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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Joël Dicker hat Frankreich begeistert - jetzt erscheint sein Roman bei uns
Nun liegt es also auf Deutsch vor, das Buch, über das im vergangenen Jahr in Frankreich so viel geredet worden ist wie über kein anderes. Nicht einmal Jérôme Ferrari, der mit dem Prix Goncourt den wichtigsten Literaturpreis des Landes gewann, konnte Joël Dicker und seinen gut siebenhundert Seiten starken Wälzer "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" ernsthaft aus den Schlagzeilen vertreiben. Zu groß war die Faszination für den Verkaufserfolg dieses damals gerade 27 Jahre alten Mannes aus Genf, der den Franzosen etwas zu bieten schien, was es lange nicht gab: einen französischen Bestseller, der man auf Augenhöhe mit der "Harry Potter"-Saga wähnte und der in der Publikumsgunst sogar die "Fifty Shades of Grey"-Trilogie zeitweise in die Schranken verwies.
Hinzu kam, gleichsam als Segnung durch höhere Instanzen, das Lob einiger großer Namen des Literaturbetriebs. Marc Fumaroli, der 1995 nach dem Tod von Eugène Ionesco dessen Sitz in der Académie Française einnahm, schrieb von "anhaltenden Adrenalinstößen", die ihm das Werk durch den Körper gejagt habe. Bernard Pivot zeigte sich beeindruckt von der Präzision, mit der Joël Dicker die auf mehreren Zeitebenen angesiedelten Handlungsfäden zusammenhalte, und lobte seine Beschreibung von Aurora, der fiktiven amerikanischen Kleinstadt, in der die Geschichte spielt. Schließlich wurde das Buch mit ein paar Preisen ausgezeichnet, und selbst wenn es den Goncourt am Ende doch nicht bekommen hat - dass es drei Wahlgänge überlebte und auf der Shortlist des Preises stand, war Ehrung genug. Der Roman verkaufte sich hervorragend, mehr als eine Million Exemplare sollen über die Theken gegangen sein. Von diesem warmen Rückenwind angetrieben, kommt Dickers Buch in dieser Woche bei uns auf den Markt. Man kann nicht anders als sich an die letzten französischen Exportschlager erinnert zu fühlen, an "Ziemlich beste Freunde" oder "Willkommen bei den Sch'tis", diese beiden überaus beliebten, heiteren und etwas belanglosen Filme.
Joël Dickers Roman ist zwar nicht heiter - belanglos ist er hingegen schon. Was für eine Ernüchterung! Wie falsch die Fährte, auf die der Vorschusslorbeer führt! Das einzig Positive, das sich über diesen Roman sagen lässt, ist auf einen Zufall zurückzuführen. Wer hätte vorhersagen mögen, dass die Karriere von Joël Dicker derjenigen seines Protagonisten Marcus Goldman, der mit seinen dreißig Jahren in den Vereinigten Staaten schon ein gefeierter Jungschriftsteller ist, auf so erstaunliche Weise ähneln würde? Im Nachhinein lesen sich gleich die ersten Seiten wie eine self-fulfilling prophecy, und das ist nicht ohne Reiz: "Die New Yorker Society schwärmte von meinem Buch. Es war kaum zwei Wochen zuvor erschienen und versprach bereits der größte Verkaufserfolg des Jahres auf dem amerikanischen Kontinent zu werden."
Die Geschichte, ein Krimi, ist aus Goldmans Perspektive geschrieben. Zwei Jahre nach dem Erscheinen seines ersten gefeierten Romans steckt er in einer Schaffenskrise und reist zu seinem Mentor und väterlichen Freund Harry Quebert nach New Hampshire. Quebert, seinerseits ein Schriftsteller-Star, gerät unter Mordverdacht, weil auf seinem Grundstück die Gebeine eines vor dreißig Jahren verschwundenen Mädchens ausgegraben werden. Goldman glaubt an Queberts Unschuld und stellt eigene Ermittlungen an, über deren Fortgang und Ergebnisse er schließlich sein neues - ebenfalls gefeiertes - Buch schreiben wird.
Der aus dieser Verschachtelung entstehende Roman im Roman wäre als Strukturprinzip gar nicht schlecht, wenn Dicker es nur unterlassen hätte, die albernen Ratschläge, die Harry Quebert seinem Schützling Goldman ständig erteilt, auch selbst zu befolgen. Da heißt es etwa: "Sie müssen boxen, wie Sie schreiben, und schreiben, wie Sie boxen: Sie müssen alles geben, was in Ihnen steckt, weil jeder Boxkampf der letzte sein kann - genau wie jedes Buch."
Dieses Alles-oder-nichts-Getue führt zu der paradoxen Situation, dass wir es in Dickers Roman einerseits mit einer stilistischen Übermotivierung vor allem in den Dialogen zu tun haben, die vor Redundanzen strotzen (allein Nola, die Lolita dieses Buches, sagt dem Mann, den sie liebt, gefühlte fünfzig Mal: "Oh, allerliebster Harry, ich bin ja so glücklich!"). Andere Personen und ihre Motive bleiben eigentümlich unscharf. Das gilt für allem für Harry Quebert, den großen Geheimnisträger, dessen Entzauberung am Ende nur den Sinn hat, den Plot um eine weitere unglaubwürdige Wendung zu bereichern.
Joël Dickers Buch ist kein großer amerikanischer Roman, wie es seine Freunde in Frankreich glauben machen wollen, auch wenn sein Protagonist zuweilen an Philip Roths Nathan Zuckerman erinnert. Es ist auch kein Bildungsroman, nur weil es dem naseweisen Protagonisten gelingt, einen Kriminalfall zu lösen und darüber ein Buch zu schreiben. Er ist ein Unterhaltungsroman für den Strand. Dagegen wäre kaum etwas einzuwenden, handelte es sich nicht um eine Übersetzung, für die viel Geld ausgegeben wurde, das wiederum an anderer Stelle fehlt.
Verlage brauchen Bestseller. Aber es ist schade, wenn diese nachvollziehbaren verlegerischen Kalkulationen dazu führen, dass uns zugunsten von Büchern, an die sich schon einen Tag nach der Lektüre kein Mensch mehr erinnern wird, andere, viel interessantere Titel vorenthalten bleiben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das gleichfalls im Herbst 2012 in Frankreich erschienene "La théorie de l'information" von Aurélien Bellanger, einem 1980 geborenen Franzosen, der den Aufstieg des Internets in Frankreich in einen bemerkenswerten Roman hat einfließen lassen. Erinnert sei auch an den ebenfalls 1980 geborenen Tristan Garcia, einen Vertreter der noch jungen philosophischen Schule des spekulativen Realismus, der 2012 neben einem Science-Fiction-Roman wunderbare Kurzgeschichten über den Sport veröffentlicht hat. Nach Auskunft von Bellangers Verlag Gallimard sind die Rechte an seinem Roman aber nach Deutschland bisher nicht verkauft worden. Und auch Garcia hat derzeit keinen deutschen Verleger. Dabei hätten die beiden uns so viel mehr zu erzählen als Joël Dicker.
LENA BOPP
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Schlagstock oder Schreibfeder: Joël Dicker jongliert in seinem Erfolgskrimi mit Mordwaffen
Das Phänomen von Schriftstellererfolg und Berühmtheit ist als Thema so tief in die Seiten dieses Buch eingeschrieben, dass es auch für den Buchautor selber noch reichte. Der Roman des jungen, bisher so gut wie unbekannten Genfer Autors Joël Dicker war im vergangenen Jahr das Ereignis des Pariser Literaturherbstes. Er wurde mit dem großen Romanpreis der Académie française ausgezeichnet und hat nur knapp den Goncourt verfehlt. „Wie wird man eigentlich Schriftsteller, Harry?“ – fragt im Buch der junge Romanautor Marcus Goldman seinen Lehrer und Kollegen. „Indem man nie aufgibt“, lautet die Antwort. Das klingt nach Knochenarbeit, für den Schreiber wie für den Leser.
Das Gegenteil ist aber der Fall. Der Roman ist mit so leichter und schwungvoller Hand geschrieben, dass man die siebenhundert Seiten kaum spürt. Die Geschichte eines Schriftstellerschicksals ist nur der Erzählrahmen für eine Vielzahl von Themen. Es geht um eine unmögliche Liebe, um Lebenslügen, das Verhältnis von Lehrer und Schüler, das Schreiben als Variante des Boxkampfs, den Literaturbetrieb überhaupt, den Zusammenhang zwischen Berufung, Gewissen und Opportunismus, um Sensation und Moral im Amerika von heute, um die Relativität des Genies – all das im Gewand eines schmissigen Krimis.
Der Fall des Harry Quebert hat vielfältige Wurzeln unter jenem Hortensienstrauch, den die Arbeiter im Garten des berühmten Schriftstellers im Küstenstädtchen Aurora an der amerikanischen Ostküste zu pflanzen beauftragt sind. Beim Graben kommt eine Leiche zum Vorschein. Neben ihr liegt in einer Ledertasche das Manuskript des Romans, der Quebert zum Durchbruch verhalf. Die Leiche ist die der gut dreißig Jahre zuvor verschwundenen fünfzehnjährigen Nola. Sie stand im Mittelpunkt jenes Liebesromans, der ganz Amerika zu Tränen gerührt hatte. Quebert wird nach dem Fund verhaftet, sein Buch verschwindet schlagartig aus den Buchhandlungen und Bibliotheken.
An dieser Stelle tritt sein ehemaliger Schüler Marcus Goldman in Erscheinung, ein junger Autor, der ebenfalls mit einem Bestseller bekannt wurde und nun, von seinem Verleger zum Folgeroman gedrängt, in einer totalen Inspirationsflaute sitzt. Die sensationelle Geschichte seines Lehrers lenkt ihn von den Sorgen ab und bringt zugleich den Ausweg aus seinem Problem. Sein neuer Roman soll die Unschuld Queberts am Mord aufzeigen. Die Aussicht auf einen weiteren Bestseller befriedigt auch den geldgierigen Verleger. Gewinn und Gewissen kommen endlich zusammen und schaffen Spannung – bis am Schluss durch eine Springflut an Enthüllungen in Aurora die Rollen von Opfern, Tätern, Mitgängern, Helden und Hoch-
staplern noch einmal ganz neu verteilt
werden.
Dicker springt mit erstaunlicher Wendigkeit zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen seines Romans. Erzählt wird aus der Perspektive des Autors Goldman, der im Jahr 2008 mit den Nachforschungen im Fall Harry Quebert aus dem Loch seiner Schreibpanne kriecht. Von da taucht das Geschehen in schnell wechselnden Rückblenden in die verschiedenen Etappen der Vorgeschichte ab – Goldmans Aufenthalt als angehender Schriftsteller 2002 in der Villa von Quebert, seine erste Bekanntschaft mit diesem 1998 am College, bis zu Harrys Liebesgeschichte mit Nola und deren Verschwinden 1975: ein Ereignis, das der junge Marcus Goldman natürlich selber nicht miterlebt hat.
Statt diese wechselnden Zeitschnitte aber in ein spitzfindiges Konstrukt aus Erinnerungen, Briefen, Manuskripten, Tonbandaufnahmen zu verschachteln, entschied Joël Dicker sich für eine doppelt fokussierte Darstellungsperspektive. Seinem Erzähler wächst, je weiter die Ereignisse zurückreichen, ein anderer, abstrakter Erzähler über die Schultern, der überall hautnah mit dabei ist. Das verschafft dem Buch über alle Form- und Zitatspielerei hinweg Zug und Spannung. Selbst die Kapitelnummerierung läuft rückwärts wie ein Countdown und verschränkt spiegelbildlich raffiniert den Anfang mit dem Ende.
Die Figuren zeigen vor jeweils realem zeitgeschichtlichen Hintergrund – die Wahl Nixons oder jene Obamas – nuancierte Profile aus Härten und Unschärfen. Die fünfzehnjährige romantische Nola, die am Strand unter dem Regen den Möwen nachschaut, ist eine Lolita eher aus dem Hause Hitchcocks als aus jenem Nabokovs. Der alternde Starautor Harry Quebert lässt an den fahlen Stellen seiner Persönlichkeit durchscheinen, dass es vielleicht noch Schlimmeres gibt als Mord. Sein hochbegabter Schüler Marcus Goldman wankt abenteuerlich durchs Proustsche Dilemma: schreiben oder leben. Ein gutes Dutzend Nebenfiguren begleiten zwielichtig die Handlung. Durch eine spektakuläre Ereigniswende tritt eine von ihnen am Schluss unerwartet in den Vordergrund und verschafft Einblick in ein rührend trauriges Schicksal.
Manche Stellen des Romans mögen zu lang geraten, manche Figuren wie etwa die Eltern des Marcus Goldman für die Romanhandlung überflüssig sein. Das ändert wenig daran, dass hier ein anspielungsreiches literarisches Form- und Motivpuzzle, ein fesselnder Krimi mit allem Zubehör von Blut und Verfolgungsjagd im Auto sowie ein erstaunlich durchgearbeitetes Themenpanorama zu einem gelungenen Buch zusammengewachsen sind. Nur kein Meisterwerk!, warnt im Roman Harry Quebert seinen Schüler. Beim Schreiben solle man sich so wenig wie beim Umgang mit den Mädchen auf die Alternative versteifen: Höchstleistung oder Verzicht, Ekstase oder gar nichts. Mit diesen beiden Extremen jongliert der Roman locker über dem Abgrund einer unmöglichen Mitte.
Dass dies auch auf Deutsch gelingt, liegt nicht zuletzt an der vorzüglichen Übersetzung, die mit trockenem Nachhall den Ton zwischen Thriller und Trauer getroffen hat.
JOSEPH HANIMANN
Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Roman. Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Piper Verlag, München 2013. 736 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 16,99.
Ein Meisterwerk schreiben oder
nichts – eine falsche Alternative
Joël Dicker mit dem Mordinstrument Schreibmaschine.
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