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Ich bin frei: Ulrike Kolb schreibt in ihrem Roman "Yoram" über eine deutsch-israelische Beziehung und das Bollwerk der Liebe.
Wo die Liebe hinfällt, sind meist auch Konflikte nicht weit. Zumal in der Literatur - und erst recht, wenn die Liebe sich unter politischen Vorzeichen ereignet. Vor fast fünfzehn Jahren, im Jahr 1995, hat die in Frankfurt lebende Autorin Ulrike Kolb in der Erzählung "Diese eine Nacht" schon einmal eine deutsch-jüdische Liebe zum Gegenstand ihres Schreibens gemacht. Meret und Anton, beide Journalisten mittleren Alters, verstrickten sich darin in eine amour fou mit offenem, tendenziell unerfreulichem Ausgang. In "Yoram" nimmt Kolb diese Konstellation variierend wieder auf. In Umkehrung zu "Diese eine Nacht" bilden eine deutsche Frau und ein jüdischer Mann die Pole im Spannungsverhältnis der Geschlechter, wird diesmal aus weiblicher Perspektive erzählt.
Carla, Erzieherin, und Yoram, frisch diplomierter Architekt, lernen sich in einem Kibbuz in Tel Aviv kennen. Sie sucht nach alternativen Methoden der Kindererziehung, er hat sich nach dem Studium und dem Tod des Vaters dorthin zurückgezogen. Bei hitzigen Diskussionen und warmem Whisky in lauen Nächten tun sich die beiden zusammen und lenken durch eine Heirat die Sommerliebe in ihrem Wohnort Frankfurt in feste Bahnen. Wo sich in "Diese eine Nacht" die deutsch-jüdische Thematik eher hintergründig auf das Verhältnis des Paares auswirkte, beschreibt "Yoram" expliziter, wie durch diese Konstellation das Bollwerk der Liebe aus seiner Verankerung gelöst wird.
Der Roman taucht in die Geschichten beider Familien ein, die Biographien der Eltern und Großeltern werden in Bruchstücken rekonstruiert, die jeweiligen Milieus beleuchtet. Während Yorams Mutter, Überlebende der Schoa, immer wieder mit einem schweren Fluchttrauma zu kämpfen hat, schweigt Carlas Mutter sich über mögliche nationalsozialistische Machenschaften des verstorbenen, sich nach dem Krieg stets pazifistisch gebenden Vaters bis zum eigenen Tod aus. Erst bei der Wohnungsauflösung entdeckt die Tochter, dass ihr Vaterbild womöglich der Korrektur bedarf. Yorams Tel Aviver Freunde begegnen Carla mit Skepsis, im deutschen Freundeskreis brechen trotz dessen aufklärerisch-intellektuellen Gestus antisemitische Klischees durch. Scham und Verdrängung produzieren Stereotypen, die bis in die Gegenwart hineinwirken. Carla stößt dadurch an die Grenzen ihres Traums von intellektueller und emotionaler Freiheit. Die entlastenden Worte "Wir sind frei", die Yoram im Wissen einer möglichen Täterschaft ihres Vaters sprechen könnte, hört Carla nur in ihrer Vorstellung.
Vermittels in den Text verwobener literarischer und filmischer Zitate und Anspielungen von Ingeborg Bachmanns "Undine geht" über Georg Büchners "Lenz" und dessen Lesart durch Paul Celan bis hin zu Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten", Art Spiegelmans "Maus"-Comics und Claude Lanzmanns filmisches Opus magnum "Shoah" integriert Kolbs Roman die ästhetischen Positionen und Reflexionen auf die Schoa. Der Text setzt psychische, historische und ästhetische Prozesse derart ins Verhältnis, dass sich die ganze Wucht historischer Wirkmacht in den Protagonisten wie in einem Brennglas bündelt. Die Sprache unterstreicht diese Wirkmacht. "Erinnerung. Fällt in Schüben von Sätzen, Geräuschen, Gerüchen, Bildern über einen her. Filmfetzen aus meinem eigenen Leben." So beschreibt Carla ihren Blick auf die Vergangenheit und deren blinden Fleck. Wie Mosaiksteinchen werden die Teile der Geschichte zusammengesetzt, innerhalb der Rückblende finden starke Zeitsprünge statt; vieles bleibt fragmentarisch. Der Text führt den Leser in die Hoffnungen und Aporien dieser belasteten Liebe, die in einem Nervenzusammenbruch Carlas gipfelt.
Mit dem Epilog bricht Carlas Erinnerungsmonolog ab. Vered, Tochter von Carla und Yoram, verknüpft aus ihrer Perspektive die losen Fäden der (Familien-)Geschichte und spricht in ihre ungewisse Zukunft hinein. Ihre Sicht, in der unvereinbar scheinende Gegensätze aufeinandertreffen, könnte manches Klischee aufbrechen. Hier liegt das utopische Moment des Romans: "Zur Welt kommen, zu Wort kommen", hat sich Yorams Mutter auf einem ihrer fliegenden Zettel notiert, auf denen sie Bedenkenswertes festhält. Kolbs Erzählen ist die Beschwörung einer schöpferischen Kraft der Sprache gegen ein Verschweigen und Verstummen, die doch stets die drohende Verzweiflung im Blick behält.
BEATE TRÖGER
Ulrike Kolb: "Yoram". Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 300 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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