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© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
Silke Scheuermanns neuer Roman "Wovon wir lebten" folgt einem Mann von der schiefen Bahn auf den Weg nach oben.
Als Silke Scheuermann vor elf Jahren den Erzählungsband "Reiche Mädchen" herausbrachte, bedeutete das einen doppelten Einschnitt in ihrer Karriere: Die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin wagte sich erstmals an Prosa, und sie wechselte damit vom damals noch in Frankfurt ansässigen Suhrkamp Verlag zum deutlich kleineren Lokalrivalen Schöffling & Co. Der freute sich über den erzählerischen Ehrgeiz von Silke Scheuermann (der sich danach noch in mehreren Romanen niederschlagen sollte), denn ihre Gedichtbände konnten trotz höchstem Lob nicht mit den Auflagen der diversen Prosapublikationen konkurrieren. Die mittlerweile dreiundvierzigjährige Autorin, die Schöffling im Gegensatz zu anderen erfolgreichen Kolleginnen (Juli Zeh, Mareike Krügel) bislang treu geblieben ist, fand aber auch immer wieder zur Lyrik zurück; derzeit ist mit "Zweites Buch der Unruhe" ein neuer Gedichtband in Arbeit, für den die Autorin kürzlich erst den für noch unveröffentlichte Projekte verliehenen Robert-Gernhardt-Preis erhielt.
Die Lyriklust ist also immer noch groß, zumal nach einem so ausufernden Werk, wie es der gerade erschienene Roman "Wovon wir lebten" darstellt. Er ist mit mehr als fünfhundert Seiten die bisher bei weitem umfangreichste Publikation von Silke Scheuermann. Erzählt wird darin von Marten Wolf, einem Meisterkoch, der seine Begabung erst spät erkennt, nach einem Leben am Rande der Frankfurter Gesellschaft, wo Marten als Jugendlicher im Drogenhandel Handlangerdienste übernimmt. Der Weg in eine kriminelle Existenz ist dadurch geebnet, und dieser Ich-Erzähler ist zudem beim Leben und Lieben eine Borderline-Persönlichkeit, die bei Gewaltanwendung in einen "Flow" verfällt und das Verprügeln eines Konkurrenten deshalb genießt, weil er nur darin zu sich selbst findet: "Ja, Marten, richtig, mach weiter, so soll es sein: überschäumende Freude in dir, nacktes Entsetzen im Gesicht dieses Idioten, ist das nicht magisch? Fühlt sich das nicht besser an als alles, was du in letzter Zeit getan hast? Na also. Dann mach einfach weiter."
Hätte er so weitergemacht, wäre Marten abgerutscht, doch ein erster Gefängnisaufenthalt wirft ihn aus der schiefen Bahn, was Scheuermann durch einen Bruch im Erzählduktus deutlich macht, der plötzlich fragmentiert und zum inneren Dialog wird. Im Kampf mit sich selbst scheint Marten zunächst zwar noch zu unterliegen. Wenn er sich an die frühere Freude am Prügeln erinnert, geschieht das ohne Reue: "Etwas, das sich so richtig anfühlt, kann nicht falsch sein." Martens Rettung aber ist, dass ihm dann etwas begegnet, was sich auch richtig anfühlt, und das ist seine Freude an der Zubereitung von Essen. Zunächst nur für den eigenen Bedarf, der darüber immer anspruchsvoller wird und schließlich einen Koch hervorbringt, der in einem neu eröffneten Szenerestaurant Beschäftigung und breite Anerkennung findet. Man könnte dieses Buch in Analogie zum Bildungsroman einen Wiedereingliederungsroman nennen. Zumal es eine Frau darin gibt, die noch weitaus konsequenter als Marten Grenzen überschreitet, die Rückkehr ins soziale Diesseits nicht mehr schafft und dadurch den Weg der Hauptfigur umso stärker kontrastiert.
Aber eine Botschaft, ob psychologisch oder pathologisch, hat Silke Scheuermanns Buch "Wovon wir lebten" gar nicht. Der Titel kann sowohl existentialistisch als auch platt materialistisch gelesen werden: im Sinne von Lebens- wie von Überlebensmittel. Der Entscheidung für eines von beiden weicht dieser Titel ebenso aus wie die Geschichte selbst. Wer will, kann bei den Schauplätzen und Figuren auf Vorbildsuche im Rhein-Main-Gebiet gehen, und er wird fündig werden - so ist zum Beispiel das ehedem berühmte, mittlerweile längst geschlossene Clubrestaurant "Silk" nur gelinde verbrämt in den Roman eingegangen, und (auto-)biographische Parallelen zum wahren Leben gibt es auch etliche zu entdecken, doch niemals kommen Vor- und Nachbilder zu völliger Deckung, denn es geht Silke Scheuermann in jeder Hinsicht um Versehrung, also poetologisch auch um die von ihr durchgeführten Zerstörungen von realen Inspirationen.
Der zentrale Satz des Buchs fällt spät, doch er beschreibt diesen Antrieb genau. Bei einer Wiederbegegnung von Marten mit einer Kindheitsliebe, die mittlerweile als Künstlerin tätig ist, zeigt sich die Zusammengehörigkeit beider im Vollenden des Gedankengangs der einen durch den anderen: "Dort, wo wir unverletzt sind, sind wir nicht authentisch. Wo wir verletzt und vernarbt sind, da zeigt sich unsere wahre Identität. Daran sieht man, was uns geprägt und zu dem Menschen gemacht hat, der man ist. Und vor allem sieht man . . ." - und Marten fällt ein: ". . . woraus man sich befreit hat."
Das ist der Kern der Handlung: Befreiung, die aber nicht so leicht mit dem gutbürgerlichen Verständnis von Freiheit in Einklang zu bringen ist, wie man es angesichts des Romansujets von "Wovon wir lebten" - und der mehrfachen Anspielungen auf Dickens' "Große Erwartungen" - vermuten könnte. Leider jedoch fehlt es Silke Scheuermanns Protagonisten über die Vernarbungen hinaus an sichtbarem Profil: Es sind eindimensionale Figuren, die um Marten herum agieren, und auch der junge Mann selbst absolviert seinen Schlingerkurs zwischen Rand und Mitte der Gesellschaft etwas zu souverän, als dass man ihm über ein halbes Tausend Seiten hinweg Interesse dabei entgegenbrächte. Es ist verblüffend, wie diese in der konzentrierten Form des Gedichts so versierte und konzentrierte Autorin hier als Romancière die Zügel schießen lässt. Man möchte eine Selbstbefreiung dahinter vermuten, jedoch um den Preis von psychologischer Präzision und ästhetischem Raffinement. Die Vorfreude auf den nächsten Lyrikband von Silke Scheuermann wird umso größer.
ANDREAS PLATTHAUS
Silke Scheuermann: "Wovon wir lebten". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 527 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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