In seinen im November 2014 gehaltenen Poetikvorlesungen spricht Marcel Beyer über »die Löcher im Stoff der Wirklichkeit", über Wirklichkeit also, die kein kontinuierliches Ganzes bildet, sondern aus Inseln (und Löchern) zusammenzusetzen ist und sich nicht zuletzt aus medialen Fiktionen speist. Er spricht über einen Tag im Herbst, an dem er in einem Flugzeug aus Paris nach Frankfurt sitzt, in der Reihe vor sich eine fernsehbekannte Literaturkritikerin. Das Notieren der sehr konkreten Situation verkoppelt Beyer mit dem Nachdenken über Georges Perec, der 1974 drei Tage lang schreibend versuchte, einen Platz in Paris »erschöpfend zu erfassen". Perec, das Waisenkind jüdischer Einwanderer, musste sich seine Kindheitserinnerungen erst erschreiben, wohingegen in Cécile Wajsbrots Protokoll der geistigen Erkrankung ihres Vaters dieser allmählich alle Erinnerungen verliert. In den Blick nimmt Beyer nicht weniger als das 20. Jahrhundert, die »Faktenlage" - und die Imaginationsarbeit, die notwendig ist, will man sich eine eigene Lebensgeschichte schaffen. Ein Punkt, an dem »Alice im Wunderland" ins Spiel kommt, und sei es auch nur in Form weißer Kaninchen, die durch die Szene laufen und rufen: »Jemine, jemine, keine Zeit, keine Zeit."
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lothar Müller kann nur staunen, wie es Marcel Beyer in seinen nun erschienenen Lichtenberg-Poetikvorlesungen gelingt, seine Poetik der Beschreibung und seinen Möglichkeitssinn zu illustrieren. Dass dies anhand des unsäglichen Auftritts von Elke Heidenreich in der Schweizer TV-Sendung "Literaturclub" am 22.4.2014 geschieht, wo die Literaturkritikerin in hysterischer Manier ein Heidegger-Zitat verteidigt, das es nicht gibt, scheint Müller bemerkenswert. Nicht nur, weil es die erste Antwort der deutschen Literatur auf diese Szene darstellt, wie Müller erklärt, sondern auch der Band für den Rezensenten im satirischen Fortdichten der Heidenreich-Szene seine größte Schärfe entwickelt, wie er schreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2015Die Meisterschülerin
Goggelmoggels
Marcel Beyers Lichtenberg-Poetikvorlesungen
Ohne dass sie es hätte bemerken können, war der 8. September 2014 kein guter Tag für die Literaturkritikerin Elke Heidenreich. Denn an diesem Tag geriet sie als Hauptfigur in die Lichtenberg-Poetikvorlesungen, die der Schriftsteller Marcel Beyer zwei Monate später, am 12. und 13. November 2014, in Göttingen hielt. Am Vortag, dem 7. September, einem Sonntag, war die Kritikerin mit ihrem Programm „Einseitige Geschichten – vielseitige Musik“ auf Schloss Wackerbarth in Radebeul aufgetreten, vor ausverkauftem Saal. Nun saß sie mit ihrem Begleiter in Reihe 5 des Lufthansa-Fluges LH 211 von Dresden International Airport nach Frankfurt am Main, hinter sich den ihr unbekannten Schriftsteller, der wenig später in sein schwarzes Notizheft den Vorsatz eintrug: „Dies alles für Göttingen, genau dieser 8. September“.
Jetzt sind Marcel Beyers Poetik-Vorlesungen im Druck erschienen. Ihr Namensgeber, Georg Christoph Lichtenberg, der große Göttinger Aufklärer, der in seinen „Sudelbüchern“ zeigte, was in Notiz, Entwurf und Skizze steckt, wenn der vom Konjunktiv entfesselte Möglichkeitssinn einem Autor die Feder führt, kommt darin nicht vor. Ihr Schutzpatron ist er gleichwohl. Marcel Beyer legt, wie es der Sinn solcher Vorlesungen ist, Rechenschaft ab über seine eigene Poetik. Er spricht über seine Vorliebe für die Poetik der Beschreibung, für Bücher wie den „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ von Georges Perec, über die Romane und Essays von Claude Simon und sein Plädoyer für die „Befreiung der Beschreibung von ihrer Funktion als bloßem Dekor, bloßer Zutat, mit deren Hilfe die Romanverwicklungen ausgemalt werden“.
Und er spricht, vom ersten Satz an, über die Literaturkritikerin, ohne ihren Namen jemals zu nennen. Er identifiziert sie durch die exakte Beschreibung ihres denkwürdigen Auftritts am 22. April 2014 in der Sendung „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehsenders SRF. Es ging darin, unter anderem, um die „Schwarzen Hefte“ des Philosophen Martin Heidegger und die Frage, wie nahe er dem Vernichtungs-Antisemitismus des Nationalsozialismus in diesen Aufzeichnungen gekommen ist. Auf der Website des Senders wie auf Youtube kann man die Fernsehszene anschauen, hier ihre Umschrift durch Marcel Beyer: „indem sie aus dem Buch auf ihren Knien abzulesen vorgibt, sagt sie: ,Die verborgene Deutschheit muss man entbergen. Und das tun wir, indem wir die Juden endlich beseitigen aus Deutschland.‘ Der Moderator sagt: ,Also dieser Satz steht aber nicht in dem Band, über den wir jetzt reden.‘ Und sie: ,Doch.‘ Und er: ,Nein.‘ Und sie, mitten aus ihrem folgenden Satz heraus: ,DOCH.‘ Und er, ruhig: ,Nein.‘ Und sie, von phänomenaler Ungeduld erfasst: ,DOCH.‘ Und er, kaum mehr hörbar: ,Nein.‘ Und sie, indem sie das Buch auf den Tisch wirft: ,DOCH!‘ Betretenes Schweigen. Es ist, als hätte sie auf das Buch uriniert.“
Wie ein Refrain kehrt diese Szene in diesen Poetik-Vorlesungen immer wieder. Sie sind die erste Antwort der deutschen Gegenwartsliteratur auf den Auftritt der Kritikerin, „die es als Beleidigung empfunden hatte, sich auf ein grob falsches, den vermeintlichen Autor verleumdendes Zitat hinweisen lassen zu müssen“, der es mit ihrer Aufkündigung der Geschäftsgrundlage literarischer Kritik – über Texte zu urteilen, wie sie geschrieben stehen – sehr viel besser erging als dem Minister Guttenberg mit seinem Plagiat und die also weiterhin an dem Tisch sitzt, auf den sie das Buch geknallt hat.
Die Beschreibung der Szene erfolgt bei Marcel Beyer nicht sine ira et studio. Seine Beschreibung ist Anti-Kritik der Beendigung der Affäre durch Aussitzen. Der Lichtenbergsche Konjunktiv erfasst die Szene und überblendet sie mit Eindrücken von der Flugreise des Autors, dessen Umhängetasche – sie enthält das Buch „Die Köpfe der Hydra“ der französischen Autorin Cécile Wajsbrot – nach der Landung der Begleiter der Kritikerin aus der Gepäckablage heraus versehentlich zu Boden wirft.
Im Terminal des Flughafens hat Beyer ein Werbeplakat für den Fernsehfilm gesehen, in dem Veronica Ferres im Herbst 2014 die Bundeskanzlerin spielte, der im Film eine Affäre mit dem französischen Staatspräsidenten angedichtet wurde. Schon erfindet der Möglichkeitssinn einen Auftritt von Veronica Ferres „in der Rolle einer Heideggerforscherin, die in einer öffentlich-rechtlichen Produktion mit dem geheimnisvollen Titel Entbergen / Vernichten zu ihrem Entsetzen in Martin Heideggers geheimen Handschriften auf Sätze stößt, die allen bisherigen Heideggerforschern entgangen sind“.
Nicht in satirischen Passagen wie dieser entfaltet dieses Büchlein seine größte Schärfe. „XX“, zweimal die lateinische Zehn führt es im Titel, weil es den Fauxpas der Kritikerin mit der Literatur konfrontiert, die vom zwanzigsten Jahrhundert, vom Stoff Heideggers berichtet: mit dem Heidegger-Kritiker Georges-Arthur Goldschmidt, mit der Suche Georges Perecs, dessen Vater als Freiwilliger der französischen Armee tödlich verletzt wurde und dessen Mutter im Konzentrationslager starb, nach Kindheitserinnerungen, mit den antisemitischen Pamphleten Célines, in denen Sätze stehen, wie sie die Kritikerin Heidegger unterschob.
Marcel Beyer überblendet die Kritikerin durchgängig mit der zornigen, puterroten Königin aus „Alice in Wonderland“. Deren „Kopf ab!“-Kommandos folgen dem Gesetz, das der Goggelmoggel ausplaudert: „,Wenn ich ein Wort gebrauche‘, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ,dann heißt es genau, was ich für richtig halte – und nicht mehr und nicht weniger.‘ „Es fragt sich nur‘, sagte Alice, ,ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‘ ,Es fragt sich nur‘, sagte Goggelmoggel, ,wer der Stärkere ist, weiter nichts.‘“
Lichtenberg kommt bei Marcel Beyer nicht vor. Aber dafür kommt Elke Heidenreich in Lichtenbergs „Sudelbüchern“ vor: „Diese Frau war mit einer Zunge schon eine Fama, was würde sie erst getan haben, wenn sie tausendzüngig gewesen wäre.“
LOTHAR MÜLLER
Marcel Beyer: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 78 Seiten, 12,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Der 8. September 2014 war kein
guter Tag für Elke Heidenreich
Das Kommando der Königin in
„Alice in Wonderland“: „Kopf ab!“
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Goggelmoggels
Marcel Beyers Lichtenberg-Poetikvorlesungen
Ohne dass sie es hätte bemerken können, war der 8. September 2014 kein guter Tag für die Literaturkritikerin Elke Heidenreich. Denn an diesem Tag geriet sie als Hauptfigur in die Lichtenberg-Poetikvorlesungen, die der Schriftsteller Marcel Beyer zwei Monate später, am 12. und 13. November 2014, in Göttingen hielt. Am Vortag, dem 7. September, einem Sonntag, war die Kritikerin mit ihrem Programm „Einseitige Geschichten – vielseitige Musik“ auf Schloss Wackerbarth in Radebeul aufgetreten, vor ausverkauftem Saal. Nun saß sie mit ihrem Begleiter in Reihe 5 des Lufthansa-Fluges LH 211 von Dresden International Airport nach Frankfurt am Main, hinter sich den ihr unbekannten Schriftsteller, der wenig später in sein schwarzes Notizheft den Vorsatz eintrug: „Dies alles für Göttingen, genau dieser 8. September“.
Jetzt sind Marcel Beyers Poetik-Vorlesungen im Druck erschienen. Ihr Namensgeber, Georg Christoph Lichtenberg, der große Göttinger Aufklärer, der in seinen „Sudelbüchern“ zeigte, was in Notiz, Entwurf und Skizze steckt, wenn der vom Konjunktiv entfesselte Möglichkeitssinn einem Autor die Feder führt, kommt darin nicht vor. Ihr Schutzpatron ist er gleichwohl. Marcel Beyer legt, wie es der Sinn solcher Vorlesungen ist, Rechenschaft ab über seine eigene Poetik. Er spricht über seine Vorliebe für die Poetik der Beschreibung, für Bücher wie den „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ von Georges Perec, über die Romane und Essays von Claude Simon und sein Plädoyer für die „Befreiung der Beschreibung von ihrer Funktion als bloßem Dekor, bloßer Zutat, mit deren Hilfe die Romanverwicklungen ausgemalt werden“.
Und er spricht, vom ersten Satz an, über die Literaturkritikerin, ohne ihren Namen jemals zu nennen. Er identifiziert sie durch die exakte Beschreibung ihres denkwürdigen Auftritts am 22. April 2014 in der Sendung „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehsenders SRF. Es ging darin, unter anderem, um die „Schwarzen Hefte“ des Philosophen Martin Heidegger und die Frage, wie nahe er dem Vernichtungs-Antisemitismus des Nationalsozialismus in diesen Aufzeichnungen gekommen ist. Auf der Website des Senders wie auf Youtube kann man die Fernsehszene anschauen, hier ihre Umschrift durch Marcel Beyer: „indem sie aus dem Buch auf ihren Knien abzulesen vorgibt, sagt sie: ,Die verborgene Deutschheit muss man entbergen. Und das tun wir, indem wir die Juden endlich beseitigen aus Deutschland.‘ Der Moderator sagt: ,Also dieser Satz steht aber nicht in dem Band, über den wir jetzt reden.‘ Und sie: ,Doch.‘ Und er: ,Nein.‘ Und sie, mitten aus ihrem folgenden Satz heraus: ,DOCH.‘ Und er, ruhig: ,Nein.‘ Und sie, von phänomenaler Ungeduld erfasst: ,DOCH.‘ Und er, kaum mehr hörbar: ,Nein.‘ Und sie, indem sie das Buch auf den Tisch wirft: ,DOCH!‘ Betretenes Schweigen. Es ist, als hätte sie auf das Buch uriniert.“
Wie ein Refrain kehrt diese Szene in diesen Poetik-Vorlesungen immer wieder. Sie sind die erste Antwort der deutschen Gegenwartsliteratur auf den Auftritt der Kritikerin, „die es als Beleidigung empfunden hatte, sich auf ein grob falsches, den vermeintlichen Autor verleumdendes Zitat hinweisen lassen zu müssen“, der es mit ihrer Aufkündigung der Geschäftsgrundlage literarischer Kritik – über Texte zu urteilen, wie sie geschrieben stehen – sehr viel besser erging als dem Minister Guttenberg mit seinem Plagiat und die also weiterhin an dem Tisch sitzt, auf den sie das Buch geknallt hat.
Die Beschreibung der Szene erfolgt bei Marcel Beyer nicht sine ira et studio. Seine Beschreibung ist Anti-Kritik der Beendigung der Affäre durch Aussitzen. Der Lichtenbergsche Konjunktiv erfasst die Szene und überblendet sie mit Eindrücken von der Flugreise des Autors, dessen Umhängetasche – sie enthält das Buch „Die Köpfe der Hydra“ der französischen Autorin Cécile Wajsbrot – nach der Landung der Begleiter der Kritikerin aus der Gepäckablage heraus versehentlich zu Boden wirft.
Im Terminal des Flughafens hat Beyer ein Werbeplakat für den Fernsehfilm gesehen, in dem Veronica Ferres im Herbst 2014 die Bundeskanzlerin spielte, der im Film eine Affäre mit dem französischen Staatspräsidenten angedichtet wurde. Schon erfindet der Möglichkeitssinn einen Auftritt von Veronica Ferres „in der Rolle einer Heideggerforscherin, die in einer öffentlich-rechtlichen Produktion mit dem geheimnisvollen Titel Entbergen / Vernichten zu ihrem Entsetzen in Martin Heideggers geheimen Handschriften auf Sätze stößt, die allen bisherigen Heideggerforschern entgangen sind“.
Nicht in satirischen Passagen wie dieser entfaltet dieses Büchlein seine größte Schärfe. „XX“, zweimal die lateinische Zehn führt es im Titel, weil es den Fauxpas der Kritikerin mit der Literatur konfrontiert, die vom zwanzigsten Jahrhundert, vom Stoff Heideggers berichtet: mit dem Heidegger-Kritiker Georges-Arthur Goldschmidt, mit der Suche Georges Perecs, dessen Vater als Freiwilliger der französischen Armee tödlich verletzt wurde und dessen Mutter im Konzentrationslager starb, nach Kindheitserinnerungen, mit den antisemitischen Pamphleten Célines, in denen Sätze stehen, wie sie die Kritikerin Heidegger unterschob.
Marcel Beyer überblendet die Kritikerin durchgängig mit der zornigen, puterroten Königin aus „Alice in Wonderland“. Deren „Kopf ab!“-Kommandos folgen dem Gesetz, das der Goggelmoggel ausplaudert: „,Wenn ich ein Wort gebrauche‘, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ,dann heißt es genau, was ich für richtig halte – und nicht mehr und nicht weniger.‘ „Es fragt sich nur‘, sagte Alice, ,ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‘ ,Es fragt sich nur‘, sagte Goggelmoggel, ,wer der Stärkere ist, weiter nichts.‘“
Lichtenberg kommt bei Marcel Beyer nicht vor. Aber dafür kommt Elke Heidenreich in Lichtenbergs „Sudelbüchern“ vor: „Diese Frau war mit einer Zunge schon eine Fama, was würde sie erst getan haben, wenn sie tausendzüngig gewesen wäre.“
LOTHAR MÜLLER
Marcel Beyer: XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 78 Seiten, 12,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
Der 8. September 2014 war kein
guter Tag für Elke Heidenreich
Das Kommando der Königin in
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