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Birgit Birnbachers Roman "Wovon wir leben"
Die vollständige Atmung, auch Vollatmung genannt, ist eine yogische Meditationspraxis zu Entfesselung von Freiheitspotentialen via Lungenvolumen. Birgit Birnbachers dritter Roman beginnt mit einer solchen Atmung, die eine Eigenheit hat: länger ausatmen als einatmen, "immer mehr geben als nehmen".
Eine junge Frau steht auf diese generöse Art atmend vor der Klinik einer österreichischen Kleinstadt. Sie hat dort als Krankenschwester gearbeitet. Einatmen. Dann ist ihr eine Verwechslung passiert, die eine Patientin fast das Leben gekostet hätte. Berufsverbot bekam sie nicht, wurde aber selbst krank. Krank vor Scham, krank vor Selbstzweifeln, krank vom schlechten Ruf, der ihr seitdem vorauseilt. Ausatmen.
Die lungenkranke Erzählerin bricht in der Kleinstadt alle Zelte ab und flüchtet in das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Hier ist die Zeit stehen geblieben und alles beim Alten. Mit einer Ausnahme: Die Mutter ist weg. Sie, die immer so viel gegeben - ausatmen! - hat: dem Vater, den Kindern, den Nachbarn. Nun hat sie alles hinter sich gelassen, um in Syrakus mit einem neuen Mann endlich mal einzuatmen und verrückte Dinge wie einen Bootsführerschein zu machen. Dabei hat sie nicht mal einen Autoführerschein. Das war Vaters Sache gewesen. Der wohnt jetzt allein im Elternhaus und soll sich um die kranke Tochter kümmern. Die ist Ende dreißig und liebt einen verheirateten Mann. Beziehungsstatus also: aussichtslos. Den Job muss sie aufgeben, ihre Wohnung in der Stadt auch. Dabei hatte es die Erzählerin dort eigentlich erstaunlich lange gehalten. Erst machte sie eine Lehre im örtlichen Autohaus. Dann folgten die Umschulung auf Krankenschwester und ein Job in einer nahe gelegenen Klinik. Die Mutter, die ihre eigenen Stewardessenträume nie in die Tat hat umsetzen können, schreit ihre Tochter an: "Und wann lebst du, fährst dort, tust was Schönes?" Ihre Tochter sollte es doch mal besser haben! Nicht anderen den Hintern abwischen müssen. Wie konnte sie sich nur freiwillig für "so etwas" entscheiden?
Die Verhältnisse zu Hause sind das Gegenteil einer ländlichen Idylle. Es gibt einen Bruder, der geistig behindert ist. Er lebt in einem Heim. Daheim herrscht dunkelstes Patriarchat: Der Vater geht in die Werkstatt und erholt sich dort vom Leben, die Mutter macht den Rest. "Ihr werdet euch noch anschauen! Lange dauert es nicht mehr mit mir, und dann wird die Mama bereuen, dass sie einfach gegangen ist. Ewig wird sie sich Vorwürfe machen, das wird nicht schön. Ganz und gar nicht schön, hässlich sogar, sehr hässlich ist das, wenn Frauenleben so enden." Der Erzählerin fällt jetzt ein, "wie ich jahrelang gerührt war, weil er einen Arm um Mutters Autositz legte, wenn er rückwärts aus der Einfahrt fuhr. Ich musste ganz schön groß werden, um zu kapieren, dass er ihren Sitz auch umarmt, wenn sie gar nicht dabei ist."
Die 2019 mit dem Bachmannpreis ausgezeichnete Birgit Birnbacher hat ihren dritten Roman geschrieben, der sich mit Lebensentwürfen sogenannter kleiner Leute beschäftigt. Man lebt im Dorf nach althergebrachter Weise: "Der alte Küchenherd ist noch gut, überheizte Schlafzimmer sind ungesund. Die Zentralheizung, denke ich, ist eine schöne Errungenschaft, und irgendwann wird auch der Vater das einsehen, wenn er bis dahin nicht auf dem Klo festgefroren ist." So althergebracht soll es auch der Erzählerin ergehen, die sich, kaum wieder zu Hause, von den Zwängen der Tochterrolle einlullen lässt ("Und dann doch wieder: die Möglichkeit des Bleibens"). Sie pflegt den kranken Bruder, bekocht den hypochondrischen Vater, der die Gesundheit seines Jungen auf dem Gewissen hat, weil er dessen Hirnhautentzündung nicht rechtzeitig erkannt und ihn nicht ins Krankenhaus gefahren hat, wie die Mutter es wollte. "Papperlapapp", schnitt er ihr damals das Wort ab.
Obwohl die Autorin klare Worte für die zwischengeschlechtlichen Kümmernisse im Dorf findet, ist das Buch keine Klageschrift - eher teilnehmende Beobachtung. Kühl, protokollarisch, realistisch. Ob es sich um den versoffenen Wirt handelt, der sein Lokal beim Kartenspiel verliert, oder um den lebensunfähigen Bruder, der stumm in die Welt starrt. Und dann gibt es noch den "Städter", einen Mittvierziger, der, von einem Herzinfarkt genesen, Erholung auf dem Land sucht und dort ganz anders als die Erzählerin tatsächlich ein Idyll findet. Er könnte für die Erzählerin, diese Julia Noch, deren Name Programm ist, eine Umwertung aller Werte bedeuten.
Birnbacher erzählt in dem kleinen, genauen Roman von den patriarchalen Strukturen zwischen Tradition und Borniertheit, die Generationen auf schicksalhafte Weise miteinander verstricken. Aber sie lässt auch ein Türchen in die Freiheit auf. KATHARINA TEUTSCH
Birgit Birnbacher: "Wovon wir leben". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2023. 192 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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