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Verdeckte Manipulation als perverses Geschäftsmodell: Jaron Lanier geht mit Facebook, Google und Konsorten hart ins Gericht
Um ein Haar wäre Jaron Lanier mit seinem heute erscheinenden Buch eine publizistische Punktlandung geglückt. Wären seine "Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst" nur drei Monate früher erschienen, eine besonders umfassende Aufmerksamkeit wäre ihnen im jüngsten Facebook-Datenskandal gewiss gewesen.
Es wären nach Lektüre des Buches möglicherweise nicht nur diejenigen von dem sozialen Netzwerk abgesprungen, die ihre Beteiligung im Grunde schon lange nicht mehr vertretbar fanden, sondern möglicherweise auch viele derer, die seine größten Opfer sind. Obwohl das Unternehmen oft genug bewiesen hat, dass es die Privatsphäre seiner Nutzer an unterschiedlichste Anzeigenkunden zu verhökern bereit ist, gibt es immer noch viele Netzwerker, die eine Art Dankbarkeit für fesselnde interaktive Stunden vor der Facebook-Maske empfinden. Damit machen sie es dem Unternehmen leicht, sich immer wieder seiner Verantwortung für gesellschaftliche Prozesse zu entziehen, auf die es, und sei es nur aus Nachlässigkeit, kaum bestreitbar Einfluss hat.
Was die Punktlandung angeht, fehlt Laniers neuem Buch darüber hinaus vor allem aus europäischer Sicht ein wichtiger Aspekt. Denn für europäische Leser hat sich die Beziehung zum Datenschutz in den letzten Tagen insofern erheblich verändert, als seit dem 25. Mai eine Grundverordnung wirksam ist, welche die Datenwillkür der großen Internetunternehmen eindämmen soll. Jaron Lanier aber nimmt die europäische Gesetzgebung in seinen Büchern seit Jahren inhaltlich kaum zur Kenntnis; was bedauerlich ist, denn der Datenschutz mit seinen vielen unterschiedlichen Standards benötigt dringend einen besseren weltweiten Austausch. Zudem hätte es einen schon interessiert, was der Friedenspreisträger von den neuen Gesetzen hält.
Selbst in allerjüngster Zeit haben sich die Verhältnisse, die Laniers Buch zugrunde liegen, ein weiteres Mal gedreht. Im April hatte sich Facebook-Chef Mark Zuckerberg zunächst vor dem Amerikanischen Kongress dafür entschuldigt, den Versuch der politisch motivierten Manipulation durch das auch von Donald Trump beauftragte Beratungsunternehmen Cambridge Analytica nicht unterbunden zu haben, im Mai folgte ein bereits routinierter Bußgang vor das Europäische Parlament - nicht ohne jedes Mal den Eindruck erwecken zu wollen, Facebook habe aus seinen Fehlern gelernt und sei für die Zukunft gewappnet.
Was im Endeffekt dazu führte, dass Facebooks Nutzer, trotz einer das Unternehmen offenbar beeindruckenden Kündigungswelle, Zuckerberg größtenteils die Stange hielten. Der Aktienkurs, der zeitweilig abgerutscht war, hat sich wieder erholt, das soziale Netzwerk kann, nachdem es die verordnete Genehmigung zur Datenausbeutung von seinen europäischen Anhängern eingeholt hat, wieder zur Tagesordnung übergehen. Die Datenschutzgrundverordnung aber, deren Wert für eine informationelle Selbstbestimmung sich gut noch erweisen könnte, ist wegen des mit ihr verbundenen bürokratischen Aufwands in den letzten Tagen umfassend verspottet und verflucht worden.
Es wäre aber ebenso falsch, davon auszugehen, dass die Verordnung Facebook und Google bereits ausreichend gezähmt habe. Für Laniers gewohnt persönlich gehaltene und durch Argumente aus den unterschiedlichsten Wissensbereichen unterfütterte Aufforderung zur Social-Media-Accountlöschung fehlt keinesfalls die Grundlage.
Laniers Ansatz ist betont radikal. Es geht ihm nicht nur darum, Facebook- und Google-Nutzer zu ermutigen, sich durch Kündigung dem organisierten Ausspähen zu verweigern. Sein oberstes Ziel ist vielmehr, ein ganzes Geschäftsmodell und dessen Auswirkungen auf die digitale Kommunikation abzuschaffen. Laniers Analyse ist eindeutig, und sie hat Gewicht, da der anerkannte Programmierer beste Kontakte ins Silicon Valley pflegt: Unternehmen, die den Großteil ihres Gewinns damit erwirtschaften, "Kunden zu finden, die bereit sind, dafür zu zahlen, das Verhalten anderer Menschen zu verändern", und zwar verdeckt, sind aus seiner Sicht würdelos und schaden nachhaltig der Gesellschaft. Denn dank der digitalen Werkzeugpalette von Facebook und Co. müssen sich Institutionen und Unternehmen längst nicht mehr mit analogen Glückstreffern begnügen, sondern können die Nutzer sozialer Medien durch individualisierte Ansprache an ihrem durch Algorithmen errechneten empfänglichsten Punkt treffen - und wenn sich auch nur die Verwendung einer bestimmten Buchstabentype in einer Bildunterschrift unter bestimmten Voraussetzungen als wirksamer erwiesen hat als eine andere.
Für Plattformen, die diesen Kriterien genügen, versucht Lanier, wie es scheint ein wenig in Anlehnung an Harry G. Frankfurts "Bullshit"-Kampfschrift, den Begriff "Bummer", englisch für "Mist" oder "Niete", zu etablieren. Bummer-Maschinen seien durch ein Abc geprägt, in dem zum Beispiel das A für "Arschloch-Herrschaft" stehe, die sich wiederum für Lanier in sozialen Netzwerken fast zwangsläufig durchsetzt, weil negatives Feedback die größte Aufmerksamkeit erweckt und Nutzer am längsten auf den entsprechenden Plattformen bindet.
Weitere Merkmale für Lanier sind neben einem "perversen Geschäftsmodell" die "totale Überwachung", "aufgezwungene Inhalte", angestrebte "Verhaltensmodifikation" und "Fake People", welche die ohnehin schon "vergiftete" Kommunikation in sozialen Netzwerken noch zusätzlich in eine bestimmte Richtung lenken.
Die meisten von Lanier in diesem Zusammenhang angeführten Argumente sind nicht neu. Besonders beeindruckend, wenn auch nicht durchweg wissenschaftlich fundiert, ist das Kapitel, in dem er die Entstehung des Suchtverhaltens in sozialen Netzwerken zu verstehen versucht. Am stärksten aber ist das neue Buch in jenen Passagen, in denen es Lanier gelingt, den Leser davon zu überzeugen, dass das Internet auch ganz anders, menschlicher aussehen könnte, als es sich momentan darstellt.
So waren sich die Internetpioniere sehr wohl der Tatsache bewusst, dass dem Nutzer im World Wide Web eigentlich ein eigener Speicherplatz oder eine Funktion zur Suche nach anderen Personen zustehe. Man hätte das auch durchaus einrichten können, so Lanier, dachte aber, die entsprechenden Dienste lägen besser in privatwirtschaftlicher als in staatlicher Hand. Damit habe man Monopole ermöglicht, die es hinfort als verhängnisvolles Dogma ausgaben, "dass man die Verbindung zwischen zwei Menschen nur durch einen Dritten finanzieren kann, der dafür bezahlt, beide zu manipulieren."
Viele Mutmaßungen über die Algorithmen sozialer Netzwerke und ihre gesellschaftliche Auswirkung bezeichnet Lanier selbst als "statistisch und ungenau", aber realistisch. Garant für die Langlebigkeit scheint hier vor allem die Intransparenz zu sein. Im Aufbrechen der Algorithmen, gesetzlich oder durch Nutzerdruck, liegt der Schlüssel zu einem sozialeren Internet, das Lanier fast rührend in seinem Schlusskapitel entwirft.
UWE EBBINGHAUS
Jaron Lanier: "Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst". A. d. Englischen von Karsten Petersen und Martin Bayer. Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 208 S., geb., 14,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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