Nach einem Verkehrsunfall erwacht Dominika aus dem Koma, umsorgt von ihrer Mutter und Grażynka Rozpuch, einer alten Familienfreundin, die ihr den Platz in der Spezialklinik bei München verschafft hat. Statt nach Polen zurückzukehren, bricht Dominika, von Fernweh getrieben, ins Ungewisse auf, lebt als Fotografin unter Emigranten in New York und London, bis sie eines Tages den Ort findet, an dem sie bleiben will. Hineingewoben in diese weibliche Odyssee ist die Geschichte Grażynkas, die vor dem Krieg als Findelkind von einem Frauenpaar, den »Teetanten«, aufgezogen wird. Als die SS im Städtchen die polnische Bevölkerung deportiert, gelingt es den Teetanten, das Kind in die Obhut einer Nonne zu geben. Aus dem KZ zurückgekehrt, sehen sie, wie ihre Nachbarn sich um die Besitztümer der verschwundenen jüdischen Familien streiten. Und von Grażynka keine Spur… Zeiten und Erzählebenen kunstvoll verknüpfend, rollt Joanna Bator ein großes Panorama aus, das sich über Kontinente und ein ganzes Jahrhundert erstreckt. Wolkenfern ist ein Roman über Fremdheit und Heimatsuche. Vor allem aber handelt er von den vielgestaltigen Beziehungen zwischen Frauen − atemberaubend kühn, in einer sinnlichen, mitreißenden Sprache. Wolkenfern ist ein literarisches Schwergewicht, ein Buch, das auch emotional tief berührt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, F, L, I ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2013Ein Nachttopf
voller Geschichten
Joanna Bators Familienroman „Wolkenfern“ ist ein
abgründig-komisches Jahrhundertpanorama
Kamiensk ist ein Kaff in der Mitte Polens, aber es hat sich einigen Ruhm erworben, als Napoleon bei seiner Rückkehr aus Russland dort Halt gemacht hat, und zwar in der Hütte neben dem Herrenhaus der Mopsinskys. Wie alle auf ihren Ruhm bedachten Feldherren wollte Napoleon in der Nähe seiner Soldaten bleiben. Trotzdem hat er sich den Bewohnern des Herrenhauses besonders eingeprägt, benutzte er doch während seiner Rast einen goldglänzenden Nachttopf mit aufgemalten Blumen und Husaren zu Pferde. Diesen hat die Ururgroßmutter von Antoni Mopsinsky, der inzwischen in den USA das Ende seines Lebens kommen sieht, ihrem Ururenkel vermacht. Lange hatte er den Nachttopf in Ehren gehalten, ihn Besuchern in einer Glasvitrine präsentiert – doch wo ist er hin, dieser Nachttopf? In den Zeitläuften verloren. Mopsinsky geht seinen New Yorker Enkelinnen damit gehörig auf den Geist.
Joanna Bator, 1968 geboren, hat schon mit „Sandberg“, ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman, für Aufsehen gesorgt, weil ihr das Kunststück gelang, die verrottende Platten- und Bergbaurealität Oberschlesiens mit viel Sprachphantasie und doch deutlich milieugetränkt in die Literatur zu bringen. „Wolkenfern“ knüpft direkt an „Sandberg“ an, indem er darin vorkommende Geschichten weitertreibt. Andererseits führt er, weil er den bekannten Figuren folgt, in neue Welten. „Wolkenfern“ spielt nur noch sporadisch in Pjaskowa Gora, einem Vorort von Walbryzych, deutsch Sandberg, in dem Joanna Bator geboren wurde. Bloß Jadzia, die sentimentale Kraftnudel jüdischer Herkunft mit einem Hang zur Hygiene, aber auch treuherzige Mutter der Heldin Dominika und Witwe des einst dem Kommunismus verfallenen Bergarbeiters Stefan Chmurra, ist in Pjaskowa Gora wohnen geblieben.
Doch gleich zum Auftakt von „Wolkenfern“ muss auch Jadzia weg. Die 18-jährige Dominika hatte einen schweren Autounfall und ist mit Hilfe der routiniert männerbetörenden Grazynka, die einen deutschen Hans geheiratet hat und bei München lebt, ins ferne Krankenhaus von Mehrholtz gebracht worden. Dominika liegt im Koma, und die Chancen stehen schlecht. Gepflegt wird sie von Sara, zu Jadzias Schock einer deutschen Schwarzen, „die einen dreimal so dicken Hintern hat wie ich“, denkt Jadzia, was etwas heißen will.
Wieder erzählt Bator aus unterschiedlicher, aber jeweils klar definierter Perspektive. Mal ist es Dominika, die sich wieder erholt und weiterhin ein ihrer Mutter tief unheimliches, unruhiges Leben führt, das sie bis nach London und auf eine kleine griechische Insel führt; mal ist es Jadzia selbst, die zeitweilig zur Hauptfigur des Textes wird und am Ende auch auf der kleinen griechischen Insel landet. In gewisser Weise bleibt also alles beim Alten, doch mit dem Wechsel des zentralen Handlungsortes tut sich dennoch Entscheidendes. Man merkt, wie wichtig die Attraktion „Schauplatz“ ist, gerade innerhalb des realistischen Romans. Durch den weitgehenden Wegfall des Bergbau-Settings scheint Bators neues Buch zunächst an wiedererkennbarer Originalität einzubüßen. Aber dem wirkt sie entgegen, indem sie Figuren aus „Sandberg“ im neuen Roman auftreten lässt.
Die männerverbrauchende Grazynka ist in eben jener Mopsinsky-Hütte geboren, in der Napoleon, den Polen schon vom Namen her nah, den Nachttopf gewürdigt hat, der zum wichtigsten Motiv des ganzen Buches wird. Eine gelungen satirische Variante der derzeitigen Mode, Dinge ins Zentrum eines belletristischen Texts zu stellen und ihrer Spur durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Sei es dem Schreibtisch von Nicole Krauss oder den winzigen japanischen Porzellanfiguren Edmund de Waals.
Wieder begeistert Bator, von Esther Kinsky in ein prächtiges Deutsch übersetzt, durch eine ausgesuchte Metaphorik. Sehr schön etwa der „verkaterte Andrew Mopsinsky, dem die Zunge wie ein verschimmelter Brotkanten im Mund liegt“ oder, einfacher und dem polnischen Kollegen Stasiuk verwandt: Grazynka wurde „im Morgendämmer eines Märztages zur Welt“ gebracht, „als die erste Woge grauen Lichts von Kleszczowa her die Grenze von Kamiensk erreichte“. Einem Ort, der folgendermaßen eingeführt wird: „Dieses mikroskopisch kleine Städtchen, das man ohne weiteres für ein Dorf halten könnte, lag wie ein Hühnerdreck auf der Schnittstelle der Straßen zu viel bedeutenderen Orten.“
Trotzdem braucht es diesmal eine Weile, bis Bator so richtig auf Touren kommt. Ein Höhepunkt ist das Ende des üblen Zeitgenossen Tadeusz Kruk, etwa in der Mitte des Buches. Kruk ist einer der Friseure, die den Frauen im KZ die Haare abschneiden müssen, auch die Schamhaare. Statt sich, wie Kollegen, davon materielle oder sonstige Vorteile zu erhoffen, weidet sich Kruk am Odium der Angst, das die Frauen bei der entwürdigenden Zeremonie umgibt: „Sie waren zu zwölft, und zwölf Schemel standen bereit, auf denen die Frauen so standen, dass sich die Friseure beim Rasieren ihrer Schamhaare nicht bücken mussten.“
Das ist unschön, aber Kruk, der sich für Grazynka interessiert, büßt dafür. Als er bei den zwei Tanten vorstellig wird, die Grazynka nach der Emigration der Mopsinskys behüten, wird er von ihnen genüsslich langsam mit einem Likör umgebracht, in dem sich Mottengift befindet. Kruks ekstatisches, in immer verklärtere Gift-Halluzinationen führendes Ende ist aber nur der erste Glanzpunkt dieses Kapitels. Der zweite besteht darin, wie Bator mit den beiden Mörderinnen verfährt.
Es ist Winter, aber die Tanten haben den Schnee vorsorglich geräumt, damit sie das Fass, in das sie Kruk verpacken, den Hügel hinab ins Flüsschen rollen lassen können, auf dass der Friseur irgendwann die Ostsee erreicht. Schon das ist eine tolle Idee. Doch das Fass bleibt im Eis stecken. Die beiden ältlichen Tanten müssen ihm nach. Mühselig arbeiten sie an der Befreiung, die gelingt. Doch während sie arbeiten, löst sich das Eis, auf dem sie stehen, und die Tanten, die nicht schwimmen können, treiben dem Fass hinterher. Womit in diesem Buch, das geradezu verdächtig viele heiligmächtig beeindruckende Frauen und schwächliche Männer kennt, endlich auch zwei Frauen ihre verdiente Strafe finden. Doch das führt in diesem abgründig vergnüglichen Roman nur zu weiteren Strudeln immer neuer, überraschender Einfälle.
HANS-PETER KUNISCH
Das neue Buch knüpft direkt
an den ersten ins Deutsche
übersetzten Roman der Polin an
Ob schwache Männer oder
starke Frauen – alle finden hier
ihr verdientes Strafgericht
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
voller Geschichten
Joanna Bators Familienroman „Wolkenfern“ ist ein
abgründig-komisches Jahrhundertpanorama
Kamiensk ist ein Kaff in der Mitte Polens, aber es hat sich einigen Ruhm erworben, als Napoleon bei seiner Rückkehr aus Russland dort Halt gemacht hat, und zwar in der Hütte neben dem Herrenhaus der Mopsinskys. Wie alle auf ihren Ruhm bedachten Feldherren wollte Napoleon in der Nähe seiner Soldaten bleiben. Trotzdem hat er sich den Bewohnern des Herrenhauses besonders eingeprägt, benutzte er doch während seiner Rast einen goldglänzenden Nachttopf mit aufgemalten Blumen und Husaren zu Pferde. Diesen hat die Ururgroßmutter von Antoni Mopsinsky, der inzwischen in den USA das Ende seines Lebens kommen sieht, ihrem Ururenkel vermacht. Lange hatte er den Nachttopf in Ehren gehalten, ihn Besuchern in einer Glasvitrine präsentiert – doch wo ist er hin, dieser Nachttopf? In den Zeitläuften verloren. Mopsinsky geht seinen New Yorker Enkelinnen damit gehörig auf den Geist.
Joanna Bator, 1968 geboren, hat schon mit „Sandberg“, ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman, für Aufsehen gesorgt, weil ihr das Kunststück gelang, die verrottende Platten- und Bergbaurealität Oberschlesiens mit viel Sprachphantasie und doch deutlich milieugetränkt in die Literatur zu bringen. „Wolkenfern“ knüpft direkt an „Sandberg“ an, indem er darin vorkommende Geschichten weitertreibt. Andererseits führt er, weil er den bekannten Figuren folgt, in neue Welten. „Wolkenfern“ spielt nur noch sporadisch in Pjaskowa Gora, einem Vorort von Walbryzych, deutsch Sandberg, in dem Joanna Bator geboren wurde. Bloß Jadzia, die sentimentale Kraftnudel jüdischer Herkunft mit einem Hang zur Hygiene, aber auch treuherzige Mutter der Heldin Dominika und Witwe des einst dem Kommunismus verfallenen Bergarbeiters Stefan Chmurra, ist in Pjaskowa Gora wohnen geblieben.
Doch gleich zum Auftakt von „Wolkenfern“ muss auch Jadzia weg. Die 18-jährige Dominika hatte einen schweren Autounfall und ist mit Hilfe der routiniert männerbetörenden Grazynka, die einen deutschen Hans geheiratet hat und bei München lebt, ins ferne Krankenhaus von Mehrholtz gebracht worden. Dominika liegt im Koma, und die Chancen stehen schlecht. Gepflegt wird sie von Sara, zu Jadzias Schock einer deutschen Schwarzen, „die einen dreimal so dicken Hintern hat wie ich“, denkt Jadzia, was etwas heißen will.
Wieder erzählt Bator aus unterschiedlicher, aber jeweils klar definierter Perspektive. Mal ist es Dominika, die sich wieder erholt und weiterhin ein ihrer Mutter tief unheimliches, unruhiges Leben führt, das sie bis nach London und auf eine kleine griechische Insel führt; mal ist es Jadzia selbst, die zeitweilig zur Hauptfigur des Textes wird und am Ende auch auf der kleinen griechischen Insel landet. In gewisser Weise bleibt also alles beim Alten, doch mit dem Wechsel des zentralen Handlungsortes tut sich dennoch Entscheidendes. Man merkt, wie wichtig die Attraktion „Schauplatz“ ist, gerade innerhalb des realistischen Romans. Durch den weitgehenden Wegfall des Bergbau-Settings scheint Bators neues Buch zunächst an wiedererkennbarer Originalität einzubüßen. Aber dem wirkt sie entgegen, indem sie Figuren aus „Sandberg“ im neuen Roman auftreten lässt.
Die männerverbrauchende Grazynka ist in eben jener Mopsinsky-Hütte geboren, in der Napoleon, den Polen schon vom Namen her nah, den Nachttopf gewürdigt hat, der zum wichtigsten Motiv des ganzen Buches wird. Eine gelungen satirische Variante der derzeitigen Mode, Dinge ins Zentrum eines belletristischen Texts zu stellen und ihrer Spur durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Sei es dem Schreibtisch von Nicole Krauss oder den winzigen japanischen Porzellanfiguren Edmund de Waals.
Wieder begeistert Bator, von Esther Kinsky in ein prächtiges Deutsch übersetzt, durch eine ausgesuchte Metaphorik. Sehr schön etwa der „verkaterte Andrew Mopsinsky, dem die Zunge wie ein verschimmelter Brotkanten im Mund liegt“ oder, einfacher und dem polnischen Kollegen Stasiuk verwandt: Grazynka wurde „im Morgendämmer eines Märztages zur Welt“ gebracht, „als die erste Woge grauen Lichts von Kleszczowa her die Grenze von Kamiensk erreichte“. Einem Ort, der folgendermaßen eingeführt wird: „Dieses mikroskopisch kleine Städtchen, das man ohne weiteres für ein Dorf halten könnte, lag wie ein Hühnerdreck auf der Schnittstelle der Straßen zu viel bedeutenderen Orten.“
Trotzdem braucht es diesmal eine Weile, bis Bator so richtig auf Touren kommt. Ein Höhepunkt ist das Ende des üblen Zeitgenossen Tadeusz Kruk, etwa in der Mitte des Buches. Kruk ist einer der Friseure, die den Frauen im KZ die Haare abschneiden müssen, auch die Schamhaare. Statt sich, wie Kollegen, davon materielle oder sonstige Vorteile zu erhoffen, weidet sich Kruk am Odium der Angst, das die Frauen bei der entwürdigenden Zeremonie umgibt: „Sie waren zu zwölft, und zwölf Schemel standen bereit, auf denen die Frauen so standen, dass sich die Friseure beim Rasieren ihrer Schamhaare nicht bücken mussten.“
Das ist unschön, aber Kruk, der sich für Grazynka interessiert, büßt dafür. Als er bei den zwei Tanten vorstellig wird, die Grazynka nach der Emigration der Mopsinskys behüten, wird er von ihnen genüsslich langsam mit einem Likör umgebracht, in dem sich Mottengift befindet. Kruks ekstatisches, in immer verklärtere Gift-Halluzinationen führendes Ende ist aber nur der erste Glanzpunkt dieses Kapitels. Der zweite besteht darin, wie Bator mit den beiden Mörderinnen verfährt.
Es ist Winter, aber die Tanten haben den Schnee vorsorglich geräumt, damit sie das Fass, in das sie Kruk verpacken, den Hügel hinab ins Flüsschen rollen lassen können, auf dass der Friseur irgendwann die Ostsee erreicht. Schon das ist eine tolle Idee. Doch das Fass bleibt im Eis stecken. Die beiden ältlichen Tanten müssen ihm nach. Mühselig arbeiten sie an der Befreiung, die gelingt. Doch während sie arbeiten, löst sich das Eis, auf dem sie stehen, und die Tanten, die nicht schwimmen können, treiben dem Fass hinterher. Womit in diesem Buch, das geradezu verdächtig viele heiligmächtig beeindruckende Frauen und schwächliche Männer kennt, endlich auch zwei Frauen ihre verdiente Strafe finden. Doch das führt in diesem abgründig vergnüglichen Roman nur zu weiteren Strudeln immer neuer, überraschender Einfälle.
HANS-PETER KUNISCH
Das neue Buch knüpft direkt
an den ersten ins Deutsche
übersetzten Roman der Polin an
Ob schwache Männer oder
starke Frauen – alle finden hier
ihr verdientes Strafgericht
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Begeistert hat Rezensent Ulrich M. Schmidt Joanna Bators Roman "Wolkenfern" gelesen, der als Nachfolger von "Sandberg" konzipiert worden ist, aber auch ohne die Kenntnis des Vorgängerwerks gelesen werden kann. Schwärmerisch zieht der Kritiker Vergleiche etwa zu Gabriel Garcia Marquez' magischem Realismus oder zu den psychedelisch-surrealistischen Erzählungen Haruki Murakamis. Insbesondere aber staunt der Rezensent, wie exzellent es Bator gelingt, das Schicksal ihrer Protagonistin mit den Ereignissen in Polen nach dem zweiten Weltkrieg und Homers "Odyssee" zu verbinden. Darüber hinaus bewundert Schmidt den Mut der Autorin, in ihrem Heimatland, Polen, Tabuthemen wie Homosexualität und Rassismus anzusprechen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2013Napoleons Nachttopf
Ein neuer Streich der polnischen Erfolgsautorin Joanna Bator: "Wolkenfern"
Ohne diesen Ort würde es ihre Bücher gar nicht geben. In ihrer Jugend hatte sie ihn gehasst und fluchtartig verlassen, doch als sie Jahre später in Japan lebte, erschien er ihr aus dieser weiten, so völlig fremden Perspektive plötzlich ganz anders: nicht mehr als die trostlose schlesische Industriestadt, die einst Waldenburg hieß und deren deutsche Vergangenheit abwechselnd abschreckte und als Plattform für gewagte Träume diente, sondern als ein dunkler Zauberort, dessen Geheimnisse nur darauf warteten, entdeckt und erzählt zu werden. Als sie zurückkam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Magie dieses Ortes in Worte fassen konnte und sich in eine Erzählerin verwandelte.
So in etwa muss man sich die schriftstellerischen Anfänge von Joanna Bator und die Vorgeschichte ihres Erstlings "Der Sandberg" vorstellen, eines Romans, der bei seinem Erscheinen in Polen und bald darauf auch im Ausland für Aufsehen sorgte. Vieles war darin erfunden, doch den titelgebenden Handlungsort, diesen Hügel am Rande von Walbrzych, wie die Stadt heute heißt, gibt es wirklich. Wer in kommunistischen Zeiten in die hier entstandene Plattensiedlung ziehen und sich damit den Luxus einer Wohnung mit Zentralheizung und eigenem Bad leisten konnte, galt als Gewinner und genoss allgemeinen Neid. Eine Steigerung war dennoch jederzeit möglich. Es genügte, dass ein Nachbar Besuch aus Westdeutschland bekam und aus dem Opel oder Audi, mit dem dieser vorfuhr, Taschen voller fremder Konsumgüter ausgeladen wurden, und schon waren neue Träume und Sehnsuchtsbilder da. Joanna Bator, 1968 in Walbrzych geboren und jahrelang auf dem Sandberg zu Hause, kann sich an diese Hierarchien im kommunistischen Alltag noch deutlich erinnern. Aber auch an das Gefühl der Enge und Perspektivlosigkeit und an den Fluchtreflex, den die Provinzialität des Ortes und die erstickende Fürsorglichkeit der Mutter gleichermaßen auslösten.
All dies floss in das Debütwerk ein, vor allem in die Geschichte der Hauptfigur, der minderjährigen Dominika, die ein typisches Kind dieser Zeit und gleichzeitig ihre strenge Kritikerin ist. Eine Außenseiterin und Rebellin, der nichts zu entgehen scheint. Sie sieht die Hässlichkeit der Siedlung, die Engstirnigkeit ihrer Bewohner, die sie umgebende Fremdenfeindlichkeit, den offenen Antisemitismus und diesen besonderen Katholizismus konservativer Prägung, der die Weltsicht der Sandberg-Gemeinde bestimmt. Dass sie aus diese Umgebung bald ausreißen wird, ist mehr als sicher. Bators sprachliches Feingefühl, das auch ins Esther Kinskys Übersetzung zur Geltung kommt, und ihre raffinierte Erzählperspektive, in der sich Beobachtungsgabe mit Distanz, Empathie mit Ironie vermischen, lässt jeden Schritt ihrer Hauptfigur plausibel und nachvollziehbar wirken.
Johanna Bator, eine promovierte Kulturwissenschaftlerin, die früher an der Polnischen Akademie der Wissenschaft arbeitete und heute nebenbei an der Polnisch-Japanischen Hochschule für Computertechnik unterrichtet, war bis dahin vor allem durch ihren Essayband "Der japanische Fächer" aufgefallen. Er ist nach einem zweijährigen Japan-Aufenthalt entstanden. Nun avancierte sie mit ihrem Romandebüt zu einer der ausdrucksstärksten Stimmen der neuen polnischen Literatur. Allzu lange begnügte sie sich mit diesem ersten schnellen Erfolg allerdings nicht: Schon ein Jahr später hatte sie ihren Roman "Wolkenfern" fertig, die Fortsetzung der Geschichte Dominikas, die dem Sandberg den Rücken kehrt und, wie einst die Autorin selbst, zu einer Nomadin wird.
Sie wandert nach Deutschland aus, wo sie einen schweren Autounfall erlebt und nach dem Erwachen aus dem Koma endgültig das Reisen zu ihrer Lebensform macht. Die erzählerische Folge ist eine rasante, phantasie- und humorvolle Odyssee durch mehrere Orte, von einem bayerischen Dorf über London und New York bis zu der griechischen Insel Karpathos, wobei Dominika unzählige weitere Figuren begegnen, deren Geschichten sie aufgreift, um sie bald anderswo weiterzuerzählen.
Endlich ist sie keine Außenseiterin mehr, denn sie alle sind wie sie - anders, unkonventionell, unangepasst. Die beiden Teetanten und ihre gemeinsame Ziehtochter Grazyna, die ihre Reize an den deutschen Männern ausprobiert, die schwarze Sara, die das Andenken ihrer Vorfahrin, der sogenannten "Hottentotten-Venus", in Ehren hält, der Frisör Tadeusz Kruk, der seine sadistischen Neigungen in einem Konzentrationslager ausleben durfte, die jüdische Emigrantin Eulalia Barron, die nur für ihre Erinnerung lebt, und viele andere. Selbst Jadzia, Dominikas Mutter, die in "Sandberg" das polnische Matriarchat verkörperte, schafft es, sich neu zu erfinden.
Die Geschichten und Erlebnisse all dieser Figuren greifen ineinander über, oft ohne dass dies den Figuren zu Bewusstsein käme, denn Joanna Bator verknüpft verschiedene Zeitebenen miteinander. So entsteht tatsächlich eine utopische Wolkenreise, eine "Chmurdalia", wie der Roman im Original heißt, denn chmura ist das polnische Wort für Wolke. Und damit niemand daran zweifele, dass es sich hier um ein literarisches Spiel mit vielen nicht ganz ernst gemeinten historischen und mythologischen Anspielungen handelt, lässt sie einen ebenso kostbaren wie heiklen Gegenstand als Leitmotiv fungieren: Napoleons Nachttopf.
Sie verspüre beim Schreiben ein geradezu sinnliches Vergnügen, hat Joanna Bator einmal über sich gesagt. Dieses Vergnügen teilt sich dem Leser unmittelbar mit. In Polen ist mittlerweile ihr dritter Roman erschienen, der ebenso stilsicher und mit exzellentem Sprachgefühl geschrieben ist wie seine beiden Vorläufer. In diesem Herbst hat Joanna Bator in ihrer Heimat den angesehenen Nike-Preis dafür erhalten.
MARTA KIJOWSKA.
Joanna Bator: "Wolkenfern". Roman.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 499 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein neuer Streich der polnischen Erfolgsautorin Joanna Bator: "Wolkenfern"
Ohne diesen Ort würde es ihre Bücher gar nicht geben. In ihrer Jugend hatte sie ihn gehasst und fluchtartig verlassen, doch als sie Jahre später in Japan lebte, erschien er ihr aus dieser weiten, so völlig fremden Perspektive plötzlich ganz anders: nicht mehr als die trostlose schlesische Industriestadt, die einst Waldenburg hieß und deren deutsche Vergangenheit abwechselnd abschreckte und als Plattform für gewagte Träume diente, sondern als ein dunkler Zauberort, dessen Geheimnisse nur darauf warteten, entdeckt und erzählt zu werden. Als sie zurückkam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Magie dieses Ortes in Worte fassen konnte und sich in eine Erzählerin verwandelte.
So in etwa muss man sich die schriftstellerischen Anfänge von Joanna Bator und die Vorgeschichte ihres Erstlings "Der Sandberg" vorstellen, eines Romans, der bei seinem Erscheinen in Polen und bald darauf auch im Ausland für Aufsehen sorgte. Vieles war darin erfunden, doch den titelgebenden Handlungsort, diesen Hügel am Rande von Walbrzych, wie die Stadt heute heißt, gibt es wirklich. Wer in kommunistischen Zeiten in die hier entstandene Plattensiedlung ziehen und sich damit den Luxus einer Wohnung mit Zentralheizung und eigenem Bad leisten konnte, galt als Gewinner und genoss allgemeinen Neid. Eine Steigerung war dennoch jederzeit möglich. Es genügte, dass ein Nachbar Besuch aus Westdeutschland bekam und aus dem Opel oder Audi, mit dem dieser vorfuhr, Taschen voller fremder Konsumgüter ausgeladen wurden, und schon waren neue Träume und Sehnsuchtsbilder da. Joanna Bator, 1968 in Walbrzych geboren und jahrelang auf dem Sandberg zu Hause, kann sich an diese Hierarchien im kommunistischen Alltag noch deutlich erinnern. Aber auch an das Gefühl der Enge und Perspektivlosigkeit und an den Fluchtreflex, den die Provinzialität des Ortes und die erstickende Fürsorglichkeit der Mutter gleichermaßen auslösten.
All dies floss in das Debütwerk ein, vor allem in die Geschichte der Hauptfigur, der minderjährigen Dominika, die ein typisches Kind dieser Zeit und gleichzeitig ihre strenge Kritikerin ist. Eine Außenseiterin und Rebellin, der nichts zu entgehen scheint. Sie sieht die Hässlichkeit der Siedlung, die Engstirnigkeit ihrer Bewohner, die sie umgebende Fremdenfeindlichkeit, den offenen Antisemitismus und diesen besonderen Katholizismus konservativer Prägung, der die Weltsicht der Sandberg-Gemeinde bestimmt. Dass sie aus diese Umgebung bald ausreißen wird, ist mehr als sicher. Bators sprachliches Feingefühl, das auch ins Esther Kinskys Übersetzung zur Geltung kommt, und ihre raffinierte Erzählperspektive, in der sich Beobachtungsgabe mit Distanz, Empathie mit Ironie vermischen, lässt jeden Schritt ihrer Hauptfigur plausibel und nachvollziehbar wirken.
Johanna Bator, eine promovierte Kulturwissenschaftlerin, die früher an der Polnischen Akademie der Wissenschaft arbeitete und heute nebenbei an der Polnisch-Japanischen Hochschule für Computertechnik unterrichtet, war bis dahin vor allem durch ihren Essayband "Der japanische Fächer" aufgefallen. Er ist nach einem zweijährigen Japan-Aufenthalt entstanden. Nun avancierte sie mit ihrem Romandebüt zu einer der ausdrucksstärksten Stimmen der neuen polnischen Literatur. Allzu lange begnügte sie sich mit diesem ersten schnellen Erfolg allerdings nicht: Schon ein Jahr später hatte sie ihren Roman "Wolkenfern" fertig, die Fortsetzung der Geschichte Dominikas, die dem Sandberg den Rücken kehrt und, wie einst die Autorin selbst, zu einer Nomadin wird.
Sie wandert nach Deutschland aus, wo sie einen schweren Autounfall erlebt und nach dem Erwachen aus dem Koma endgültig das Reisen zu ihrer Lebensform macht. Die erzählerische Folge ist eine rasante, phantasie- und humorvolle Odyssee durch mehrere Orte, von einem bayerischen Dorf über London und New York bis zu der griechischen Insel Karpathos, wobei Dominika unzählige weitere Figuren begegnen, deren Geschichten sie aufgreift, um sie bald anderswo weiterzuerzählen.
Endlich ist sie keine Außenseiterin mehr, denn sie alle sind wie sie - anders, unkonventionell, unangepasst. Die beiden Teetanten und ihre gemeinsame Ziehtochter Grazyna, die ihre Reize an den deutschen Männern ausprobiert, die schwarze Sara, die das Andenken ihrer Vorfahrin, der sogenannten "Hottentotten-Venus", in Ehren hält, der Frisör Tadeusz Kruk, der seine sadistischen Neigungen in einem Konzentrationslager ausleben durfte, die jüdische Emigrantin Eulalia Barron, die nur für ihre Erinnerung lebt, und viele andere. Selbst Jadzia, Dominikas Mutter, die in "Sandberg" das polnische Matriarchat verkörperte, schafft es, sich neu zu erfinden.
Die Geschichten und Erlebnisse all dieser Figuren greifen ineinander über, oft ohne dass dies den Figuren zu Bewusstsein käme, denn Joanna Bator verknüpft verschiedene Zeitebenen miteinander. So entsteht tatsächlich eine utopische Wolkenreise, eine "Chmurdalia", wie der Roman im Original heißt, denn chmura ist das polnische Wort für Wolke. Und damit niemand daran zweifele, dass es sich hier um ein literarisches Spiel mit vielen nicht ganz ernst gemeinten historischen und mythologischen Anspielungen handelt, lässt sie einen ebenso kostbaren wie heiklen Gegenstand als Leitmotiv fungieren: Napoleons Nachttopf.
Sie verspüre beim Schreiben ein geradezu sinnliches Vergnügen, hat Joanna Bator einmal über sich gesagt. Dieses Vergnügen teilt sich dem Leser unmittelbar mit. In Polen ist mittlerweile ihr dritter Roman erschienen, der ebenso stilsicher und mit exzellentem Sprachgefühl geschrieben ist wie seine beiden Vorläufer. In diesem Herbst hat Joanna Bator in ihrer Heimat den angesehenen Nike-Preis dafür erhalten.
MARTA KIJOWSKA.
Joanna Bator: "Wolkenfern". Roman.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 499 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wieder begeistert Bator, von Esther Kinsky in ein prächtiges Deutsch übersetzt, durch eine ausgesuchte Metaphorik."
Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung 08.10.2013
Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung 08.10.2013