»Wir müssen uns die Heimat mit der Seele zurück erkämpfen.« Liao Yiwu Gleich nach dem Ausbruch des Corona-Virus reist der Bürgerjournalist Li in das Epizentrum der Katastrophe. »Weil er keine Angst vor Gespenstern hat«, so die Stellenanzeige, findet er einen Job im Krematorium. Schnell begreift er, dass die offiziellen Opferzahlen nicht stimmen. Doch der kurze Augenblick, in dem er glaubt, die Wahrheit sagen zu dürfen, vergeht über Nacht: Er wird entdeckt, verfolgt und dokumentiert im Internet live, wie er brutal verhaftet wird. In diesem bestürzend aktuellen Dokumentarroman »Wuhan« führt uns Liao Yiwu in das Herz der ungelösten Fragen und erzählt die spannende Recherche der Hintergründe einer gewaltigen Vertuschung. Woher stammt das Virus und was geschah in Wuhan? Protokolle verschwinden, und neue Lügen zementieren die Geschichte vom heroischen Sieg der Partei - Propaganda, die die Menschen vergiftet wie das Virus. »Liao Yiwu ist der wohl vielseitigste Chronist des zeitgenössischen Chinas.« Der Tagesspiegel
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Dem Virus auf der Spur
„Wuhan“: der neue Roman des chinesischen Exilschriftstellers Liao Yiwu
Murnau – Draußen Sonne, das Murnauer Moos, weiß glitzernde Gipfel, Idylle pur. Drinnen im Saal des Murnauer Alpenhofs ist Vorleser Stephan Knies gerade bei der Verfolgungsjagd angekommen, die sich der chinesische Bürgerjournalist Kcriss Li im Januar 2020 mit der Polizei liefert. Stundenlang harrt er in tiefster Dunkelheit in seinem Hotelzimmer aus, lauscht den an die Tür klopfenden Polizisten der „Nationalen Sicherheit“, versucht, seine Panik zu beherrschen. Die Angst lähmt ihn, auch das Publikum im Saal, gebannt von der Szene aus dem neuen Dokumentarroman „Wuhan“ des chinesischen Exilschriftsteller Liao Yiwu, hält den Atem an. Entspannung erst, als der Dichter zur Flöte greift und gleichermaßen kraftvoll wie schlicht mit dem Geiger Fabian Voigtschild musiziert.
Schon im Juni 2019 hatte der chinesische Autor mit Hilfe des Dramaturgen Stephan Knies Murnau als Ort gewählt, um mit der Rezitation seines berühmten Gedichts „Massaker“ anlässlich des 30. Jahrestags an das Blutbad auf dem Tiananmen Platz zu erinnern. Damals wünschte er sich landschaftlich den größtmöglichen Kontrast zum chinesischen Foltergefängnis, in dem er vier Jahre seines Lebens saß als Folge jenes Gedichts, das er schreiend und flüsternd auf einer Tonbandkassette verewigt hatte. Liao Yiwu gelang erst 2011 die Flucht nach Deutschland, seither lebt und schreibt er in Berlin.
Mit dem grandiosen Dokumentarroman „Wuhan“ (Fischer Verlag) begehrt der 63-jährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels erneut gegen das Vergessen auf. Er zeichnet darin die Stimmungslage seines Landes in den ersten Wochen der Pandemie nach, verbindet reale mit fiktiven Figuren. Ein Protagonist ist der bereits erwähnte Kcriss Li, der 2020 seine Karriere beim chinesischen Staatsfernsehen in Peking aufgab und begann, in Wuhan zu recherchieren und zu filmen. Dabei kam er vermutlich dem P4-Hochsicherheitslabor zu nahe. Wie nah Liao Yiwu trotz aller literarischen Verdichtung an der Realität bleibt, lässt sich auf Youtube in Kcriss Lis Videos nachvollziehen, die er bis zu seiner Verhaftung live streamte. Viele seiner Landsleute hätten versuchten, den Ursprung des Virus oder die wirkliche Anzahl der Toten zu ergründen, berichtet Liao in Murnau. Da ihm bewusst war, dass nur dezentrales Speichern diese Informationen vor der Löschung durch Netzpolizisten rette, habe er sich im Januar 2020 täglich nachmittags an den Computer gesetzt und bis 6 Uhr früh Daten gesichert, einschließlich der Posts und Kommentare. Er musste nicht lange warten, bis ihn Hacker angriffen und begannen, den Inhalt seines Computers zu löschen. „Das heißt, man wusste in China, was Liao Yiwu in Berlin macht“, sagte Hans Balmes vom Fischer Verlag. Die Überwachung habe eindeutig eine neue Stufe erreicht. Neben dem realen Thriller läuft ein zweiter fiktiver Erzählstrang, aus dem Liao Yiwu selbst vorlas: Der Historiker Ai Ding, der als Stipendiat gerade in Berlin weilt, will zum chinesischen Neujahrsfest zu Frau und Tochter nach Wuhan heimkehren. Er erreicht sein Ziel, aber erst Wochen später, nach schrecklichen Irrfahrten, Quarantänen und Schikanen. Manchmal hat er einfach bloß Pech, oft kippt die Verzweiflung in Komik. Die Zeit des Herumsitzes vertreibt er sich zum einen durch Chats mit seinem Freund, einem in Berlin lebenden, exilierten Autor namens Zhuang Zigui – einem „schreibenden Glatzkopf“, also Liao Yiwu nicht unähnlich. Zum anderen schreibt er nach dem Vorbild der Autorin Fang Fang ein Lockdown-Tagebuch, denkt darin über vieles nach, etwa über den chinesischen Umgang mit Sars 2003, die menschenleeren Orte, die nationalen Gesetze über „Gerüchteverbreitung“ oder die Frage, ob das Virus von den Fledermäusen oder aus dem P4-Labor stammt.
„Solange es Menschen gibt wie ihn und er in Deutschland Bücher schreiben darf, gibt es Hoffnung“, sagte der taiwanesische Diplomat Jhy-Wey Shieh in seiner Begrüßung. Nur in Taiwan dürfen Liao Yiwus Romane in Originalsprache erscheinen, nachvollziehbar, dass er sich diesem Land verbunden fühlt. Margarete Bause, die Grüne Sprecherin für Menschenrechte, wies dagegen auf den Carlsen-Verlag hin, den das chinesische Generalkonsulat im Vorjahr aufgefordert hatte, das Kinderbuch „Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz“ zu überarbeiten, verärgert über den Satz, das „Virus kommt aus China und hat sich von dort aus auf der ganzen Welt ausgebreitet“. Carlsen machte das tatsächlich. „So etwas darf in Europa nicht passieren“, sagte Bause und wünschte sich, Deutschland würde sich zum diplomatischen Boykott der Olympischen Spiele entschließen.
Kcriss Li ist übrigens wie andere Bürgerjournalisten seit der Verhaftung im Februar 2020 verschwunden. Nur einmal tauchte er im April noch in einem Video auf, voll des Lobs über faire Behandlung durch die Polizei.
SABINE REITHMAIER
Er schildert die Stimmung
seiner Landsleute in den
ersten Wochen der Pandemie
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu bei der Vorstellung seines Romans „Wuhan“ in Murnau.
Foto: Foto: Thomas Reche
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
„Wuhan“: der neue Roman des chinesischen Exilschriftstellers Liao Yiwu
Murnau – Draußen Sonne, das Murnauer Moos, weiß glitzernde Gipfel, Idylle pur. Drinnen im Saal des Murnauer Alpenhofs ist Vorleser Stephan Knies gerade bei der Verfolgungsjagd angekommen, die sich der chinesische Bürgerjournalist Kcriss Li im Januar 2020 mit der Polizei liefert. Stundenlang harrt er in tiefster Dunkelheit in seinem Hotelzimmer aus, lauscht den an die Tür klopfenden Polizisten der „Nationalen Sicherheit“, versucht, seine Panik zu beherrschen. Die Angst lähmt ihn, auch das Publikum im Saal, gebannt von der Szene aus dem neuen Dokumentarroman „Wuhan“ des chinesischen Exilschriftsteller Liao Yiwu, hält den Atem an. Entspannung erst, als der Dichter zur Flöte greift und gleichermaßen kraftvoll wie schlicht mit dem Geiger Fabian Voigtschild musiziert.
Schon im Juni 2019 hatte der chinesische Autor mit Hilfe des Dramaturgen Stephan Knies Murnau als Ort gewählt, um mit der Rezitation seines berühmten Gedichts „Massaker“ anlässlich des 30. Jahrestags an das Blutbad auf dem Tiananmen Platz zu erinnern. Damals wünschte er sich landschaftlich den größtmöglichen Kontrast zum chinesischen Foltergefängnis, in dem er vier Jahre seines Lebens saß als Folge jenes Gedichts, das er schreiend und flüsternd auf einer Tonbandkassette verewigt hatte. Liao Yiwu gelang erst 2011 die Flucht nach Deutschland, seither lebt und schreibt er in Berlin.
Mit dem grandiosen Dokumentarroman „Wuhan“ (Fischer Verlag) begehrt der 63-jährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels erneut gegen das Vergessen auf. Er zeichnet darin die Stimmungslage seines Landes in den ersten Wochen der Pandemie nach, verbindet reale mit fiktiven Figuren. Ein Protagonist ist der bereits erwähnte Kcriss Li, der 2020 seine Karriere beim chinesischen Staatsfernsehen in Peking aufgab und begann, in Wuhan zu recherchieren und zu filmen. Dabei kam er vermutlich dem P4-Hochsicherheitslabor zu nahe. Wie nah Liao Yiwu trotz aller literarischen Verdichtung an der Realität bleibt, lässt sich auf Youtube in Kcriss Lis Videos nachvollziehen, die er bis zu seiner Verhaftung live streamte. Viele seiner Landsleute hätten versuchten, den Ursprung des Virus oder die wirkliche Anzahl der Toten zu ergründen, berichtet Liao in Murnau. Da ihm bewusst war, dass nur dezentrales Speichern diese Informationen vor der Löschung durch Netzpolizisten rette, habe er sich im Januar 2020 täglich nachmittags an den Computer gesetzt und bis 6 Uhr früh Daten gesichert, einschließlich der Posts und Kommentare. Er musste nicht lange warten, bis ihn Hacker angriffen und begannen, den Inhalt seines Computers zu löschen. „Das heißt, man wusste in China, was Liao Yiwu in Berlin macht“, sagte Hans Balmes vom Fischer Verlag. Die Überwachung habe eindeutig eine neue Stufe erreicht. Neben dem realen Thriller läuft ein zweiter fiktiver Erzählstrang, aus dem Liao Yiwu selbst vorlas: Der Historiker Ai Ding, der als Stipendiat gerade in Berlin weilt, will zum chinesischen Neujahrsfest zu Frau und Tochter nach Wuhan heimkehren. Er erreicht sein Ziel, aber erst Wochen später, nach schrecklichen Irrfahrten, Quarantänen und Schikanen. Manchmal hat er einfach bloß Pech, oft kippt die Verzweiflung in Komik. Die Zeit des Herumsitzes vertreibt er sich zum einen durch Chats mit seinem Freund, einem in Berlin lebenden, exilierten Autor namens Zhuang Zigui – einem „schreibenden Glatzkopf“, also Liao Yiwu nicht unähnlich. Zum anderen schreibt er nach dem Vorbild der Autorin Fang Fang ein Lockdown-Tagebuch, denkt darin über vieles nach, etwa über den chinesischen Umgang mit Sars 2003, die menschenleeren Orte, die nationalen Gesetze über „Gerüchteverbreitung“ oder die Frage, ob das Virus von den Fledermäusen oder aus dem P4-Labor stammt.
„Solange es Menschen gibt wie ihn und er in Deutschland Bücher schreiben darf, gibt es Hoffnung“, sagte der taiwanesische Diplomat Jhy-Wey Shieh in seiner Begrüßung. Nur in Taiwan dürfen Liao Yiwus Romane in Originalsprache erscheinen, nachvollziehbar, dass er sich diesem Land verbunden fühlt. Margarete Bause, die Grüne Sprecherin für Menschenrechte, wies dagegen auf den Carlsen-Verlag hin, den das chinesische Generalkonsulat im Vorjahr aufgefordert hatte, das Kinderbuch „Ein Corona-Regenbogen für Anna und Moritz“ zu überarbeiten, verärgert über den Satz, das „Virus kommt aus China und hat sich von dort aus auf der ganzen Welt ausgebreitet“. Carlsen machte das tatsächlich. „So etwas darf in Europa nicht passieren“, sagte Bause und wünschte sich, Deutschland würde sich zum diplomatischen Boykott der Olympischen Spiele entschließen.
Kcriss Li ist übrigens wie andere Bürgerjournalisten seit der Verhaftung im Februar 2020 verschwunden. Nur einmal tauchte er im April noch in einem Video auf, voll des Lobs über faire Behandlung durch die Polizei.
SABINE REITHMAIER
Er schildert die Stimmung
seiner Landsleute in den
ersten Wochen der Pandemie
Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu bei der Vorstellung seines Romans „Wuhan“ in Murnau.
Foto: Foto: Thomas Reche
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Fokke Joel liest gebannt die literarische Dokumentation Liao Yiwus, der den Beginn der Corona Pandemie in Wuhan nachzeichnet. Beginnend mit dem Bericht eines Journalisten, der der Vertuschung der vielen Corona-Toten durch den Staat auf die Schliche kommt, schreitet die Erzählung voran mit der Geschichte des fiktiven Historikers Ai Ding, der kurz nachdem Wuhan und weitere chinesische Großstädte zur Pandemiebekämpfung abgeriegelt wurden, versucht in die Stadt einzureisen und seine Erfahrungen und Beobachtungen schildert. Dem Rezensenten wird schnell klar, welch wichtige Rolle das Internet im autokratisch regierten Land spielt und allmählich ergibt sich ihm ein Eindruck von Chinas "Pandemiealltag", in dem Willkür, Korruption und Gewalt vorherrschen. Mit diesem Buch reihe der Autor sich in das Genre der dokumentarischen Literatur ein, wie Joel feststellt, und entwickelt ein "kunstvolles Patchwork" aus Dokumenten, Zitaten der chinesischen Literaturgeschichte und einer Erzählung, die so zwar nicht belegt ist, aber durchaus wahrhaftig erscheint, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2022Vor unsichtbaren Zeugen
Für die Helden des Alltags, die das Regime lieber vergessen will:
Liao Yiwu beunruhigender Dokumentarroman über Wuhan
VON TILMAN SPENGLER
Der Ursprung jener Pest, die im frühen 14. Jahrhundert ganz Europa als „der schwarze Tod“ heimsuchte, soviel scheint mittlerweile virologisch gesichert, darf mit Nagetieren in Verbindung gebracht werden, die vor sieben Jahrhunderten in der heutigen chinesischen Provinzhauptstadt Wuhan miteinander kopulierten. Eine der vielen poetischen Umschreibungen für Wuhan lautet: „Stadt der Seen“, eine andere: „Chinas Chicago“. Schon das zeigt eine kühne Bandbreite von Projektionen, die aber jener Metropole durchaus gerecht wird, die der gewaltige Strom Yangzi durchschneidet. Der Name der Stadt hatte schon immer einen besonderen Klang, denn Wuhan war das Epizentrum vieler Beben. Hier begann 1911 die Revolution, die dem chinesischen Kaiserreich ein Ende bereitete, hier stieg Mao Zedong 1966 in die Fluten des Yangzi, um mit einer symbolischen Wiedergeburt den Beginn der Kulturrevolution anzukündigen. Und von hier machte sich schließlich seit dem Jahresende 2019 der Corona-Virus auf seinen Weg um den Globus. Nicht nur im meteorologischen Sinn gilt Wuhan als ein „Backofen“ Chinas.
Der vielfach ausgezeichnete Romancier Liao Yiwu – 2012 erhielt er etwa den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – hat in seinem neuen Werk die Stadt zum zentralen Schauplatz seiner Erzählung gemacht und den Ausbruch der Seuche zum alles gestaltenden Faktor. Der Titel des chinesischen Originals „Wenn der Wuhan-Virus kommt“, erinnert daher vielleicht nicht ungewollt an einen schwarzgalligen Film aus den Sechzigern, bei dem Roman Polanski die Regie führte. Den dunklen Seiten jeder und ganz besonders der chinesischen Gesellschaft gehört bekanntlich Liao Yiwus bevorzugte Anteilnahme.
Der grobe Handlungsrahmen lässt sich in wenigen Sätzen nacherzählen: Es gibt zwei männliche Helden, der eine arbeitet als mutiger Enthüllungsjournalist in Wuhan und versucht, durch einen Besuch im Geheimlabor P4 der wahren Geschichte des Ausbruchs dieser Seuche auf die Spur zu kommen. Der zweite Held verbringt gerade als chinesischer Auslandsstipendiat ein Jahr in Berlin und will zum chinesischen Neujahr Frau und Tochter in seiner Heimatstadt Wuhan besuchen. Dieser Held ist kein Dissident, doch sein Nachname gibt auch Uneingeweihten bereits einen kleinen Fingerzeig. Er heißt Ai, wie ein berühmter bildender Künstler, der viele Jahre in Berlin wirkte.
Dem Enthüllungsjournalisten widerfährt, was das voraussehbare Schicksal in der Volksrepublik unter dem Präsidenten Xi Jinping für Enthüllungsjournalisten bereithält. Und auch Herr Ai wird in diesem Frühling kein glückliches Neujahrsfest mit seiner Familie feiern. Soviel darf an dieser Stelle im voraus verraten werden.
Die Geschichte schaltet in hohem Tempo zwischen Berlin, wohin Herr Ai einem chinesischen Landsmann von den mühsamen Etappen seiner Reise berichtet, und Wuhan, dem Wohnsitz der Familie – und dem Einsatzort seines investigativen Journalisten. Für die literarische Vernetzung dieser weit auseinanderliegenden Impulse benutzt Liao Yiwu einen Zauberstab der zeitgenössischen Kommunikation: den Dienstleister WeChat.
Auf Chinesisch heißt dieser Dienstleister Wei Xin, was übersetzt: „Winzige Botschaft“ bedeutet. Eine fast schon poetische Verniedlichung der Übertragung von Botschaften über alles, was für eine Person gerade der Fall ist oder eben auch nicht. Es reicht vom klassischen Gespräch zwischen Personen bis zur Übertragung von Bildern, zum Bestellen und Bezahlen von Gütern und Dienstleistungen, Horoskope werden erstellt, Ehen angebahnt, Autos und Krankenhausbetten bereitgestellt. Kurzum, hier erfüllen sich digitale Träume in den Niederungen des Analogen.
Vor Zeugen, versteht sich. Die Firma WeChat teilt alle Informationen, alle Wünsche und Hoffnungen, die der Dienst vermittelt, mit den zuständigen Organen des chinesischen Staatsapparates. Oder – wie im Roman - auch mit einem Autor, der als Erfinder genauso allwissend ist.
Liao Yiwu, das Opfer staatlicher Willkür, macht sich so auf listige Weise die großen Ohren und die scharfen Linsen der totalitären Macht zunutze. Und er zeigt darüber hinaus, dass er mit diesen Informationen künstlerisch, also berechnend spielerisch umgehen kann. Liaos früheres künstlerisches Werk, die Berichte von unerbittlicher Verfolgung und Demütigung, von seelischem und körperlichen Leid in chinesischen Straflagern trugen formal den Stempel des unerbittlichen Zeugnisses: So und nicht anders hat sich die qualvolle Geschichte zugetragen, genau so sieht die Fratze der Herrschaft aus! Jeder Satz von mir ist mit Schmerz gemeißelt! Eine finstere Welt, voller Ausrufezeichen.
Die Opfer bleiben im neuen Roman die Opfer, so wie die Herrschenden die Herrschenden bleiben. Doch die Techniken der Kommunikation erlauben eine neue, eine andere Art von Widerstand. Klar, die Regierung hat eine massive „Firewall“ hochgezogen, eine Schutzmauer, die dem Volk nur jene „winzigen Botschaften“ zulässt, die ihr genehm sind. Aber selbst diese Mauer kann überwunden werden. Gerade in China tut sich jede Zensur schwer, es mit der Virtuosität von Sprache und Schrift aufnehmen. Für jede Kombination von Zeichen, die offiziell aus dem Verkehr gezogen wird, kann aus dem reichen Fundus der Schrift ein Ersatz gefunden werden, gegen die Macht der Phantasie hilft oft auch der mächtigste Algorithmus nicht.
Liao Yiwu benutzt Chats, die persönlichen und auch die offiziellen Kurznachrichten, fulminant als Stilmittel. So entsteht ein wildbuntes Tapetenmuster von Klein- und Kleinsterzählungen, hier wird ein Gerücht verbreitet, dort von einer Grausamkeit berichtet, dazwischen gestreut immer wieder die Verlautbarungen aus den Waffeleisen der Politsprache. Beim Lesen löst das unterschiedliches Behagen aus, das Internet ist in China genauso wenig ein Hort der Sprachkultur wie bei uns. Manchmal wird leider auch der Autor als Erzähler ein Opfer der Geschwindigkeit, lässt „Knie schlottern“. „auf Granit beißen“, „Schrecken gehörig in die Knochen“ fahren“ und was dergleichen Sorglosigkeiten der flinken sprachlichen Bildfindung noch anbieten. Da mir die Übersetzer, Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann, durchgängig den Eindruck vermittelten, als blickte ich beim Lesen in das chinesische Original, lösten die Beispiele eine unnötige Irritation aus.
Der Autor hat seine neue Schöpfung einen „Dokumentarroman“ genannt, mithin einem Genre zugeordnet, das das Fiktive von Literatur mit der Authentizität belegbarer Fakten, realer Personen oder gesicherter Verläufe abgleicht.
Das ist schon deshalb eine Notwendigkeit, weil der Roman auch für ein Land geschrieben wurde, in dem Literatur sehr genau und vornehmlich unter forensischen Gesichtspunkten gelesen wird.
Und so kann es geschehen, dass im Text Figuren des Zeitgeschehens unter ihrem wahren Namen auftreten, unter ihrem Pseudonym oder unter einem Schleier, den der Autor allein für sie geschaffen hat. Den einen oder anderen Leser, der die chinesische Innenpolitik nicht ständig verfolgt, mag das verstören.
Doch recht besehen verfolgt Liao Yiwu hier auch ein ganz anderes Ziel: Er schafft Erinnerungstafeln für Helden des Alltags, wie eben jenen Arzt, der damals in Wuhan als erster vom Ausbruch des Virus berichtete. Eine totalitäre Geschichtsschreibung wird vermutlich bald für das Löschen dieser Erinnerungen sorgen.
Im Gedächtnis bewahren werden dagegen alle Bewohner von Wuhan, wie die Seuche sie unter ihren Landsleuten stigmatisierte, wie der Name der Stadt zur Chiffre für eine unsichtbare, schicksalhafte Bedrohung wurde. Ob in diesem Aspekt die Erzählung von Liao Yiwu mehr durch das Romanhafte als das Dokumentarische bestimmt wurde, lässt sich von Außenstehenden schwer entscheiden, es ist vielleicht auch unerheblich, weil schon der Hinweis auf das Mögliche, nämlich die Gefahr eines durch Gerüchte angezettelten Notstandes mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen hinlänglichen Schrecken verbreitet.
Dagegen wirkte das vielbeachtete „Tagebuch aus einer gesperrten Stadt“, das deutschen Lesern und Leserinnen vor mittlerweile knapp zwei Jahren die Schriftstellerin Fang Fang aus Wuhan hinterließ, schon eher beruhigend. Naturgemäß durfte auch dieses Werk nicht an die chinesische Öffentlichkeit gelangen.
Der Messenger-Dienst WeChat
teilt alle Informationen mit dem
chinesischen Staatsapparat
Die neue Kommunikationstechnik
erlaubt eine neue, eine andere
Art von Widerstand
Das Internet ist in China
genauso wenig ein Hort der
Sprachkultur wie bei uns
Chiffre für eine unsichtbare, schicksalhafte Bedrohung: Wuhan während des Lockdowns im Februar 2020.
Foto: Getty
Liao Yiwu: Wuhan. Dokumentarroman. Aus dem Chinesischen von Brigitte Hohenrieder und Hans Peter Hoffman. S. Fischer, Frankfurt 2021. 352 Seiten.
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Für die Helden des Alltags, die das Regime lieber vergessen will:
Liao Yiwu beunruhigender Dokumentarroman über Wuhan
VON TILMAN SPENGLER
Der Ursprung jener Pest, die im frühen 14. Jahrhundert ganz Europa als „der schwarze Tod“ heimsuchte, soviel scheint mittlerweile virologisch gesichert, darf mit Nagetieren in Verbindung gebracht werden, die vor sieben Jahrhunderten in der heutigen chinesischen Provinzhauptstadt Wuhan miteinander kopulierten. Eine der vielen poetischen Umschreibungen für Wuhan lautet: „Stadt der Seen“, eine andere: „Chinas Chicago“. Schon das zeigt eine kühne Bandbreite von Projektionen, die aber jener Metropole durchaus gerecht wird, die der gewaltige Strom Yangzi durchschneidet. Der Name der Stadt hatte schon immer einen besonderen Klang, denn Wuhan war das Epizentrum vieler Beben. Hier begann 1911 die Revolution, die dem chinesischen Kaiserreich ein Ende bereitete, hier stieg Mao Zedong 1966 in die Fluten des Yangzi, um mit einer symbolischen Wiedergeburt den Beginn der Kulturrevolution anzukündigen. Und von hier machte sich schließlich seit dem Jahresende 2019 der Corona-Virus auf seinen Weg um den Globus. Nicht nur im meteorologischen Sinn gilt Wuhan als ein „Backofen“ Chinas.
Der vielfach ausgezeichnete Romancier Liao Yiwu – 2012 erhielt er etwa den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – hat in seinem neuen Werk die Stadt zum zentralen Schauplatz seiner Erzählung gemacht und den Ausbruch der Seuche zum alles gestaltenden Faktor. Der Titel des chinesischen Originals „Wenn der Wuhan-Virus kommt“, erinnert daher vielleicht nicht ungewollt an einen schwarzgalligen Film aus den Sechzigern, bei dem Roman Polanski die Regie führte. Den dunklen Seiten jeder und ganz besonders der chinesischen Gesellschaft gehört bekanntlich Liao Yiwus bevorzugte Anteilnahme.
Der grobe Handlungsrahmen lässt sich in wenigen Sätzen nacherzählen: Es gibt zwei männliche Helden, der eine arbeitet als mutiger Enthüllungsjournalist in Wuhan und versucht, durch einen Besuch im Geheimlabor P4 der wahren Geschichte des Ausbruchs dieser Seuche auf die Spur zu kommen. Der zweite Held verbringt gerade als chinesischer Auslandsstipendiat ein Jahr in Berlin und will zum chinesischen Neujahr Frau und Tochter in seiner Heimatstadt Wuhan besuchen. Dieser Held ist kein Dissident, doch sein Nachname gibt auch Uneingeweihten bereits einen kleinen Fingerzeig. Er heißt Ai, wie ein berühmter bildender Künstler, der viele Jahre in Berlin wirkte.
Dem Enthüllungsjournalisten widerfährt, was das voraussehbare Schicksal in der Volksrepublik unter dem Präsidenten Xi Jinping für Enthüllungsjournalisten bereithält. Und auch Herr Ai wird in diesem Frühling kein glückliches Neujahrsfest mit seiner Familie feiern. Soviel darf an dieser Stelle im voraus verraten werden.
Die Geschichte schaltet in hohem Tempo zwischen Berlin, wohin Herr Ai einem chinesischen Landsmann von den mühsamen Etappen seiner Reise berichtet, und Wuhan, dem Wohnsitz der Familie – und dem Einsatzort seines investigativen Journalisten. Für die literarische Vernetzung dieser weit auseinanderliegenden Impulse benutzt Liao Yiwu einen Zauberstab der zeitgenössischen Kommunikation: den Dienstleister WeChat.
Auf Chinesisch heißt dieser Dienstleister Wei Xin, was übersetzt: „Winzige Botschaft“ bedeutet. Eine fast schon poetische Verniedlichung der Übertragung von Botschaften über alles, was für eine Person gerade der Fall ist oder eben auch nicht. Es reicht vom klassischen Gespräch zwischen Personen bis zur Übertragung von Bildern, zum Bestellen und Bezahlen von Gütern und Dienstleistungen, Horoskope werden erstellt, Ehen angebahnt, Autos und Krankenhausbetten bereitgestellt. Kurzum, hier erfüllen sich digitale Träume in den Niederungen des Analogen.
Vor Zeugen, versteht sich. Die Firma WeChat teilt alle Informationen, alle Wünsche und Hoffnungen, die der Dienst vermittelt, mit den zuständigen Organen des chinesischen Staatsapparates. Oder – wie im Roman - auch mit einem Autor, der als Erfinder genauso allwissend ist.
Liao Yiwu, das Opfer staatlicher Willkür, macht sich so auf listige Weise die großen Ohren und die scharfen Linsen der totalitären Macht zunutze. Und er zeigt darüber hinaus, dass er mit diesen Informationen künstlerisch, also berechnend spielerisch umgehen kann. Liaos früheres künstlerisches Werk, die Berichte von unerbittlicher Verfolgung und Demütigung, von seelischem und körperlichen Leid in chinesischen Straflagern trugen formal den Stempel des unerbittlichen Zeugnisses: So und nicht anders hat sich die qualvolle Geschichte zugetragen, genau so sieht die Fratze der Herrschaft aus! Jeder Satz von mir ist mit Schmerz gemeißelt! Eine finstere Welt, voller Ausrufezeichen.
Die Opfer bleiben im neuen Roman die Opfer, so wie die Herrschenden die Herrschenden bleiben. Doch die Techniken der Kommunikation erlauben eine neue, eine andere Art von Widerstand. Klar, die Regierung hat eine massive „Firewall“ hochgezogen, eine Schutzmauer, die dem Volk nur jene „winzigen Botschaften“ zulässt, die ihr genehm sind. Aber selbst diese Mauer kann überwunden werden. Gerade in China tut sich jede Zensur schwer, es mit der Virtuosität von Sprache und Schrift aufnehmen. Für jede Kombination von Zeichen, die offiziell aus dem Verkehr gezogen wird, kann aus dem reichen Fundus der Schrift ein Ersatz gefunden werden, gegen die Macht der Phantasie hilft oft auch der mächtigste Algorithmus nicht.
Liao Yiwu benutzt Chats, die persönlichen und auch die offiziellen Kurznachrichten, fulminant als Stilmittel. So entsteht ein wildbuntes Tapetenmuster von Klein- und Kleinsterzählungen, hier wird ein Gerücht verbreitet, dort von einer Grausamkeit berichtet, dazwischen gestreut immer wieder die Verlautbarungen aus den Waffeleisen der Politsprache. Beim Lesen löst das unterschiedliches Behagen aus, das Internet ist in China genauso wenig ein Hort der Sprachkultur wie bei uns. Manchmal wird leider auch der Autor als Erzähler ein Opfer der Geschwindigkeit, lässt „Knie schlottern“. „auf Granit beißen“, „Schrecken gehörig in die Knochen“ fahren“ und was dergleichen Sorglosigkeiten der flinken sprachlichen Bildfindung noch anbieten. Da mir die Übersetzer, Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann, durchgängig den Eindruck vermittelten, als blickte ich beim Lesen in das chinesische Original, lösten die Beispiele eine unnötige Irritation aus.
Der Autor hat seine neue Schöpfung einen „Dokumentarroman“ genannt, mithin einem Genre zugeordnet, das das Fiktive von Literatur mit der Authentizität belegbarer Fakten, realer Personen oder gesicherter Verläufe abgleicht.
Das ist schon deshalb eine Notwendigkeit, weil der Roman auch für ein Land geschrieben wurde, in dem Literatur sehr genau und vornehmlich unter forensischen Gesichtspunkten gelesen wird.
Und so kann es geschehen, dass im Text Figuren des Zeitgeschehens unter ihrem wahren Namen auftreten, unter ihrem Pseudonym oder unter einem Schleier, den der Autor allein für sie geschaffen hat. Den einen oder anderen Leser, der die chinesische Innenpolitik nicht ständig verfolgt, mag das verstören.
Doch recht besehen verfolgt Liao Yiwu hier auch ein ganz anderes Ziel: Er schafft Erinnerungstafeln für Helden des Alltags, wie eben jenen Arzt, der damals in Wuhan als erster vom Ausbruch des Virus berichtete. Eine totalitäre Geschichtsschreibung wird vermutlich bald für das Löschen dieser Erinnerungen sorgen.
Im Gedächtnis bewahren werden dagegen alle Bewohner von Wuhan, wie die Seuche sie unter ihren Landsleuten stigmatisierte, wie der Name der Stadt zur Chiffre für eine unsichtbare, schicksalhafte Bedrohung wurde. Ob in diesem Aspekt die Erzählung von Liao Yiwu mehr durch das Romanhafte als das Dokumentarische bestimmt wurde, lässt sich von Außenstehenden schwer entscheiden, es ist vielleicht auch unerheblich, weil schon der Hinweis auf das Mögliche, nämlich die Gefahr eines durch Gerüchte angezettelten Notstandes mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen hinlänglichen Schrecken verbreitet.
Dagegen wirkte das vielbeachtete „Tagebuch aus einer gesperrten Stadt“, das deutschen Lesern und Leserinnen vor mittlerweile knapp zwei Jahren die Schriftstellerin Fang Fang aus Wuhan hinterließ, schon eher beruhigend. Naturgemäß durfte auch dieses Werk nicht an die chinesische Öffentlichkeit gelangen.
Der Messenger-Dienst WeChat
teilt alle Informationen mit dem
chinesischen Staatsapparat
Die neue Kommunikationstechnik
erlaubt eine neue, eine andere
Art von Widerstand
Das Internet ist in China
genauso wenig ein Hort der
Sprachkultur wie bei uns
Chiffre für eine unsichtbare, schicksalhafte Bedrohung: Wuhan während des Lockdowns im Februar 2020.
Foto: Getty
Liao Yiwu: Wuhan. Dokumentarroman. Aus dem Chinesischen von Brigitte Hohenrieder und Hans Peter Hoffman. S. Fischer, Frankfurt 2021. 352 Seiten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2022Chinesischer Traum
Liao Yiwu mischt Erzählung, Dokumentation und Spekulation, um dem pandemischen Verhängnis von Wuhan auf die Spur zu kommen.
Seit mehr als zehn Jahren lebt der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu nun schon im Berliner Exil. Seine literarische Stimme ist so unverwechselbar sarkastisch, wütend, traurig, witzig und zärtlich zugleich geblieben wie in seinen großen Werken über den "Bodensatz der chinesischen Gesellschaft", die ihm unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels eingetragen haben. In seinem jüngsten Buch, ausgewiesen als "Dokumentarroman", versucht ein Geschichtsdozent namens Ai Ding, der gerade einen Gastaufenthalt in Berlin hinter sich hat, zu Beginn der Corona-Seuche in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo Frau und Kind auf ihn warten: Wuhan. Doch diese Stadt ist, nachdem die Behörden die Verbreitung des Virus dort zuerst vertuscht hatten, nun komplett abgeriegelt, und die Heimreise entwickelt sich zu einer wochenlangen Irrfahrt mit immer surrealeren Zügen.
Einmal sieht sich Ai Ding schon fast am Ziel, als ihn die Polizei mit einem Passierschein und einem Motorrad nebst Fahrer aus der Quarantäne entlässt. Auf dem Weg zum Bahnhof, von wo aus dann der Zug nach Wuhan fahren soll, singt der Chauffeur auf dem Motorrad, hochzufrieden mit dem Wucherpreis für die Fahrt, voll Inbrunst in seinem Heimatdialekt alte Revolutionslieder ("Bruder Aff' wird Rotarmist, Rotarmisten woll'n ihn nicht . . ."), und als kurz vor Changsha, wo der junge Mao im Fluss geschwommen haben soll, eine "in allen Farben des Regenbogens irisierende Wolke" über ihnen erscheint, gerät er ganz aus dem Häuschen: "Wahnsinn! Ein ziemlich dicker Packen 100 Yuan-Scheine da am Himmel! Es ist schon so, Vater und Mutter sind einem nicht so teuer wie der Kopf des Vorsitzenden Mao mitten drauf auf den Geldscheinen . . ." Doch von einem Moment zum anderen wird er plötzlich stocksteif, das Motorrad beginnt zu schlingern, der mitfahrende Geschichtsdozent kann es gerade noch in seine Gewalt bringen. Der Chauffeur aber röchelt nur noch, und ein paar Sekunden später ist er tot. So lässt das Virus eine burleske, mit geschichtlichen Assoziationen gespickte Alltagsszene, wie nur Liao Yiwu sie schildern kann, unvermittelt ins Absurde abkippen: Die brutal illusionslose Perspektive von unten, in der maoistische Folklore mit dem nur allzu kapitalistischen Überlebenskampf der real existierenden chinesischen Proletarier vermengt ist, erfährt durch die Epidemie eine weitere Zuspitzung.
Doch Liao bleibt in seinem neuen Buch nicht bei dieser fiktiven Handlung, er bettet sie vielmehr in ein Kaleidoskop aus Internetfundstücken, Nachrichten, Mutmaßungen und Polemiken rund um die erste Phase der Seuche ein. Das Bindeglied stellen vor allem die Videotelefonate zwischen dem Protagonisten Ai Ding und seinem Freund in Berlin, dem Schriftsteller Zhuang Zigui, her, in dem man nicht nur seines "Glatzkopfs" wegen Züge des Autors selbst erkennen kann. Zhuang ist ein eifriger Rechercheur im Internet, und so sind seine Funde die ständigen Gegenstände ihrer Gespräche. Immer wieder geht es darum, ob das Virus womöglich dem Forschungslabor P4 in Wuhan entsprungen sein könnte - deutet nicht schon die eingangs nacherzählte Episode der Verhaftung des Bürgerjournalisten Kcriss ganz in der Nähe dieses Instituts darauf hin? - oder ob es gar Teil einer "Unrestricted War"-Strategie Chinas sein könnte. Nicht, dass sich der Autor oder auch nur eine seiner Figuren solche Spekulationen zu eigen machten, immer wieder werden auch Gegenargumente genannt, doch weder der Autor noch die beiden Hauptpersonen lassen einen Zweifel daran, dass sie die Kommunistische Partei selbst schon für das Verhängnis des Landes halten.
Auch viele den sozialen Medien entnommene Szenen von verlassenen und im Elend am Virus verendenden Menschen tragen zu der zwischen Groteske und Apokalypse schwankenden Grundstimmung bei. Doch oft wirkt der Versuch, Informationen, Meinungen und Gerüchte in die Handlung zu verweben, unbeholfen. Das liegt nicht nur an der hölzernen Nachrichtensprache, die inmitten des sonst so respektlos anarchischen Tons Liaos wie ein Fremdkörper erscheint. Es liegt auch an der didaktischen Bemühtheit, mit der eine Hintergrundinformation nach der nächsten den Protagonisten in den Mund gelegt wird, etwa wenn "in einem weiteren ihrer Online-Gespräche Zhuang Zigui Ai Ding" erzählte, "dass die Staatsoberhäupter von Europa und Amerika, ganz im Sinne von Chefredakteur Hu, zunächst durchaus optimistisch und gegenüber China voll guten Willens gewesen seien". In solchen Momenten scheinen die Figuren nicht mehr aus sich heraus zu leben, sondern nur Nachrichten und Ideen zu illustrieren. Die Zwitterhaftigkeit bekommt dann auch der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht gut. Argumentationen werden da nicht durchgehalten, sondern nur angerissen, suggeriert; als Rollenprosa heben sie sich im Zweifel gegenseitig auf.
Wo er erzählt, ist Liao Yiwu dagegen so markant wie eh und je. Schon in seinem Ton wird die Kraft dieses Autors gegenwärtig, der keinem Schmerz und keinem Schrecken ausweicht und dabei noch Sinn für Situationskomik und ein frappierendes Zartgefühl entwickelt. Einmal gibt er diese Gestalt auch direkt zu erkennen, als sein Alter Ego im Roman den verzweifelten Freund in China übers Internet mit seinem Flötenspiel tröstet und ihm Ratschläge fürs Trinken hochprozentiger Getränke gibt: "Beim Trinken geht es nicht darum, sich zu betäuben, sondern seine Gefühle auf die Reihe zu bekommen." Für seine Literatur gilt womöglich Ähnliches. MARK SIEMONS
Liao Yiwu: "Wuhan".
Dokumentarroman.
Aus dem Chinesischen
von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 352 S.,
geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Liao Yiwu mischt Erzählung, Dokumentation und Spekulation, um dem pandemischen Verhängnis von Wuhan auf die Spur zu kommen.
Seit mehr als zehn Jahren lebt der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu nun schon im Berliner Exil. Seine literarische Stimme ist so unverwechselbar sarkastisch, wütend, traurig, witzig und zärtlich zugleich geblieben wie in seinen großen Werken über den "Bodensatz der chinesischen Gesellschaft", die ihm unter anderem den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels eingetragen haben. In seinem jüngsten Buch, ausgewiesen als "Dokumentarroman", versucht ein Geschichtsdozent namens Ai Ding, der gerade einen Gastaufenthalt in Berlin hinter sich hat, zu Beginn der Corona-Seuche in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo Frau und Kind auf ihn warten: Wuhan. Doch diese Stadt ist, nachdem die Behörden die Verbreitung des Virus dort zuerst vertuscht hatten, nun komplett abgeriegelt, und die Heimreise entwickelt sich zu einer wochenlangen Irrfahrt mit immer surrealeren Zügen.
Einmal sieht sich Ai Ding schon fast am Ziel, als ihn die Polizei mit einem Passierschein und einem Motorrad nebst Fahrer aus der Quarantäne entlässt. Auf dem Weg zum Bahnhof, von wo aus dann der Zug nach Wuhan fahren soll, singt der Chauffeur auf dem Motorrad, hochzufrieden mit dem Wucherpreis für die Fahrt, voll Inbrunst in seinem Heimatdialekt alte Revolutionslieder ("Bruder Aff' wird Rotarmist, Rotarmisten woll'n ihn nicht . . ."), und als kurz vor Changsha, wo der junge Mao im Fluss geschwommen haben soll, eine "in allen Farben des Regenbogens irisierende Wolke" über ihnen erscheint, gerät er ganz aus dem Häuschen: "Wahnsinn! Ein ziemlich dicker Packen 100 Yuan-Scheine da am Himmel! Es ist schon so, Vater und Mutter sind einem nicht so teuer wie der Kopf des Vorsitzenden Mao mitten drauf auf den Geldscheinen . . ." Doch von einem Moment zum anderen wird er plötzlich stocksteif, das Motorrad beginnt zu schlingern, der mitfahrende Geschichtsdozent kann es gerade noch in seine Gewalt bringen. Der Chauffeur aber röchelt nur noch, und ein paar Sekunden später ist er tot. So lässt das Virus eine burleske, mit geschichtlichen Assoziationen gespickte Alltagsszene, wie nur Liao Yiwu sie schildern kann, unvermittelt ins Absurde abkippen: Die brutal illusionslose Perspektive von unten, in der maoistische Folklore mit dem nur allzu kapitalistischen Überlebenskampf der real existierenden chinesischen Proletarier vermengt ist, erfährt durch die Epidemie eine weitere Zuspitzung.
Doch Liao bleibt in seinem neuen Buch nicht bei dieser fiktiven Handlung, er bettet sie vielmehr in ein Kaleidoskop aus Internetfundstücken, Nachrichten, Mutmaßungen und Polemiken rund um die erste Phase der Seuche ein. Das Bindeglied stellen vor allem die Videotelefonate zwischen dem Protagonisten Ai Ding und seinem Freund in Berlin, dem Schriftsteller Zhuang Zigui, her, in dem man nicht nur seines "Glatzkopfs" wegen Züge des Autors selbst erkennen kann. Zhuang ist ein eifriger Rechercheur im Internet, und so sind seine Funde die ständigen Gegenstände ihrer Gespräche. Immer wieder geht es darum, ob das Virus womöglich dem Forschungslabor P4 in Wuhan entsprungen sein könnte - deutet nicht schon die eingangs nacherzählte Episode der Verhaftung des Bürgerjournalisten Kcriss ganz in der Nähe dieses Instituts darauf hin? - oder ob es gar Teil einer "Unrestricted War"-Strategie Chinas sein könnte. Nicht, dass sich der Autor oder auch nur eine seiner Figuren solche Spekulationen zu eigen machten, immer wieder werden auch Gegenargumente genannt, doch weder der Autor noch die beiden Hauptpersonen lassen einen Zweifel daran, dass sie die Kommunistische Partei selbst schon für das Verhängnis des Landes halten.
Auch viele den sozialen Medien entnommene Szenen von verlassenen und im Elend am Virus verendenden Menschen tragen zu der zwischen Groteske und Apokalypse schwankenden Grundstimmung bei. Doch oft wirkt der Versuch, Informationen, Meinungen und Gerüchte in die Handlung zu verweben, unbeholfen. Das liegt nicht nur an der hölzernen Nachrichtensprache, die inmitten des sonst so respektlos anarchischen Tons Liaos wie ein Fremdkörper erscheint. Es liegt auch an der didaktischen Bemühtheit, mit der eine Hintergrundinformation nach der nächsten den Protagonisten in den Mund gelegt wird, etwa wenn "in einem weiteren ihrer Online-Gespräche Zhuang Zigui Ai Ding" erzählte, "dass die Staatsoberhäupter von Europa und Amerika, ganz im Sinne von Chefredakteur Hu, zunächst durchaus optimistisch und gegenüber China voll guten Willens gewesen seien". In solchen Momenten scheinen die Figuren nicht mehr aus sich heraus zu leben, sondern nur Nachrichten und Ideen zu illustrieren. Die Zwitterhaftigkeit bekommt dann auch der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht gut. Argumentationen werden da nicht durchgehalten, sondern nur angerissen, suggeriert; als Rollenprosa heben sie sich im Zweifel gegenseitig auf.
Wo er erzählt, ist Liao Yiwu dagegen so markant wie eh und je. Schon in seinem Ton wird die Kraft dieses Autors gegenwärtig, der keinem Schmerz und keinem Schrecken ausweicht und dabei noch Sinn für Situationskomik und ein frappierendes Zartgefühl entwickelt. Einmal gibt er diese Gestalt auch direkt zu erkennen, als sein Alter Ego im Roman den verzweifelten Freund in China übers Internet mit seinem Flötenspiel tröstet und ihm Ratschläge fürs Trinken hochprozentiger Getränke gibt: "Beim Trinken geht es nicht darum, sich zu betäuben, sondern seine Gefühle auf die Reihe zu bekommen." Für seine Literatur gilt womöglich Ähnliches. MARK SIEMONS
Liao Yiwu: "Wuhan".
Dokumentarroman.
Aus dem Chinesischen
von Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 352 S.,
geb., 24,- Euro.
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Unterfüttert mit Zitaten aus Videos, Blogs und wissenschaftlichen Zeitschriften, bietet dieser "Dokumentarroman" einen atemberaubenden Einblick in eine wenig bekannte Gesellschaft im Moment höchster Krise. Kristin Breitenfellner Falter 20220511