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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Düster-Dystopie mit leider viel realem Hintergrund: Vladimir Vertlibs schaurige Romanpersiflage auf den andauernden Konflikt in der Ostukraine.
Die Stadt weiß noch nicht, ob sie erobert oder befreit worden ist. Die einen freuen sich, andere haben Angst, doch vorerst ändert sich nicht viel. Die Stadt bleibt das, was sie schon in den Tagen zuvor gewesen war: eine Mausefalle. Sämtliche Zufahrtsstraßen sind blockiert, der Flughafen zerstört, der Hafen Frontzone." Es ist Krieg, nur dass die blutigen Kampfhandlungen offiziell als "erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen" bagatellisiert werden. Rebellen haben die Stadt in ihre Gewalt gebracht, zumindest für ein paar Tage im Frühling. Wasser, Strom, medizinische Versorgung, nichts funktioniert.
Es ist Krieg, und jeder, so scheint es, macht mit, zumindest in den sozialen Medien. Auch Paul Sarianidis. Der treu sorgende Familienvater und höfliche Schwiegersohn hat sich mit seinen Internetaktivitäten ziemlich in die Bredouille manövriert. Süchtig nach verbalen Attacken im Netz, ließ sich der arbeitslose Flugzeugingenieur mit einem Übermaß an Freizeit in allerlei populistische Chatgruppen hineinziehen, in denen alles andere als zurückhaltend über politische Gegner gewettert wird. Nun sitzt er dem von ihm digital aufs Übelste beschimpften Separatistenanführer Doktor Boris Lupowitsch leibhaftig und ziemlich kleinlaut gegenüber und macht sich vor laufender Kamera im wahrsten Sinne des Wortes in die Hosen. Krisen sind, so heißt es in Vladimir Vertlibs "Zebra im Krieg", Glanzzeiten fürs Internet, das längst in Abwandlung des Zitats von Clausewitz zur Fortsetzung und zum Vorspiel der postmodernen Gemetzel geworden sei. Wie, so fragt sich Paul zu spät, konnte es dazu kommen, dass er einen Menschen, den er gar nicht kannte, derart vulgär beleidigte? Warum machen brave Bürger ihre Nachbarn im anonymen Datenkosmos nächtens brutal herunter, die sie tagsüber freundlich im Treppenhaus grüßen?
Der 1966 im sowjetischen Leningrad geborene und nach einer Irrfahrt seiner Familie durch halb Europa und die Vereinigten Staaten seit 1981 in Österreich lebende Vladimir Vertlib hat mit seinem neuen Roman eine düster-dystopische Persiflage auf die Krise in der Ostukraine geschrieben. Wüsste man nicht um den Ernst und das Prekäre der politischen Lage, könnte man an manchen Stellen herzhaft lachen. Dabei geht es dem Autor weniger um die geopolitischen Ambitionen auf den internationalen Bühnen, Großmachtansprüche und Elitengeplänkel, sondern um die kleinen Dämonen in den Köpfen, die die große Katastrophe am Laufen halten und gleichzeitig von ihr überrollt werden.
Nach dem blamablen Video ihres Vaters, millionenfach geklickt, erlebt Pauls halbwüchsige Tochter Lena Häme und Ausgrenzung in der Schule, während er selbst unter dem Gegröle eines wütenden Mobs samt einer Theaterintendantin einer "Müll-Lustration" unterzogen wird - was heißt, mit Gewalt und üblen Sprüchen in einer Biomülltonne symbolisch entsorgt. Seine Frau hat als Ärztin im chronisch unterversorgten Stadtkrankenhaus in diesen Kriegstagen zum Glück Wichtigeres zu tun. Um seine Familie zu retten, gerät Paul in die Fänge zweier windiger PR-Agenten aus dem Nahen Osten, die eine deutsche Journalistin für viel Geld anheuern wollen, um sein ramponiertes Image zu reparieren. Längst schleichen westliche Pressevertreter um sein Haus.
Pauls ehrenvoller Versuch, das jüdische Rentnerpaar Katz aus den Fängen der Aufständischen zu befreien, endet mit einer ziemlichen Überraschung im von zähnefletschenden Straßenhunden belagerten und mit deren Kadavern übersäten Gouverneursgebäude. Dort sitzen die neuen Machthaber an den Schaltknöpfen der alten Medien. Wilde Tiere streifen durch die Stadt, von den Raketensprengsätzen wurden nicht nur Wohnhäuser, sondern auch der Zoo getroffen. Die ganze Stadt ähnelt einem riesigen Raubtiergehege. Sollen Paul und die Seinen dieses Sodom und Gomorrha verlassen? Oder bleibt er entschlossen, sich seine Stadt nicht wegnehmen zu lassen, "weder von Gott noch von den Menschen"?
Wehmütig erinnert sich Paul an die kosmopolitische Vergangenheit seiner Heimatstadt, einst ein "Magnet und Schmelztiegel" vieler Völker, darunter neben seinen eigenen griechischen, koptischen, ukrainischen und spanischen Vorfahren auch Juden, Armenier, Russen und viele andere. Ein Sprachenbabel, ein Sündenpfuhl, ein Sehnsuchtsort für Menschen von Nah und Fern. Das ist lange her. Mittlerweile produzieren der Krieg und seine Entgrenzungsrhetorik vor allem eindimensionale Identitäten, die nur noch in Wir und Ihr unterscheiden können, Hass scheint als Einziges in diesen Tagen Konjunktur zu besitzen. Je ähnlicher man sich ist, desto nachdrücklicher müssen Grenzlinien gezogen werden. Antisemitismus wuchert auf beiden Seiten, wie der alte Geiger Katz, dessen Balkonkonzerte die Nachbarschaft im Corona-Lockdown aufgemuntert hatten, erfahren musste. Dessen heimlicher Schatz, den Paul der Katz-Tochter in Kanada zukommen lassen soll, fällt Geldgeiern, die aus den widrigen Umständen Profit machen, zum Opfer.
Vertlib ist ein Meister der bitteren Ironie, des bissigen Sarkasmus und des Slapsticks. Sein Antiheld Paul ist Täter und Opfer zugleich, dessen Erzfeind Lupowitsch fungiert als Alter Ego - zwei Familienväter, die in einem anderen, besseren, normaleren Leben abends ein Bierchen zusammen trinken könnten.
Als Vorlage mögen dem Autor die Ereignisse in der am Asowschen Meer gelegenen Hafenstadt Mariupol gedient haben. Der Untertitel verweist auf "eine wahre Begebenheit". Die vor der Revolution blühende multikulturelle Handelsmetropole mit ehedem griechischer Mehrheitsbevölkerung und einer von den Nazis vernichteten großen jüdischen Gemeinde wurde seit den Kampfhandlungen im nahen Donbass zur umkämpften Frontstadt. Zwischen April und Juni 2014 kam es zu offenen Gefechten zwischen ukrainischen Sicherheitskräften und den als "Volksmiliz" bezeichneten prorussischen Rebellenverbänden. Bis heute sind die Spuren der militärischen Auseinandersetzungen sichtbar.
In einem Essay hatte Vertlib 2015 auf die erinnerungskulturellen Gemeinsamkeiten derer hingewiesen, die sich heute unversöhnlich gegenüberstehen. Beide sind mit den gleichen Büchern und Filmen groß geworden, beide sprechen die gleiche Sprache - oder doch sehr ähnliche Sprachen. Beide nutzen das Vokabular der Zweiten Weltkriegs, in dem ihre Großväter Seite an Seite gekämpft haben, nur dass jetzt jeder den anderen der Aggression, der Kollaboration, des Verrats beschuldigt. Eine nicht bewältigte Vergangenheit aus Sowjetzeiten werde im tagespolitischen Konflikt reaktiviert und radikalisiert. Das mag wahr sein, hilft aber bei der Deeskalation wenig, weder im Roman noch in der Realpolitik.
In der Fiktion beginnt am Ende des Albtraums für die Bewohner der Hafenmetropole ein neuer Horror. Im verwüsteten Zoo der von den Regierungstruppen zurückeroberten Stadt sitzen nun die vermeintlichen Terroristen in den Tiergattern, die illegalen Migranten und Asylbewerber, die auf dem Weg nach Westen an diesem umkämpften Rand Europas gestrandet sind, werden interniert und sollen in die Ursprungsländer rückgeführt werden, und an Pauls Wohnungstür scheppert es bereits wieder verdächtig. SABINE BERKING
Vladimir Vertlib: "Zebra im Krieg". Nach einer wahren Begebenheit. Roman.
Residenz Verlag, Wien 2022. 290 S., geb., 24,- Euro.
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