Adonis ist der interessanteste und wichtigste arabische Dichter und Denker. Der in Paris lebende Syrier ist dafür prädestiniert, die kritische Lage der arabischen Länder zu kommentieren. In seinen Essays zur arabischen Dichtung, zu Politik, Kultur und Gesellschaft fordert Adonis eine Zwiesprache zwischen Autor und Leser, die darin besteht, dem anderen zuzuhören, über sich selbst nachzudenken und zu wissen, dass niemand die Wahrheit kennt. Adonis denkt politisch und fühlt als Dichter. Ein Buch, das einem den Schlüssel zur arabischen Poesie gibt und zugleich einen verblüffenden, höchst interessanten Bogen von der Dichtung zur Revolution schlägt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Viel Lob von Rezensent Andreas Pflitsch für diesen Band mit Essays zur arabischen Poetik, der offenbar nach Alternativen sucht zu der scheinbar feststehenden Gegenüberstellung von islamischer Rückständigkeit und westlicher Moderne. Auch im Islam gab es eine Moderne, stellt der syrische Dichter Adonis mit Hinweis etwa auf die Dichter Bascha Ibn Burd (gest. 784), Abu Nuwa (gest. 811) oder Abu Tammam (gest. 845) fest, so Pflitsch. Denn für die Dichter war der Koran nicht nur ein religiöses Buch, sondern mit seiner kraftvollen poetischen Sprache auch eine literarische Herausforderung. Als Antwort entwickelten sie eine Perspektive auf die Welt, die offen und unbegrenzt war, im Gegensatz zum Koran, der feststehende Wahrheiten verkündete. Sich auf diese Offenheit zurückzubesinnen, schlägt Adonis als Ausweg aus dem oben genannten Dilemma vor, verkündet zustimmend der Rezensent. Man nickt beim Lesen zustimmend, fragt sich aber auch, ob dieser Vorschlag in der arabischen Welt so viel Zustimmung finden wird wie in der westlichen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2012Befreiung durch den Wortgesang
In seinen Essays widmet sich der Dichter Adonis nicht nur der Poesie und der Politik der Araber - er zeigt vor allem, wie sich in der arabischen Welt aufklärerische Ideen verbreiten lassen.
Dichter seien Leute, die sich weigerten, die Sprache zu benutzen, schrieb Jean-Paul Sartre einmal. Der französische Philosoph und Literat votierte damit keinesfalls für ein unverbindliches l'art pour l'art, sondern meinte damit, dass der Lyriker, im Unterschied zum Prosaautor, Sprache nicht zur direkten Kommunikation von Inhalten einsetze. Die Sprache der Poesie bilde eine Ausdruckswelt für sich, die zunächst einmal nicht nützlich sei.
Wie sehr dies vor allem für die lyrische Dichtung der Araber gilt, macht Stefan Weidner im Vorwort eines Buches, das Essays und Artikel von Adonis enthält, deutlich, wenn er schreibt: "Da die Dichtung nach Adonis ein Humanum ist . . ., ist das Reden, das Ausgehen von der Dichtung ein Reden über die Kultur und das Dasein überhaupt." Bis heute ist die Poesie jene Kunst, in der sich die Araber am besten wiedererkennen - was angesichts einer großartigen, im Abendland kaum bekannten Tradition auch eine Last sein kann. Dichtung grundiert arabische Identität.
Adonis, der mit bürgerlichem Namen Ali Ahmad Said Esber heißt, ist der bedeutendste Lyriker der zeitgenössischen arabischen Literatur, dazu einer der brillantesten Intellektuellen aus dem nahöstlichen Raum. Wer ihn persönlich erlebt, wird von seiner geistigen Präsenz beeindruckt sein - selbst im hohen Alter von mittlerweile mehr als achtzig Jahren. Der 1930 in einem syrischen Dorf des Alawiten-Gebiets geborene Schriftsteller wurde in den vergangenen Jahren regelmäßig unter die Kandidaten für den Literaturnobelpreis gerechnet; im vorigen Jahr erhielt er den Goethepreis der Stadt Frankfurt, was - Insider ausgenommen - leider wenig Resonanz hervorrief. Dabei ist Adonis, der seine syrische Heimat unter dem Druck der Verhältnisse früh verließ und in den liberaleren Libanon übersiedelte, ehe er sich schließlich in Paris niederließ, momentan die gewichtigste Stimme Arabiens jenseits der offiziellen Politik.
Sein großes Thema ist Tadschdid, Erneuerung, nicht allein in der arabischen Poesie und Literatur, zu der er mit seinem Werk wesentlich beigetragen hat, sondern vor allem in Religion, Politik und Gesellschaft. Sein Dichtername "Adonis" bezieht sich denn auch ganz folgerichtig auf den babylonisch-syrischen Gott des "Stirb und Werde", der im Semitischen auch Tammuz heißt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Auswahl von Vorlesungen und Abhandlungen in deutscher Sprache könnte brisanter nicht sein, denn die blutigen Ereignisse in der syrischen Heimat von Adonis illustrieren manche seiner Thesen und machen die geistigen Aufbrüche, zu denen er - aus dem Geist der Sprache und der Poesie heraus - auffordert, umso dringlicher.
Betrachtungen über Geschichte und Wesen der arabischen Dichtung sowie das systematische Nachdenken arabischer Philologen über sie bilden den Hauptteil des Bandes. Vier Poetikvorlesungen setzen mit der mündlich vorgetragenen und überlieferten vorislamischen Beduinendichtung ein, die eher als emphatische Musik und Gesang (tarab) der Seele empfunden wurde denn als ausgepichtes "Sprachkunstwerk". Der Islam ist bis heute eine Kultur des Hörens. Ihr Vorbildcharakter - der auch zur poetischen Erstarrung führen konnte - wurde erst später schriftlich festgelegt. In steter Auseinandersetzung, ja bisweilen sogar Konkurrenz mit der - an sich als unnachahmlich geltenden - Sprache des Korans (die nach dem Dogma Gott selbst verwandte) schufen die Araber einen poetischen Kosmos, der Europa - ganz anders etwa als die klassische persische Dichtung zur Zeit Goethes und der Romantiker - im Grunde unbekannt und verschlossen blieb.
Umso überraschender ist für den westlichen Leser Adonis' Darstellung einer arabischen "Moderne vor der Moderne", denn der syrisch-libanesische Dichter hat selbst für sein Werk nicht nur von den großen Franzosen des Symbolismus und Surrealismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert - Baudelaire, Rimbaud, Valéry, Mallarmé oder Breton - gelernt, sondern auch von den arabischen Dichterkönigen der klassischen Zeit der Abbasiden, einem Abu Nuwas, al Mutanabbi oder Abul Ala al Maarri (in dessen Heimatstadt Maarrat al Numan unlängst heftige Kämpfe zwischen den Truppen Assads und den Rebellen stattfanden). Speziell die philosophisch-skeptische Dichtung al Maarris mutet modern an. Die Araber hatten schon vor tausend Jahren ihren eigenen Baudelaire, in Gestalt des Bagdader "Skandalpoeten" Abu Nuwas, dessen inhaltliche Freizügigkeit und Unangepasstheit Sprache und Denken befreiten. Die poetischen Überlieferungen aus alter vorislamischer Zeit schufen im Verein mit der Sprache des Korans ein dichterisches Instrumentarium, das nach Adonis ins Freie führen kann, zu poetischer Kreativität und Erneuerung. Modern war diese Epoche, wie Adonis ausführt, auch durch ihren hohen Grad an Reflexion über Sprache, über das Idiom des Dichters, die Bedeutung und Verwendung von Metaphern. Einzig die technische Moderne ging ihr ab.
Hinzu kam die Sprache der Sufis. Adonis gehört seit langem zu jenen reflektierenden Lyrikern, die - vom sprachlichen Standpunkt aus - die islamische Mystik, den Tasawwuf, und den modernen Surrealismus zusammendenken. Auf den ersten Blick mag das befremden, denn die Sufis (deren beschauliche Bewegung nach ihrer Meinung so alt ist wie der Islam selbst) strebten nach der inneren Erfahrung Gottes in der Seele, nach der unio mystica und dem "Entwerden" (fana) des Ichs, nach der Hereinnahme der Transzendenz noch zu Lebzeiten also, während die Surrealisten dem Atheismus huldigten. Dazu Adonis: "Atheismus impliziert nicht notwendigerweise die Ablehnung der Mystik, noch impliziert Mystik zwangsläufig den Glauben an die herkömmliche Religion bzw. den herkömmlichen Glauben an die Religion."
In den spirituellen Erfahrungen der Sufis, von denen viele auch Dichter waren und die verschiedenen "Stadien" und "Zustände" des mystischen, Raum und Zeit transzendierenden kontemplativen Pfades in symbolischen Sprachspielen zu schildern versuchten, sieht Adonis eine Welt des Unsichtbaren, des Verborgenen und Geheimnisvollen, des "Trans-Realen" in der Seele, des Zusammenfallens der Gegensätze, die sich mit den gnostisch anmutenden Entgrenzungen der Surrealisten berühren mögen. Wichtig für ihn sind besonders der im Jahre 922 nach Christus in Bagdad wegen Blasphemie hingerichtete Sufi und Poet al Husain Ibn Mansur al Halladsch, dessen teilweise paradoxe Sprache Ausdruck entgrenzter Freiheit seiner Liebesmystik war. Paradoxe Aussprüche waren überhaupt eine Spezialität der Sufis.
Auch in der Sprache des Korans "entbirgt" Adonis, der Heideggers Werk studiert hat, einen Ozean an Bedeutungen, wenn man ihn nicht fundamentalistisch als bloße Religion versteht. Man muss dazu nicht gläubig sein: "Erneuerung und Modernisierung stehen also in Opposition zur Religion, während sie für die Dichtung ein essentieller Bestandteil sind, ohne den sie keine Dichtung wären." Adonis' Weg zur Freiheit führt über Texte; das hat er mit anderen Intellektuellen seiner Kultur gemein, die - wie der zu früh verstorbene Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid - ganz auf hermeneutische Methoden setzen und auch den Koran vor allem als literarischen Text verstehen. Die hier vorliegenden theoretischen Arbeiten des Dichters wurden alle auf Arabisch publiziert, es ist also durchaus möglich, Kritik nicht nur an der Religion zu üben, sondern auch generell aufklärerische Ideen zu verbreiten.
In einem kurzen, in dieser Sammlung etwas fremd wirkenden Ausblick auf die Zukunft seiner syrischen Heimat, der den Band beschließt, spricht sich Adonis für umfassende demokratische Reformen in Syrien aus, die begleitet sein müssten von einer unbedingten Trennung des Religiösen von Staat und Politik, zudem aber auch vom traditionellen Clanwesen sowie der Ethnizität - jahrhundertealte Bindungen und Verfugungen, die nicht nur die syrische Gesellschaft bis heute pervertiert haben, sondern auf allen arabischen Ländern wie Blei lasten. Der Mensch komme allemal vor der Religion. Der Dichter appelliert an das Regime, zuvörderst an Präsident Baschar al Assad, in diesem Sinne "dialogisch" zu handeln - ein gut gemeinter Aufruf, der freilich von den Paroxysmen der Gewalt in Damaskus und Aleppo, in Homs, Hama oder Deraa schon als hinfällig erwiesen wurde. Der Einzelgänger Adonis ist unlängst endgültig auf Distanz zur Opposition gegangen, deren islamischen Fundamentalismus er fürchtet.
WOLFGANG GÜNTER LERCH.
Adonis: "Wortgesang". Von der Dichtung zur Revolution.
Hrsg. und mit einem Vorwort von Stefan Weidner. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 298 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinen Essays widmet sich der Dichter Adonis nicht nur der Poesie und der Politik der Araber - er zeigt vor allem, wie sich in der arabischen Welt aufklärerische Ideen verbreiten lassen.
Dichter seien Leute, die sich weigerten, die Sprache zu benutzen, schrieb Jean-Paul Sartre einmal. Der französische Philosoph und Literat votierte damit keinesfalls für ein unverbindliches l'art pour l'art, sondern meinte damit, dass der Lyriker, im Unterschied zum Prosaautor, Sprache nicht zur direkten Kommunikation von Inhalten einsetze. Die Sprache der Poesie bilde eine Ausdruckswelt für sich, die zunächst einmal nicht nützlich sei.
Wie sehr dies vor allem für die lyrische Dichtung der Araber gilt, macht Stefan Weidner im Vorwort eines Buches, das Essays und Artikel von Adonis enthält, deutlich, wenn er schreibt: "Da die Dichtung nach Adonis ein Humanum ist . . ., ist das Reden, das Ausgehen von der Dichtung ein Reden über die Kultur und das Dasein überhaupt." Bis heute ist die Poesie jene Kunst, in der sich die Araber am besten wiedererkennen - was angesichts einer großartigen, im Abendland kaum bekannten Tradition auch eine Last sein kann. Dichtung grundiert arabische Identität.
Adonis, der mit bürgerlichem Namen Ali Ahmad Said Esber heißt, ist der bedeutendste Lyriker der zeitgenössischen arabischen Literatur, dazu einer der brillantesten Intellektuellen aus dem nahöstlichen Raum. Wer ihn persönlich erlebt, wird von seiner geistigen Präsenz beeindruckt sein - selbst im hohen Alter von mittlerweile mehr als achtzig Jahren. Der 1930 in einem syrischen Dorf des Alawiten-Gebiets geborene Schriftsteller wurde in den vergangenen Jahren regelmäßig unter die Kandidaten für den Literaturnobelpreis gerechnet; im vorigen Jahr erhielt er den Goethepreis der Stadt Frankfurt, was - Insider ausgenommen - leider wenig Resonanz hervorrief. Dabei ist Adonis, der seine syrische Heimat unter dem Druck der Verhältnisse früh verließ und in den liberaleren Libanon übersiedelte, ehe er sich schließlich in Paris niederließ, momentan die gewichtigste Stimme Arabiens jenseits der offiziellen Politik.
Sein großes Thema ist Tadschdid, Erneuerung, nicht allein in der arabischen Poesie und Literatur, zu der er mit seinem Werk wesentlich beigetragen hat, sondern vor allem in Religion, Politik und Gesellschaft. Sein Dichtername "Adonis" bezieht sich denn auch ganz folgerichtig auf den babylonisch-syrischen Gott des "Stirb und Werde", der im Semitischen auch Tammuz heißt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Auswahl von Vorlesungen und Abhandlungen in deutscher Sprache könnte brisanter nicht sein, denn die blutigen Ereignisse in der syrischen Heimat von Adonis illustrieren manche seiner Thesen und machen die geistigen Aufbrüche, zu denen er - aus dem Geist der Sprache und der Poesie heraus - auffordert, umso dringlicher.
Betrachtungen über Geschichte und Wesen der arabischen Dichtung sowie das systematische Nachdenken arabischer Philologen über sie bilden den Hauptteil des Bandes. Vier Poetikvorlesungen setzen mit der mündlich vorgetragenen und überlieferten vorislamischen Beduinendichtung ein, die eher als emphatische Musik und Gesang (tarab) der Seele empfunden wurde denn als ausgepichtes "Sprachkunstwerk". Der Islam ist bis heute eine Kultur des Hörens. Ihr Vorbildcharakter - der auch zur poetischen Erstarrung führen konnte - wurde erst später schriftlich festgelegt. In steter Auseinandersetzung, ja bisweilen sogar Konkurrenz mit der - an sich als unnachahmlich geltenden - Sprache des Korans (die nach dem Dogma Gott selbst verwandte) schufen die Araber einen poetischen Kosmos, der Europa - ganz anders etwa als die klassische persische Dichtung zur Zeit Goethes und der Romantiker - im Grunde unbekannt und verschlossen blieb.
Umso überraschender ist für den westlichen Leser Adonis' Darstellung einer arabischen "Moderne vor der Moderne", denn der syrisch-libanesische Dichter hat selbst für sein Werk nicht nur von den großen Franzosen des Symbolismus und Surrealismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert - Baudelaire, Rimbaud, Valéry, Mallarmé oder Breton - gelernt, sondern auch von den arabischen Dichterkönigen der klassischen Zeit der Abbasiden, einem Abu Nuwas, al Mutanabbi oder Abul Ala al Maarri (in dessen Heimatstadt Maarrat al Numan unlängst heftige Kämpfe zwischen den Truppen Assads und den Rebellen stattfanden). Speziell die philosophisch-skeptische Dichtung al Maarris mutet modern an. Die Araber hatten schon vor tausend Jahren ihren eigenen Baudelaire, in Gestalt des Bagdader "Skandalpoeten" Abu Nuwas, dessen inhaltliche Freizügigkeit und Unangepasstheit Sprache und Denken befreiten. Die poetischen Überlieferungen aus alter vorislamischer Zeit schufen im Verein mit der Sprache des Korans ein dichterisches Instrumentarium, das nach Adonis ins Freie führen kann, zu poetischer Kreativität und Erneuerung. Modern war diese Epoche, wie Adonis ausführt, auch durch ihren hohen Grad an Reflexion über Sprache, über das Idiom des Dichters, die Bedeutung und Verwendung von Metaphern. Einzig die technische Moderne ging ihr ab.
Hinzu kam die Sprache der Sufis. Adonis gehört seit langem zu jenen reflektierenden Lyrikern, die - vom sprachlichen Standpunkt aus - die islamische Mystik, den Tasawwuf, und den modernen Surrealismus zusammendenken. Auf den ersten Blick mag das befremden, denn die Sufis (deren beschauliche Bewegung nach ihrer Meinung so alt ist wie der Islam selbst) strebten nach der inneren Erfahrung Gottes in der Seele, nach der unio mystica und dem "Entwerden" (fana) des Ichs, nach der Hereinnahme der Transzendenz noch zu Lebzeiten also, während die Surrealisten dem Atheismus huldigten. Dazu Adonis: "Atheismus impliziert nicht notwendigerweise die Ablehnung der Mystik, noch impliziert Mystik zwangsläufig den Glauben an die herkömmliche Religion bzw. den herkömmlichen Glauben an die Religion."
In den spirituellen Erfahrungen der Sufis, von denen viele auch Dichter waren und die verschiedenen "Stadien" und "Zustände" des mystischen, Raum und Zeit transzendierenden kontemplativen Pfades in symbolischen Sprachspielen zu schildern versuchten, sieht Adonis eine Welt des Unsichtbaren, des Verborgenen und Geheimnisvollen, des "Trans-Realen" in der Seele, des Zusammenfallens der Gegensätze, die sich mit den gnostisch anmutenden Entgrenzungen der Surrealisten berühren mögen. Wichtig für ihn sind besonders der im Jahre 922 nach Christus in Bagdad wegen Blasphemie hingerichtete Sufi und Poet al Husain Ibn Mansur al Halladsch, dessen teilweise paradoxe Sprache Ausdruck entgrenzter Freiheit seiner Liebesmystik war. Paradoxe Aussprüche waren überhaupt eine Spezialität der Sufis.
Auch in der Sprache des Korans "entbirgt" Adonis, der Heideggers Werk studiert hat, einen Ozean an Bedeutungen, wenn man ihn nicht fundamentalistisch als bloße Religion versteht. Man muss dazu nicht gläubig sein: "Erneuerung und Modernisierung stehen also in Opposition zur Religion, während sie für die Dichtung ein essentieller Bestandteil sind, ohne den sie keine Dichtung wären." Adonis' Weg zur Freiheit führt über Texte; das hat er mit anderen Intellektuellen seiner Kultur gemein, die - wie der zu früh verstorbene Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid - ganz auf hermeneutische Methoden setzen und auch den Koran vor allem als literarischen Text verstehen. Die hier vorliegenden theoretischen Arbeiten des Dichters wurden alle auf Arabisch publiziert, es ist also durchaus möglich, Kritik nicht nur an der Religion zu üben, sondern auch generell aufklärerische Ideen zu verbreiten.
In einem kurzen, in dieser Sammlung etwas fremd wirkenden Ausblick auf die Zukunft seiner syrischen Heimat, der den Band beschließt, spricht sich Adonis für umfassende demokratische Reformen in Syrien aus, die begleitet sein müssten von einer unbedingten Trennung des Religiösen von Staat und Politik, zudem aber auch vom traditionellen Clanwesen sowie der Ethnizität - jahrhundertealte Bindungen und Verfugungen, die nicht nur die syrische Gesellschaft bis heute pervertiert haben, sondern auf allen arabischen Ländern wie Blei lasten. Der Mensch komme allemal vor der Religion. Der Dichter appelliert an das Regime, zuvörderst an Präsident Baschar al Assad, in diesem Sinne "dialogisch" zu handeln - ein gut gemeinter Aufruf, der freilich von den Paroxysmen der Gewalt in Damaskus und Aleppo, in Homs, Hama oder Deraa schon als hinfällig erwiesen wurde. Der Einzelgänger Adonis ist unlängst endgültig auf Distanz zur Opposition gegangen, deren islamischen Fundamentalismus er fürchtet.
WOLFGANG GÜNTER LERCH.
Adonis: "Wortgesang". Von der Dichtung zur Revolution.
Hrsg. und mit einem Vorwort von Stefan Weidner. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 298 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main