzig, die Worte werden atemloser, denn der Wolf ist Kemis Angst.
Die Hamburger Illustratorin Regina Kehn pflanzt diesen Wolf dachsprengend in die Hütte, die Kemi und Jörg sich teilen. Nicht nur die Augen – der ganze Wolf ist gelb. Statt Spucke tropft die Glühbirne aus dem Maul. Das ist unheimlich und bedrohlich. Das Stockbett umschlingt er, unten schläft Jörg, oben panikt Kelim. Was der nicht wissen kann: Auch Jörg kennt den Wolf. Und es sind genau diese poetischen Zuspitzungen in Worten und Bildern, die es schaffen, dass „Wolf“ vieles zugleich sein kann: Mobbing-, Ferien-, Freundschaftsgeschichte, eine Geschichte vom Ausgrenzen und Zusammenhalten, von Mutlosigkeit, Mut, Wut, Veränderung, Selbstermächtigung und von einer großen, kostbaren Erkenntnis: Andersiger wird man gemacht, anders, mithin eigen sein, selbst sein, sollte man unbedingt wollen. Und zwar als Jörg, Marko, Wolf, Beate, Kemi. Und als Kinderroman.
Übrigens: Dass Kemi Kemi heißt, verrät er tatsächlich erst im letzten Satz. Hat er sich bei Beate abgeschaut. Es ist cool, den eigenen Namen erst am Ende des Auftritts zu verraten: umwerfend andersig!
Anders sollte man unbedingt
sein wollen, „andersiger“
hingegen wird man gemacht
Saša Stanišić: Wolf. Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen Verlag, Hamburg 2023. 192 Seiten. 14 Euro. Ab 11 Jahren.
Macht Saša Stanišić als Kinderbuchautor etwas anders? Foto: Imago
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Der neue Kinderroman von Saša Stanišić erzählt von Mobbing und Selbstermächtigung.
Vor allem ist „Wolf“ ein Loblied aufs Anderssein
VON CHRISTINE KNÖDLER
Wenn Saša Stanišić, vielfach ausgezeichneter Autor von belletristischen Romanen wie „Herkunft“, „Vor dem Fest“ und „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ einen Kinderroman schreibt, sind die Erwartungen hoch. Wie macht er das? Macht er was anders? Flucht oder Zuflucht in Geschichten und Erinnerungen ist wiederkehrendes Motiv seines poetischen, pointiert komischen Erzählens für Erwachsene. 2021 hat er mit seinem Kinderbuchdebüt „Hey, hey, hey, Taxi!“ ein Fest der Geschichtenanfänge hingelegt: Taxifahrten werden zum Auftakt abgefahrener Abenteuer, Kinder können sie als Sprungbrett nutzen, um selbst weiterzuerzählen. Der Ruf nach dem Taxi als Lockruf ins Reich der Fantasie.
Auch in „Wolf“ ist das so. Kemi, bis zum Schluss des Buchs namenloser Ich-Erzähler, ist Worte-Erfinder und Geschichten-Ausdenker. Er beschäftigt sich mit der Wirkung von Wörtern. „Übrigens“ hat es diesbezüglich in sich: „Sätze, die meine Mutter mit „übrigens“ beginnt, enden nicht gut für mich“, weiß Kemi. Und weil in diesem Roman jedes Wort sitzt und jedes Wort zählt, braucht es keine fünf Zeilen, bis „übrigens“ im Raum steht und bewirkt, dass Kemi ins Ferienlager muss. Als überzeugter Einzelgänger lehnt er alles Gruppengedöns ab, noch blöder findet er die Natur, Bäume mag er „nur als Schrank“, Kinder mag er nur aus der Ferne. Und jetzt ist er ausgerechnet allein unter Bäumen? Allein unter Kindern? Fährt er eben seinen bewährten Verweigerungskurs weiter und erweist sich dabei als unbestechlicher Beobachter und bissiger Kommentator, knapp im Ton und sehr witzig: Nicht nur der Autor, auch seine Hauptfigur weiß eben, wie Geschichtenerzählen geht.
Also ab ins Ferienlager. Die ganze Klasse fährt mit, damit sind die Rollen verteilt. Es gibt die Freundlichen, die Harmlosen, die mit und ohne Heimweh. Es gibt Benisha – Kemi mag sie sehr. Es gibt den fiesen Marko und sein Gefolge. Es gibt die Betreuer, die sich als Nicht-Betreuer erweisen: Der Wald ist voller schräger Stanišićscher Figuren und ihren Geschichten, der eine oder andere Hirsch springt ebenfalls durch den Wald. Kemi denkt ihn sich aus. Sehr real sind hingegen die Mücken und Zecken. Es gibt weiterhin den großen und großartigen tätowierten Koch, der sich als einer der wenigen Erwachsenen um die Kinder kümmern wird. Es gibt die durchgeknallte Försterin Beate, die ganz am Ende allen noch die Naturschutz-Leviten lesen wird. Und es gibt Jörg.
Und damit fängt die eigentliche Geschichte an. Denn Jörg, Zauberwürfel-Meister, Zeichenkünstler, auf fast altmodische Art liebenswürdig und begeisterungsfähig, mit großem Herzen und sehr großen Ohren, ruft die Markos dieser Welt auf den Plan. Das Repertoire der Quälereien ist bekannt: hinterrücks drangsalieren, ausgrenzen, Angst machen, schubsen, Rucksack in den Dreck schmeißen, das Leben versauen. So funktioniert Mobbing. Übrigens. Kemi durchschaut das alles ganz genau. Aber er sagt nichts. Nur wenn Jörg wieder Wörter benutzt wie „Pustekuchen“ oder „Pfoten waschen“, würde er ihm gern sagen: Sag das nicht! Weil, wer so spricht, endgültig im Aus landet. Was er stattdessen sagt: „Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du?“
„Andersiger“ ist ein typisches Kemi-Wort. Ein bisschen unverständlich, aber unbedingt wert, sich selbst einen Reim darauf zu machen. Auch in seinen Sätzen kämpft er sich, wie durchs Dickicht eines Waldes, immer weiter zum Eigentlichen vor. Dann schlägt die Stunde des Wolfs. Mit seinen grässlichen Zähnen, seinem stinkenden Atem und seinen gelb glimmenden Augen sucht er Kemi nachts heim. Er macht ihm Angst. Wenn der
Wolf auftritt, ändert sich übrigens der Ton. Nichts ist mehr witzig, die Worte werden atemloser, denn der Wolf ist Kemis Angst.
Die Hamburger Illustratorin Regina Kehn pflanzt diesen Wolf dachsprengend in die Hütte, die Kemi und Jörg sich teilen. Nicht nur die Augen – der ganze Wolf ist gelb. Statt Spucke tropft die Glühbirne aus dem Maul. Das ist unheimlich und bedrohlich. Das Stockbett umschlingt er, unten schläft Jörg, oben panikt Kelim. Was der nicht wissen kann: Auch Jörg kennt den Wolf. Und es sind genau diese poetischen Zuspitzungen in Worten und Bildern, die es schaffen, dass „Wolf“ vieles zugleich sein kann: Mobbing-, Ferien-, Freundschaftsgeschichte, eine Geschichte vom Ausgrenzen und Zusammenhalten, von Mutlosigkeit, Mut, Wut, Veränderung, Selbstermächtigung und von einer großen, kostbaren Erkenntnis: Andersiger wird man gemacht, anders, mithin eigen sein, selbst sein, sollte man unbedingt wollen. Und zwar als Jörg, Marko, Wolf, Beate, Kemi. Und als Kinderroman.
Übrigens: Dass Kemi Kemi heißt, verrät er tatsächlich erst im letzten Satz. Hat er sich bei Beate abgeschaut. Es ist cool, den eigenen Namen erst am Ende des Auftritts zu verraten: umwerfend andersig!
Anders sollte man unbedingt
sein wollen, „andersiger“
hingegen wird man gemacht
Saša Stanišić: Wolf. Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen Verlag, Hamburg 2023. 192 Seiten. 14 Euro. Ab 11 Jahren.
Macht Saša Stanišić als Kinderbuchautor etwas anders? Foto: Imago
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"Stanisic hat eine Sprache für Fast-Teenager, [...], gefunden, die ehrlicher und einfallsreicher nicht sein könnte." Susanne Baller STERN 20231215