Alles beginnt gut: Emmanuel Carrère fühlt sich souverän als Herr über sein gelungenes Leben und plant ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga zu schreiben. Mit leichter Ironie, aber auch echter Hingabe wollte er dem Leser seine Erkenntnisse über Yoga enthüllen, das er er seit einem Vierteljahrhundert betreibt: ein Buch voller Weisheit über das Verhältnis zur Welt, wenn man Abstand zum eigenen Ego gewinnt. Zunächst läuft alles bestens, doch dann wird er während seiner Recherchen vom Tod eines Freundes beim Anschlag auf Charlie Hebdo eingeholt und gleich darauf von einer unkontrollierbaren Leidenschaft erschüttert. Von einem Tag auf den anderen kippt sein Leben, eine bipolare Störung wird diagnostiziert, und Carrère verbringt vier quälende Monate in der geschlossenen Psychiatrie, wo er versucht, seinen Geist mit Gedichten an die Leine zu legen. Entlassen und verlassen lernt er auf Leros in einer Gruppe minderjähriger Geflüchteter ganz anders Haltlose kennen. Zurück in Paris stirbt sein langjähriger Verleger – und doch gibt es am Ende auch wieder Licht. Denn Yoga ist die Erzählung vom mal beherrschten, mal entfesselten Schwanken zwischen den Gegensätzen. Durch schonungslose Selbstanalyse zwischen Autobiografie, Essay und journalistischer Chronik gelingt Carrère der Zugang zu einer tieferen Wahrheit: Was es heißt, ein in den Wahnsinn der Welt geworfener Mensch zu sein.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Dirk Fuhrig liest Emmanuel Carreres Selbsterkundungen beim Yoga, beim Arzt und bei der Unterstützung von Flüchtlingen stets mit Gewinn. Über persönliche Krisen und Ängste berichtet der Autor ohne Wehleidigkeit, sachlich, aber mit Humor und Selbstironie, versichert Fuhrig. Die Beobachtungen des Autors unter Geflüchteten findet Fuhrig außerdem "extrem genau". Anmerkungen über Kunst und Literatur und allerhand Zitate von Schopenhauer bis Stephen Hawking bereichern den Text, meint er. Carrere ist wie Houellebecq, nur frischer und berührender, so Fuhrig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.03.2022Der Egomane
Selbstbefragung als Hochleistungssport:
Emmanuel Carrères autofiktionaler Roman „Yoga“
VON HUBERT WINKELS
Autofiktionen erzeugen in der Regel eine besondere Vorsicht beim kritischen Lesen. Man möchte partout kein Leben rezensieren. Es steht einem moralisch nicht zu. Dieses berufsspezifische Mantra begleitet die Lektüre der meisten Romane von Emmanuel Carrère. Sein neues Buch „Yoga“ stellt das Problem in verschärfter Form, weil es sich entlang persönlicher moralischer und existentieller Entscheidungen vorwärtsbewegt. Wie soll ich leben? Bin ich aufrichtig? Auch die Darstellung selbst steht unter moralischem Vorbehalt: Ist sie echt? Ist sie ehrlich? Liegt ihr eine tiefe Selbstanalyse zugrunde? Lesend wird man hineingerissen in den Sog solcher Fragen, die das Schöne und das ethisch Allgemeine ins Individuelle ziehen und einer reflexiven Dauerbearbeitung aussetzen.
Nicht zum ersten Mal schreibt Carrère mit einer ins Extrem getriebenen Selbstbezogenheit. Seine Reportagen und als Romane maskierten Berichte über das eigene Leben verweisen zwar ständig auf ihr Gemachtsein, auch im brechtschen Sinne, doch nur um im selben Zug die Erkundung des eigenen Ich als eigentliches Thema zu etablieren. Kurz, es geht um die Selbst- und nicht um die Weltbetrachtung. Carrère zitiert in „Yoga“ den etwas platten zen-buddhistischen Ohrwurm: „Wenn der Meister mit dem Finger auf den Mond zeigt, schaut der kluge Schüler auf den Mond, während der minderbemittelte auf den Finger schaut.“
Man kann dieser Sentenz nur dann etwas abgewinnen, wenn man sie umdreht und den Finger metonymisch für die ganze Person nimmt. Dann ist man nämlich beim Roman als Selbstbetrachtung, als eskalierende Selberlebensbeschreibung des Autors, der jeder Betrachtung eine Betrachtung der Betrachtung selbst folgen lässt. In „Yoga“ ist diese wie eine Zwangshandlung wirkende Technik noch einmal gesteigert, indem sie selbst zum erzählerischen Thema wird: „Yoga“ eben. Meditativ betriebenes Yoga wäre im Idealfall die Auflösung dieser endlosen Spiegelungen des eigenen Tuns, indem es die Konzentration ganz auf das Jetzt und das unmittelbar Gegebene lenkt, auf den eigenen Körper nämlich.
Der existenziell hyperreflexive Protagonist Emmanuel Carrère weiß um seine geistige Unruhe, um die ‚wilden Affen‘ seines Geistes, die ihn beschwingen und quälen, und er will die buddhistisch inspirierte Technik nutzen, um seine Affen zu beschwichtigen und selbst zu Ruhe und Aufmerksamkeit zu gelangen. Zur Sache selbst, zu den „Dingen, wie sie wirklich sind“. Der längst schon ins Meditieren initiierte Pariser Intellektuelle begibt sich für zehn Tage in ein buddhistisches Retreat im burgundischen Morvan, um sich strengen Exerzitien zu unterwerfen.
Ein gutes Drittel des Romans erzählt durchaus lebhaft davon, was wahrhaftig gar nicht möglich ist, da das Ausschalten von sinnlichen Eindrücken, Fantasien, Spekulationen und Reflexionen gerade der tiefere Sinn der Übungen ist. Die Konzentration auf den Luftstrom in den Nasenlöchern beim Ein- und Ausatmen soll forciert werden bis zur Einheit von Tun, Wahrnehmung und Gedanke. Dass dem mental hibbeligen Weisheits-Schüler Carrère dies nicht gelingen wird, ahnt jeder, der schon einmal mit seinem hektisch-intensiven Schreiben in Berührung gekommen ist.
Carrères Affen brauchen Zucker, und die Zucker-Raffinerie in „Yoga“ heißt Yoga. Denn der Weisheits-Zögling hat gegen jedes bessere Wissen von Anfang an die Absicht, darüber ein Buch zu verfassen, das „Yoga“ heißt. Ein Widerspruch in actu, da Absichtslosigkeit, das Absehen von Wollen, Begehren, Gier, das tiefere, im Vollzug selbst bestehende Ziel der meditativen Veranstaltung ist. Der Proband wäre demnach ein Spion im Namen der Literatur, ein Betrüger?
Er ist es deshalb nicht, weil es ihm in einer Mischung aus gesteigerter Reflexivität und Naivität gelingt, sich zeitweise selbst über seine Absicht zu betrügen. Doch diese komplizierten Selbsterklärungsmanöver einschließlich Lügen und Unaufrichtigkeit gegenüber den meditierenden Mitbrüdern und die unentwegten Selbstkorrekturen machen eben den Reiz dieses handlungsarmen ersten Drittels des Romans aus.
Ein Blick zurück in die früheren Bücher von Carrère verrät ein Prinzip oder einen schicksalhaften Zug in der Suche nach solcher Doppelbödigkeit, der Leere hinter oder in den symbolischen Arrangements der Dinge. So widmet er sich im Roman „Der Widersacher“ hingebungsvoll dem Mörder Jean-Claude Romand, der seine ganze Familie ausgelöscht hat, seine Eltern, seine Ehefrau, seine Kinder, nachdem sein bisheriges Leben als angesehener Arzt und WHO-Berater als Lüge entlarvt worden war. Das Reale hinter der Lebensmaskerade, die Leere in allem, nahm die Gestalt der Vernichtung an.
Im Roman „Alles ist wahr“ erzählt Carrère von einem Urlaub auf Sri Lanka, als der große Tsunami über Strand und Hotel hereinbrach. Aus dem schönen Schein auch hier der plötzliche Sturz in die immer wieder als Schrecken oder als Leere beschriebene Wirklichkeit, der Bruch mit den Verstellungen des Sozialen. Carrère sucht die Abbruchkanten, wo die symbolische Repräsentation auf ihr Anderes stößt, dessen Erscheinen zunächst gewaltförmig ist. So erklärt sich auch Carrères Interesse an dem Schriftsteller, Ideologen und rechts- wie linksextremen Politiker Eduard Limonow, der sich im Kosovo-Krieg neben Radovan Karadžić als Sniper filmen ließ („Limonow“, 2011).
Schon in „Alles ist wahr“ begegnet in dem von Panik durchfluteten Urlaubshotel eine größere Meditationsgruppe, „Ayurveden“ genannt, die als einzige das Leiden um sie herum nicht beachten, niemandem helfen. Jahre später, im Retreat im Morvan, erinnert Carrère sich mit Schrecken daran, als er selbst nämlich mit dem politischen Schrecken der außerbuddhistischen Wirklichkeit konfrontiert wird. Nur widerstrebend informiert ihn der Yogalehrer an einem regnerischen Abend im Januar 2015 über das islamistische Attentat auf die Redakteure der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.
Carrères guter Freund, der Banker und Literaturliebhaber Bernard Maris war unter den Opfern, und der Schriftsteller soll die Trauerrede halten. Nur deshalb und äußerst ungern hat die bis zur Unmoral unsensible Gemeinschaft dieses (weltpolitisch bedeutende) Stück äußere Realität ins geistige Retreat hereingelassen. Erneut eine formauflösende Katastrophe.
Damit ist der Roman an einer Bruchstelle angekommen, an seiner Sollbruchstelle wird man sagen müssen. Denn dass Carrère lediglich ein „heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ hatte verfassen wollen, wie er nicht müde wird zu betonen, wird man sowenig glauben wie er selbst.
Bernard Maris’ Leben und Sterben; Carrères psychischer Zusammenbruch, Psychiatrie, die Diagnose Bipolare Störung Typ II, Elektroschocks, Todesgedanken; Flucht in die Arbeit: eine Reportagereise in den Irak, um einen mit dem Blut von Saddam Hussein geschriebenen Koran zu finden; die Begegnung mit geflüchteten afghanischen Jugendlichen, die vom nahen Lager Moria nach Leros in eine Art Bildungseinrichtung mit Schreibschule geraten sind; die traurig-schöne Begegnung mit der amerikanischen Archäologin Frederica. Tatsächlich bemüht sich Carrère erkennbar, andere als eigene Geschichten in seinen Roman hineinzuschreiben; doch vergeblich, die Selbstkontrolle des Erzählers, der partout mit seiner Perspektivfigur verschmelzen will, ist zu stark. Es ist eher die bloße Idee einer Erlösung vom Ich-Zwang, die ihn antreibt, als eine erlösende literarische Praxis. Sein Tsunami-Roman „Alles ist wahr“ heißt auf Französisch: „D’autres vies que la mienne“, in etwa: „Von anderen Leben als meinem eigenen“, der Name seines ewigen Traums als Schriftsteller. Er weiß es:
„Was ich dagegen tun sollte, ist Jagd auf Sätze zu machen, die mit »ich« beginnen. Schwierig. Unmöglich? Ein großes Thema. Simone Weil sagte einmal: Letztlich gibt es ziemlich wenig Leute, denen klar ist, dass es noch andere gibt. Die ganz einfach eine Kenntnis davon haben, dass es noch andere gibt. Meditation … soll Kenntnis davon vermitteln. Tut sie es nicht, bleibt sie etwas zwischen mir und mir und ist zu nichts nütze, sondern nur eine weitere narzisstische Marotte. Ich habe plötzlich Angst, dass sie, zumindest für mich, nur eine weitere narzisstische Marotte ist. Und das macht mich traurig.“
Carrère bemüht sich, aus der Selbstfixierung der Meditation und der Reflexionsschleifen in die praktische Ethik zu kommen. So dokumentiert er in einer Binnengeschichte, wie der fünfzehnjährige afghanische Flüchtling Atiq in der therapeutischen Schreibschule auf Leros von der grausamen Schleuserstory seiner Flucht via Iran und Türkei bis Moria auf Lesbos erzählt, sachlich, reihend, fast hölzern. Doch weckt die Story bei Carrère Zweifel an ihrer Authentizität. Er weiß, dass es eine Schablone gibt für ergreifende Fluchtgeschichten, die Hilfe auslösen sollen; eine Art „Schreibschule“ in der Hölle des wirklichen Lebens. Inauthentizität also auch hier. Wie weit Carrère geht, um auf einen authentischen Kern sogar unserer westlichen Kultur insgesamt zu stoßen, hat sein groß gedachtes Buch: „Das Reich Gottes“ gezeigt, in dem er zum Quell des christlichen Glaubens vordringt, den Geschichten an seinem Ursprung, den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen des Paulus. Und siehe, hier stößt er bei seinem Kronzeugen und Liebling, dem Evangelisten und gebildeten griechischen Schriftsteller Lukas, auf einige konkrete Passagen, die nur schreiben kann, wer lebendiger Zeuge, also authentisch ist.
Der Roman „Yoga“ wirkt wie von leichter Hand notiert. Die Hochleistungsselbstbefragungsmaschine kann niemals stoppen und produziert eine Art Parlando, doch der formbewusste homme de lettre organisiert das Material sehr penibel. Deshalb fällt eine Unwucht im Roman besonders auf. Die dramatischen Erfahrungen des Zusammenbruchs in seiner Mitte werden nicht erzählerisch plausibel hergeleitet. Und das hat mit der quasi außerliterarischen Wirklichkeit seiner Ehekrise zu tun. Carrère darf davon nicht erzählen. „Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine, eine einzige Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt. Dieser Imperativ ist absolut, alles andere ist nebensächlich, und ich glaube, mich immer an diesen Imperativ gehalten zu haben. Was ich schreibe, mag narzisstisch und sinnlos sein, aber ich lüge nicht.“ Es mag nobel sein, so zu denken, und es kann niemals stimmen, wie der Weise weiß, doch es kann großartig sein, einen Autor dabei zu beobachten, einer unmöglichen Regel zu folgen.
Carrère bemüht sich erkennbar,
andere als eigene Geschichten
in den Roman hineinzuschreiben
„Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine, eine einzige Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt“: der Schriftsteller Emmanuel Carrère.
Foto: imago/Agencia EFE
Emmanuel Carrère: Yoga. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Berlin 2022. 341 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Selbstbefragung als Hochleistungssport:
Emmanuel Carrères autofiktionaler Roman „Yoga“
VON HUBERT WINKELS
Autofiktionen erzeugen in der Regel eine besondere Vorsicht beim kritischen Lesen. Man möchte partout kein Leben rezensieren. Es steht einem moralisch nicht zu. Dieses berufsspezifische Mantra begleitet die Lektüre der meisten Romane von Emmanuel Carrère. Sein neues Buch „Yoga“ stellt das Problem in verschärfter Form, weil es sich entlang persönlicher moralischer und existentieller Entscheidungen vorwärtsbewegt. Wie soll ich leben? Bin ich aufrichtig? Auch die Darstellung selbst steht unter moralischem Vorbehalt: Ist sie echt? Ist sie ehrlich? Liegt ihr eine tiefe Selbstanalyse zugrunde? Lesend wird man hineingerissen in den Sog solcher Fragen, die das Schöne und das ethisch Allgemeine ins Individuelle ziehen und einer reflexiven Dauerbearbeitung aussetzen.
Nicht zum ersten Mal schreibt Carrère mit einer ins Extrem getriebenen Selbstbezogenheit. Seine Reportagen und als Romane maskierten Berichte über das eigene Leben verweisen zwar ständig auf ihr Gemachtsein, auch im brechtschen Sinne, doch nur um im selben Zug die Erkundung des eigenen Ich als eigentliches Thema zu etablieren. Kurz, es geht um die Selbst- und nicht um die Weltbetrachtung. Carrère zitiert in „Yoga“ den etwas platten zen-buddhistischen Ohrwurm: „Wenn der Meister mit dem Finger auf den Mond zeigt, schaut der kluge Schüler auf den Mond, während der minderbemittelte auf den Finger schaut.“
Man kann dieser Sentenz nur dann etwas abgewinnen, wenn man sie umdreht und den Finger metonymisch für die ganze Person nimmt. Dann ist man nämlich beim Roman als Selbstbetrachtung, als eskalierende Selberlebensbeschreibung des Autors, der jeder Betrachtung eine Betrachtung der Betrachtung selbst folgen lässt. In „Yoga“ ist diese wie eine Zwangshandlung wirkende Technik noch einmal gesteigert, indem sie selbst zum erzählerischen Thema wird: „Yoga“ eben. Meditativ betriebenes Yoga wäre im Idealfall die Auflösung dieser endlosen Spiegelungen des eigenen Tuns, indem es die Konzentration ganz auf das Jetzt und das unmittelbar Gegebene lenkt, auf den eigenen Körper nämlich.
Der existenziell hyperreflexive Protagonist Emmanuel Carrère weiß um seine geistige Unruhe, um die ‚wilden Affen‘ seines Geistes, die ihn beschwingen und quälen, und er will die buddhistisch inspirierte Technik nutzen, um seine Affen zu beschwichtigen und selbst zu Ruhe und Aufmerksamkeit zu gelangen. Zur Sache selbst, zu den „Dingen, wie sie wirklich sind“. Der längst schon ins Meditieren initiierte Pariser Intellektuelle begibt sich für zehn Tage in ein buddhistisches Retreat im burgundischen Morvan, um sich strengen Exerzitien zu unterwerfen.
Ein gutes Drittel des Romans erzählt durchaus lebhaft davon, was wahrhaftig gar nicht möglich ist, da das Ausschalten von sinnlichen Eindrücken, Fantasien, Spekulationen und Reflexionen gerade der tiefere Sinn der Übungen ist. Die Konzentration auf den Luftstrom in den Nasenlöchern beim Ein- und Ausatmen soll forciert werden bis zur Einheit von Tun, Wahrnehmung und Gedanke. Dass dem mental hibbeligen Weisheits-Schüler Carrère dies nicht gelingen wird, ahnt jeder, der schon einmal mit seinem hektisch-intensiven Schreiben in Berührung gekommen ist.
Carrères Affen brauchen Zucker, und die Zucker-Raffinerie in „Yoga“ heißt Yoga. Denn der Weisheits-Zögling hat gegen jedes bessere Wissen von Anfang an die Absicht, darüber ein Buch zu verfassen, das „Yoga“ heißt. Ein Widerspruch in actu, da Absichtslosigkeit, das Absehen von Wollen, Begehren, Gier, das tiefere, im Vollzug selbst bestehende Ziel der meditativen Veranstaltung ist. Der Proband wäre demnach ein Spion im Namen der Literatur, ein Betrüger?
Er ist es deshalb nicht, weil es ihm in einer Mischung aus gesteigerter Reflexivität und Naivität gelingt, sich zeitweise selbst über seine Absicht zu betrügen. Doch diese komplizierten Selbsterklärungsmanöver einschließlich Lügen und Unaufrichtigkeit gegenüber den meditierenden Mitbrüdern und die unentwegten Selbstkorrekturen machen eben den Reiz dieses handlungsarmen ersten Drittels des Romans aus.
Ein Blick zurück in die früheren Bücher von Carrère verrät ein Prinzip oder einen schicksalhaften Zug in der Suche nach solcher Doppelbödigkeit, der Leere hinter oder in den symbolischen Arrangements der Dinge. So widmet er sich im Roman „Der Widersacher“ hingebungsvoll dem Mörder Jean-Claude Romand, der seine ganze Familie ausgelöscht hat, seine Eltern, seine Ehefrau, seine Kinder, nachdem sein bisheriges Leben als angesehener Arzt und WHO-Berater als Lüge entlarvt worden war. Das Reale hinter der Lebensmaskerade, die Leere in allem, nahm die Gestalt der Vernichtung an.
Im Roman „Alles ist wahr“ erzählt Carrère von einem Urlaub auf Sri Lanka, als der große Tsunami über Strand und Hotel hereinbrach. Aus dem schönen Schein auch hier der plötzliche Sturz in die immer wieder als Schrecken oder als Leere beschriebene Wirklichkeit, der Bruch mit den Verstellungen des Sozialen. Carrère sucht die Abbruchkanten, wo die symbolische Repräsentation auf ihr Anderes stößt, dessen Erscheinen zunächst gewaltförmig ist. So erklärt sich auch Carrères Interesse an dem Schriftsteller, Ideologen und rechts- wie linksextremen Politiker Eduard Limonow, der sich im Kosovo-Krieg neben Radovan Karadžić als Sniper filmen ließ („Limonow“, 2011).
Schon in „Alles ist wahr“ begegnet in dem von Panik durchfluteten Urlaubshotel eine größere Meditationsgruppe, „Ayurveden“ genannt, die als einzige das Leiden um sie herum nicht beachten, niemandem helfen. Jahre später, im Retreat im Morvan, erinnert Carrère sich mit Schrecken daran, als er selbst nämlich mit dem politischen Schrecken der außerbuddhistischen Wirklichkeit konfrontiert wird. Nur widerstrebend informiert ihn der Yogalehrer an einem regnerischen Abend im Januar 2015 über das islamistische Attentat auf die Redakteure der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.
Carrères guter Freund, der Banker und Literaturliebhaber Bernard Maris war unter den Opfern, und der Schriftsteller soll die Trauerrede halten. Nur deshalb und äußerst ungern hat die bis zur Unmoral unsensible Gemeinschaft dieses (weltpolitisch bedeutende) Stück äußere Realität ins geistige Retreat hereingelassen. Erneut eine formauflösende Katastrophe.
Damit ist der Roman an einer Bruchstelle angekommen, an seiner Sollbruchstelle wird man sagen müssen. Denn dass Carrère lediglich ein „heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga“ hatte verfassen wollen, wie er nicht müde wird zu betonen, wird man sowenig glauben wie er selbst.
Bernard Maris’ Leben und Sterben; Carrères psychischer Zusammenbruch, Psychiatrie, die Diagnose Bipolare Störung Typ II, Elektroschocks, Todesgedanken; Flucht in die Arbeit: eine Reportagereise in den Irak, um einen mit dem Blut von Saddam Hussein geschriebenen Koran zu finden; die Begegnung mit geflüchteten afghanischen Jugendlichen, die vom nahen Lager Moria nach Leros in eine Art Bildungseinrichtung mit Schreibschule geraten sind; die traurig-schöne Begegnung mit der amerikanischen Archäologin Frederica. Tatsächlich bemüht sich Carrère erkennbar, andere als eigene Geschichten in seinen Roman hineinzuschreiben; doch vergeblich, die Selbstkontrolle des Erzählers, der partout mit seiner Perspektivfigur verschmelzen will, ist zu stark. Es ist eher die bloße Idee einer Erlösung vom Ich-Zwang, die ihn antreibt, als eine erlösende literarische Praxis. Sein Tsunami-Roman „Alles ist wahr“ heißt auf Französisch: „D’autres vies que la mienne“, in etwa: „Von anderen Leben als meinem eigenen“, der Name seines ewigen Traums als Schriftsteller. Er weiß es:
„Was ich dagegen tun sollte, ist Jagd auf Sätze zu machen, die mit »ich« beginnen. Schwierig. Unmöglich? Ein großes Thema. Simone Weil sagte einmal: Letztlich gibt es ziemlich wenig Leute, denen klar ist, dass es noch andere gibt. Die ganz einfach eine Kenntnis davon haben, dass es noch andere gibt. Meditation … soll Kenntnis davon vermitteln. Tut sie es nicht, bleibt sie etwas zwischen mir und mir und ist zu nichts nütze, sondern nur eine weitere narzisstische Marotte. Ich habe plötzlich Angst, dass sie, zumindest für mich, nur eine weitere narzisstische Marotte ist. Und das macht mich traurig.“
Carrère bemüht sich, aus der Selbstfixierung der Meditation und der Reflexionsschleifen in die praktische Ethik zu kommen. So dokumentiert er in einer Binnengeschichte, wie der fünfzehnjährige afghanische Flüchtling Atiq in der therapeutischen Schreibschule auf Leros von der grausamen Schleuserstory seiner Flucht via Iran und Türkei bis Moria auf Lesbos erzählt, sachlich, reihend, fast hölzern. Doch weckt die Story bei Carrère Zweifel an ihrer Authentizität. Er weiß, dass es eine Schablone gibt für ergreifende Fluchtgeschichten, die Hilfe auslösen sollen; eine Art „Schreibschule“ in der Hölle des wirklichen Lebens. Inauthentizität also auch hier. Wie weit Carrère geht, um auf einen authentischen Kern sogar unserer westlichen Kultur insgesamt zu stoßen, hat sein groß gedachtes Buch: „Das Reich Gottes“ gezeigt, in dem er zum Quell des christlichen Glaubens vordringt, den Geschichten an seinem Ursprung, den Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen des Paulus. Und siehe, hier stößt er bei seinem Kronzeugen und Liebling, dem Evangelisten und gebildeten griechischen Schriftsteller Lukas, auf einige konkrete Passagen, die nur schreiben kann, wer lebendiger Zeuge, also authentisch ist.
Der Roman „Yoga“ wirkt wie von leichter Hand notiert. Die Hochleistungsselbstbefragungsmaschine kann niemals stoppen und produziert eine Art Parlando, doch der formbewusste homme de lettre organisiert das Material sehr penibel. Deshalb fällt eine Unwucht im Roman besonders auf. Die dramatischen Erfahrungen des Zusammenbruchs in seiner Mitte werden nicht erzählerisch plausibel hergeleitet. Und das hat mit der quasi außerliterarischen Wirklichkeit seiner Ehekrise zu tun. Carrère darf davon nicht erzählen. „Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine, eine einzige Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt. Dieser Imperativ ist absolut, alles andere ist nebensächlich, und ich glaube, mich immer an diesen Imperativ gehalten zu haben. Was ich schreibe, mag narzisstisch und sinnlos sein, aber ich lüge nicht.“ Es mag nobel sein, so zu denken, und es kann niemals stimmen, wie der Weise weiß, doch es kann großartig sein, einen Autor dabei zu beobachten, einer unmöglichen Regel zu folgen.
Carrère bemüht sich erkennbar,
andere als eigene Geschichten
in den Roman hineinzuschreiben
„Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine, eine einzige Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt“: der Schriftsteller Emmanuel Carrère.
Foto: imago/Agencia EFE
Emmanuel Carrère: Yoga. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz Berlin 2022. 341 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2022Empathie einer gefrorenen Kartoffel
In Frankreich machte dieses Buch Skandal: Emmanuel Carrères Roman "Yoga" ist ein ebenso virtuoses wie umstrittenes Beispiel der Autofiktion
Die elegante Untertreibung ist Emmanuel Carrères zentrales Stilmittel. Wer "Yoga", dem Titel seines neuesten Romans, folgt und ein sanftes, spirituelles Buch erwartet, sollte durch den Vorgänger "Alles ist wahr" (2009) gewarnt sein: Dort berichtet Carrère vom Tsunami des Jahres 2004, dessen Zeuge er auf Sri Lanka wurde, und fügt ätzende Seitenhiebe auf eine Gruppe von schweizerdeutschen Ayurveda-Anhängern ein, die in Chaos und Leid ihren Übungen nachgehen, als wäre nichts geschehen. Im neuesten Roman nun bricht abermals Zerstörung ein: Das Projekt eines Yoga-Buches wird durch die physische Gewalt islamistischer Attentate und die psychische eines depressiven Zusammenbruchs sabotiert. Am Ende ist alles brüchig: Stil, Buchprojekt und Psyche.
Zum Ausgangsprojekt: Mit dem Vorhaben, das eigene Ego zu disziplinieren und "ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga" zu schreiben, geht der Icherzähler im Januar 2015 ins Morvan, um dort einen Vipassana-Kurs zu machen. Die Vorgabe: zehn Tage Isolation, Schweigen, Diät, Meditation. Er beschreibt die ersten zwei Tage und flicht ein, was Tai-Chi und Yoga für ihn bedeuten; er versucht sich an Definitionen, berichtet von Erlebnissen, etwa einer Tai-Chi-Stunde in Kanada, die ein Wolf beobachtet, oder einer heißen Sexaffäre nach einem Intensivkurs. Er schildert sich und die anderen auf der Suche nach innerem Frieden: ein Carrère-Paradestück, das, scheinbar harmlos, das Menschlich-Allzumenschliche mit ätzendem Verständnis auslotet und sich selbst einen verdienten Platz als "Berg mit Kühen-Meditierer" sichert.
Der erste Teil endet abrupt: Die "Charlie Hebdo"-Attentate zwingen den Erzähler zur Abreise, weil er die Grabrede auf seinen ermordeten Freund Bernard Maris halten muss. Die Krise mündet in einen psychischen Zusammenbruch, ohne dass Chronologie und Kausalität klar würden - eine eigenartige Lücke. Jedenfalls durchlebt er eine Depression, die zu einem viermonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie führt. Man diagnostiziert bei ihm Tachypsychie - "etwas wie Herzrasen, nur für geistige Aktivitäten" - als Teil einer Bipolar-II-Störung; wegen der Suizidwünsche durchläuft der Erzähler eine Elektrokonvulsionstherapie. Teil vier und fünf berichten vom schweren Neuanfang: Der Erzähler hilft auf einer griechischen Insel dabei, Flüchtlingsjungen zu unterrichten. Abschließend berichtet Carrère von den letzten Kontakten mit seinem langjährigen Verleger Paul Otchakovsky-Laurens und der Niederschrift des Romans, die nach mehreren Anläufen endlich gelingt.
Nach "Das Königreich" (2014) war "Yoga" ein lang erwartetes Werk und ein Favorit auf den Prix Goncourt 2020. Da brach im September des Jahres eine Polemik los, die unter anderem die Frage aufwarf, ob "Yoga" überhaupt ein Roman ist. Als Gerüchte von Eingriffen kursierten, die Textlücken erklären würden, machte die Journalistin Hélène Devynck, von 2011 bis 2020 Carrères Ehefrau, von ihrem Recht auf Gegendarstellung Gebrauch. In "Vanity Fair" erinnerte sie an den Vertrag, der Carrère verbiete, ihr Privatleben ohne ihre Einwilligung öffentlich zu machen. "Yoga" habe diese Vereinbarung nicht respektiert und verzerre die Wirklichkeit: Wenige Tage mit Flüchtlingen seien zu zwei Monaten gedehnt und zeitlich verschoben worden (tatsächlich hätten sie vor dem Psychiatrie-Aufenthalt stattgefunden); aggressives Verhalten während der Krankheit werde heruntergespielt, die familiäre Unterstützung unterschlagen. Die Polemik kostete wohl die Goncourt-Chancen.
So what? "Yoga" ist ein Roman, könnte man einwenden. Nur behauptet Carrère etwas anderes: "Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine, eine einzige, Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt. Dieser Imperativ ist absolut, alles andere ist nebensächlich, und ich glaube, mich immer an diesen Imperativ gehalten zu haben." Das behauptet "Yoga" mehr als einmal: "Jemand wie ich, der keine Fiktion schreibt", sagt Carrère und lehnt die Bezeichnung Autofiktion ab. Die Kontroverse bringt zum Grübeln: Es wirkt bedenklich, dass Carrère das Wahrhaftigkeits-Credo ausgerechnet mit "Der Widersacher" (2000) entwickelt hat, einem Text über einen pathologischen Lügner und Mörder, der im Buch mit großer Empathie dargestellt wird.
Brisant ist der Sachverhalt auch deshalb, weil er einen Gutteil der zeitgenössischen Literatur mittrifft: Ob sie sich Autofiktion nennt oder nicht, Energie und Erfolg zieht sie aus dem Willen zur Wahrhaftigkeit, das gilt für Annie Ernaux, Édouard Louis oder Christine Angot. Welche Wahrheit meint Carrère? Dass es Abbildrealismus nicht sein kann, scheint offensichtlich, Details behandelt er frei. Der schönere Originaltitel von "Alles ist wahr" lautet "D'autres vies que la mienne" (Von anderen Leben als meinem): Im intimen Grenzbereich, wo das eigene Leben anderen begegnet, ist Wahrheit meist subjektiv. Wahrheit also als Aufrichtigkeit?
Am besten konzentriert man sich auf die großen literarischen Qualitäten. "Yoga" gewinnt seine Kraft aus dem Kontrast: Das ursprüngliche Buchprojekt ist so glatt und unsympathisch, wie die Schilderung des Zusammenbruchs rau und berührend ist - sei sie erfunden oder nicht. Sätze wie "Man stirbt immer noch nicht, doch das Herz ist nicht mehr dabei" erinnern an F. Scott Fitzgeralds "The Crack-Up". Die Gedanken zur Literatur werden komplex, als Carrère erkennt, dass "psychiatrische Autobiographie" und Yoga-Essay auf unheimliche Weise zusammengehören: "Dasselbe Buch, weil das Krankheitsbild, mit dem ich zu tun habe, die entsetzliche, verkorkste Parodie des großen Gesetzes der Verwandlung ist, dessen Harmonie ich vor etwa dreißig Seiten noch so aufrichtig gefeiert habe." Er entwickelt eine abgeklärte Sicht auf Yoga und dessen Schattenseiten, etwa die Geschichte des Asketen Sangamaji mit der "Empathie einer gefrorenen Kartoffel".
Entscheidend sind Überlegungen zur Wahrheit: "Alles, was wirklich ist, ist per Definition wahr, aber manche Wahrnehmungen der Wirklichkeit haben einen höheren Wahrheitsgehalt als andere, und das sind nicht die angenehmsten. Ich glaube zum Beispiel, dass der Wahrheitsgehalt bei Dostojewski höher ist als beim Dalai Lama." Der Roman ist ein Rückblick "mit einer Mischung aus Nostalgie, bitterer Ironie und im Nachhinein Fassungslosigkeit" auf den glücklichen Menschen, der Carrère einst war; heute ist Yoga ihm nur noch eine provisorische Zuflucht. Allein die Literatur hilft, Schmerz und Chaos auszuhalten, die in Carrères wohlerzogenen Sätzen wüten. NIKLAS BENDER.
Emmanuel Carrère: "Yoga". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022. 352 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Frankreich machte dieses Buch Skandal: Emmanuel Carrères Roman "Yoga" ist ein ebenso virtuoses wie umstrittenes Beispiel der Autofiktion
Die elegante Untertreibung ist Emmanuel Carrères zentrales Stilmittel. Wer "Yoga", dem Titel seines neuesten Romans, folgt und ein sanftes, spirituelles Buch erwartet, sollte durch den Vorgänger "Alles ist wahr" (2009) gewarnt sein: Dort berichtet Carrère vom Tsunami des Jahres 2004, dessen Zeuge er auf Sri Lanka wurde, und fügt ätzende Seitenhiebe auf eine Gruppe von schweizerdeutschen Ayurveda-Anhängern ein, die in Chaos und Leid ihren Übungen nachgehen, als wäre nichts geschehen. Im neuesten Roman nun bricht abermals Zerstörung ein: Das Projekt eines Yoga-Buches wird durch die physische Gewalt islamistischer Attentate und die psychische eines depressiven Zusammenbruchs sabotiert. Am Ende ist alles brüchig: Stil, Buchprojekt und Psyche.
Zum Ausgangsprojekt: Mit dem Vorhaben, das eigene Ego zu disziplinieren und "ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga" zu schreiben, geht der Icherzähler im Januar 2015 ins Morvan, um dort einen Vipassana-Kurs zu machen. Die Vorgabe: zehn Tage Isolation, Schweigen, Diät, Meditation. Er beschreibt die ersten zwei Tage und flicht ein, was Tai-Chi und Yoga für ihn bedeuten; er versucht sich an Definitionen, berichtet von Erlebnissen, etwa einer Tai-Chi-Stunde in Kanada, die ein Wolf beobachtet, oder einer heißen Sexaffäre nach einem Intensivkurs. Er schildert sich und die anderen auf der Suche nach innerem Frieden: ein Carrère-Paradestück, das, scheinbar harmlos, das Menschlich-Allzumenschliche mit ätzendem Verständnis auslotet und sich selbst einen verdienten Platz als "Berg mit Kühen-Meditierer" sichert.
Der erste Teil endet abrupt: Die "Charlie Hebdo"-Attentate zwingen den Erzähler zur Abreise, weil er die Grabrede auf seinen ermordeten Freund Bernard Maris halten muss. Die Krise mündet in einen psychischen Zusammenbruch, ohne dass Chronologie und Kausalität klar würden - eine eigenartige Lücke. Jedenfalls durchlebt er eine Depression, die zu einem viermonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie führt. Man diagnostiziert bei ihm Tachypsychie - "etwas wie Herzrasen, nur für geistige Aktivitäten" - als Teil einer Bipolar-II-Störung; wegen der Suizidwünsche durchläuft der Erzähler eine Elektrokonvulsionstherapie. Teil vier und fünf berichten vom schweren Neuanfang: Der Erzähler hilft auf einer griechischen Insel dabei, Flüchtlingsjungen zu unterrichten. Abschließend berichtet Carrère von den letzten Kontakten mit seinem langjährigen Verleger Paul Otchakovsky-Laurens und der Niederschrift des Romans, die nach mehreren Anläufen endlich gelingt.
Nach "Das Königreich" (2014) war "Yoga" ein lang erwartetes Werk und ein Favorit auf den Prix Goncourt 2020. Da brach im September des Jahres eine Polemik los, die unter anderem die Frage aufwarf, ob "Yoga" überhaupt ein Roman ist. Als Gerüchte von Eingriffen kursierten, die Textlücken erklären würden, machte die Journalistin Hélène Devynck, von 2011 bis 2020 Carrères Ehefrau, von ihrem Recht auf Gegendarstellung Gebrauch. In "Vanity Fair" erinnerte sie an den Vertrag, der Carrère verbiete, ihr Privatleben ohne ihre Einwilligung öffentlich zu machen. "Yoga" habe diese Vereinbarung nicht respektiert und verzerre die Wirklichkeit: Wenige Tage mit Flüchtlingen seien zu zwei Monaten gedehnt und zeitlich verschoben worden (tatsächlich hätten sie vor dem Psychiatrie-Aufenthalt stattgefunden); aggressives Verhalten während der Krankheit werde heruntergespielt, die familiäre Unterstützung unterschlagen. Die Polemik kostete wohl die Goncourt-Chancen.
So what? "Yoga" ist ein Roman, könnte man einwenden. Nur behauptet Carrère etwas anderes: "Was die Literatur betrifft oder zumindest die Art von Literatur, der ich nachgehe, habe ich eine, eine einzige, Überzeugung: Sie ist der Ort, an dem man nicht lügt. Dieser Imperativ ist absolut, alles andere ist nebensächlich, und ich glaube, mich immer an diesen Imperativ gehalten zu haben." Das behauptet "Yoga" mehr als einmal: "Jemand wie ich, der keine Fiktion schreibt", sagt Carrère und lehnt die Bezeichnung Autofiktion ab. Die Kontroverse bringt zum Grübeln: Es wirkt bedenklich, dass Carrère das Wahrhaftigkeits-Credo ausgerechnet mit "Der Widersacher" (2000) entwickelt hat, einem Text über einen pathologischen Lügner und Mörder, der im Buch mit großer Empathie dargestellt wird.
Brisant ist der Sachverhalt auch deshalb, weil er einen Gutteil der zeitgenössischen Literatur mittrifft: Ob sie sich Autofiktion nennt oder nicht, Energie und Erfolg zieht sie aus dem Willen zur Wahrhaftigkeit, das gilt für Annie Ernaux, Édouard Louis oder Christine Angot. Welche Wahrheit meint Carrère? Dass es Abbildrealismus nicht sein kann, scheint offensichtlich, Details behandelt er frei. Der schönere Originaltitel von "Alles ist wahr" lautet "D'autres vies que la mienne" (Von anderen Leben als meinem): Im intimen Grenzbereich, wo das eigene Leben anderen begegnet, ist Wahrheit meist subjektiv. Wahrheit also als Aufrichtigkeit?
Am besten konzentriert man sich auf die großen literarischen Qualitäten. "Yoga" gewinnt seine Kraft aus dem Kontrast: Das ursprüngliche Buchprojekt ist so glatt und unsympathisch, wie die Schilderung des Zusammenbruchs rau und berührend ist - sei sie erfunden oder nicht. Sätze wie "Man stirbt immer noch nicht, doch das Herz ist nicht mehr dabei" erinnern an F. Scott Fitzgeralds "The Crack-Up". Die Gedanken zur Literatur werden komplex, als Carrère erkennt, dass "psychiatrische Autobiographie" und Yoga-Essay auf unheimliche Weise zusammengehören: "Dasselbe Buch, weil das Krankheitsbild, mit dem ich zu tun habe, die entsetzliche, verkorkste Parodie des großen Gesetzes der Verwandlung ist, dessen Harmonie ich vor etwa dreißig Seiten noch so aufrichtig gefeiert habe." Er entwickelt eine abgeklärte Sicht auf Yoga und dessen Schattenseiten, etwa die Geschichte des Asketen Sangamaji mit der "Empathie einer gefrorenen Kartoffel".
Entscheidend sind Überlegungen zur Wahrheit: "Alles, was wirklich ist, ist per Definition wahr, aber manche Wahrnehmungen der Wirklichkeit haben einen höheren Wahrheitsgehalt als andere, und das sind nicht die angenehmsten. Ich glaube zum Beispiel, dass der Wahrheitsgehalt bei Dostojewski höher ist als beim Dalai Lama." Der Roman ist ein Rückblick "mit einer Mischung aus Nostalgie, bitterer Ironie und im Nachhinein Fassungslosigkeit" auf den glücklichen Menschen, der Carrère einst war; heute ist Yoga ihm nur noch eine provisorische Zuflucht. Allein die Literatur hilft, Schmerz und Chaos auszuhalten, die in Carrères wohlerzogenen Sätzen wüten. NIKLAS BENDER.
Emmanuel Carrère: "Yoga". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2022. 352 S., geb., 25,- Euro.
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