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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Manuela Reicharts Prosa kommt
zu schnell auf den Punkt
Eine Frau liegt im Sterben. Ein Bild geht ihr nicht aus dem Kopf: „Ich sehe es vor mir.“ Wir sehen es nicht. Ein Satz lässt ihr keine Ruhe, damals wie heute ungesagt. Hätte sie diesen offenbar kritischen Satz über jenes Bild ausgesprochen, dann wäre ihr Leben anders verlaufen. Dann wäre sie nicht jahrzehntelang mit dessen Maler verheiratet gewesen, hätte mit ihm keine Kinder bekommen, und er hätte sie nicht wegen einer Jüngeren verlassen können. Solche Gedanken dämpfen die Erwartungen an das ganze Leben, das einem der Titel dieses schmalen Bandes verheißt. „Das Leben ist kein Roman, es ist eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger pointierten Kurzgeschichten“, lautet die poetologische Erläuterung dazu.
Pointieren kann Manuela Reichart. Nicht des Lebens Fülle, sondern dessen bittere Neige wird hier in siebzig spartanischen Portionen verkostet. Auf eine Schlittenszene mit dem Großvater folgt ein Katalog von Enttäuschungen, die auch gelegentliche Lichtblicke eintrüben: der Kindergartenfreund – ein schamloser Bigamist. Der erste Hund – eingeschläfert. Der erste Bühnenauftritt beim kirchlichen Weihnachtsspiel – ein Desaster. Die große Liebe – das hätte sie eigentlich schon im Kindergarten begriffen haben sollen. So geht das weiter, bis sie stirbt – mit einem Zitat aus „Lady Chatterley“ auf den Lippen und mit der Fußnote gleich dazu: „Das wäre es also.“
Mehr also nicht? Gleich zu Beginn schon vor den letzten Dingen stehend, kommt dieses Buch zu schnell aufs bedeutend Allgemeine. Manuela Reicharts Talent, Dinge auf den Punkt zu bringen, führt dazu, dass sie viel sagt und zu wenig zeigt: „Am vierten gibt sie auf“, heißt es nachdem die kindliche Protagonistin wegen der Einschläferung ihres Hundes Essen und Sprechen verweigert hat. Wäre die Hundegeschichte länger als eine Dreiviertelseite gewesen, dann hätte die Lakonie dieses Satzes deutlich mehr Gewicht. So aber wird auf den Punkt gebracht, was gar nicht erzählt worden ist. Eine Liebesenttäuschung mündet auf insgesamt acht Zeilen in den Satz: „Sie lebt weiter, vergisst den Schönen mit den strahlenden blauen Augen – und verlässt den nächsten Mann, der sie liebt.“ Das ist pointiert, aber auf Nadelspitzen mögen zwar Engel Platz finden, doch selbst sehr kurze Kurzgeschichten benötigen etwas mehr Platz, um einen unvergesslichen Eindruck zu hinterlassen.
Als der Tod schon sehr nahe ist, wird – noch vor „Lady Chatterley“ – Rilke zitiert.Der hat anderswo einmal das Sterben des französischen Lyrikers Felix Arvers so beschrieben: Auf dem Totenbett habe dieser sich noch einmal aufgerafft, um eine ungebildete Nonne zu korrigieren, die das Wort „Korridor“ falsch ausgesprochen habe: „Er war ein Dichter und hasste das Ungefähre“, lautet der Kommentar, ein schön pointierter Satz zu einer Szene von unvergesslicher Bildhaftigkeit. Das vermisst man gelegentlich in diesem Buch.
Auch Reicharts Erzählerin hasst das Ungefähre. Doch beschränkt sie sich allzu sehr auf Wörter. Szenen, Bilder, Gerüche, Geschmäcke, Klänge – all das bedeutend Individuelle – bleiben so vage wie jenes gesehene, doch nicht gezeigte Bild am Anfang. Zehn Minuten sind für ein ganzes Leben einfach zu wenig. Und die Hälfte des Lebens hätte auch genügt.
ULRICH BARON
Manuela Reichart: Zehn Minuten und ein ganzes Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 110 Seiten, 16,99 Euro.
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