Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt von menschlicher Schuld, dem Vergehen der Zeit und unserer Sehnsucht nach Erlösung. In fünf hochgelobten Romanen hat Reinhard Kaiser-Mühlecker ein großes Epos der menschlichen Schuld geschrieben. In seinen drei Erzählungen verdichtet er die existentiellen Fragen: Wie wird der Mensch schuldig? Wie verketten sich Verfehlungen, Verschweigen, Gerüchte und Lügen zu einer Lebensgeschichte? Und ist jeder unausweichlich in sein vorgezeichnetes Schicksal verstrickt? Ein ängstlicher Verrat, eine Bösartigkeit, ein perfider Freundschaftsdienst lösen ein Unheil aus, das lange nachwirkt. Mit großer poetischer Kraft erzählt Kaiser-Mühlecker von der Sehnsucht, den alten Geschichten und der Vergangenheit zu entkommen und ein eigenes, freies Leben zu beginnen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2015Der Betrug hat kein Verfallsdatum
Man darf sich den Autor als einsamen Romantiker vorstellen: Der Österreicher Reinhard Kaiser-Mühlecker und seine Erzählungen von Schuld und Sühne
Bevor sich alles für immer verändert. Bevor das Netz reißt und das Bild zerspringt. Bevor der Tumult einsetzt, die Tobsucht beginnt, schleicht auf leisen Sohlen die Ahnung heran. Nicht die schwindsüchtige Sorge mit ihren ausgemergelten Wangen, sondern die gefährlich anmutige Ahnung. Sie pflanzt den Keim des Verdachts ein, des Verdachts, getäuscht zu werden. Erst langsam, dann immer schneller wächst, was schließlich aufbricht. Ein letztes sehnsüchtiges Suchen nach Halt im Blick des anderen, einmal noch vertrauen wie früher. Und dann der Moment, wenn das Schicksal zuschnappt wie ein bissiger Hund.
Der Betrug hat viele Gesichter. Er nimmt unterschiedliche Töne und Farben an, tritt in unzähligen Formen auf. In jedem Leben. Und immer zerstört er Festgefügtes, mordet Vertrauen. Dreimal erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker, 32, in seinem neuen Band "Zeichnungen" davon. Dreimal lässt er aus den Fugen geraten, was vorher beständig, gar glücklich war. Es sind Geschichten, scheinbar einfach erzählt und begriffen, aber jede von ihnen hat einen gewaltigen Nachhall.
Aus heiterem Himmel verliert ein Mann seine Arbeit. Und die Hoffnung dazu. Seine Frau wird schweigsam, ihr Blick trübt sich. Eines Nachmittags packt sie den Koffer und zieht mit Gewalt den Reißverschluss zu. Zurück bleibt ein Zettel auf dem Küchentisch. Und ein Mann, der sein Haus nur noch in schweren Bergschuhen verlässt. Sie allein können ihm jetzt Halt geben, ihn stützen. Nie hätte er geahnt, dass die Welt um ihn herum so abweisend, so bedrückend werden könnte. Die Orte, an denen sie gemeinsam waren, werden zu blinden Flecken auf der Landkarte der Erinnerung. Nie mehr Schlittschuhlaufen: "es hätte mir nur gezeigt, dass sie nicht mehr da war; ich hätte die Leere neben mir herfahren gespürt, und davor wollte ich mich hüten".
Die Angst vor dieser Leere, sie lässt ihn nicht mehr los, drückt ihn zu Boden. Und dann, eines Abends, sieht er sie. Arm in Arm mit einem anderen Mann. Da ist er, der Moment, der sich einbrennen und nie mehr weichen wird. Eine fremde Hand an ihrer Taille. Nie wird er sie vergessen. Auch später nicht, als sie zurückkehrt zu ihm, sie das Bett wieder teilen. Wie eine blutende Wunde, die kein Mittel stillt, bleibt ihr Betrug bestehen, und kein offenes Reden wie vorher, sondern nur hilfloses Lächeln bestimmt von nun an ihr Miteinander.
Oder: Erst zwei nackte Körper im Mondlicht während des Fronturlaubs. Dann zwei Freunde im Schützengraben unter dem "sternendurchschossenen Nachthimmel". Der eine ist in der Heimat gewesen, den anderen treibt ein rasender Verdacht: "Du bist bei ihr gewesen." Dabei war's ein anderer, ein Pole, der seine Braut geschwängert hat. Aber die Eifersucht, einmal entbrannt, kennt kein Zurück. Der Gehörnte stirbt im Glauben an den Verrat, der Freund kehrt zurück und nimmt Rache. Am Polen, aber auch an der treulosen Braut. Er zwingt sie zur Ehe, zur Liebe. Und betrügt den Freund also doch. Später wird sich die verzweifelte Frau das Leben nehmen und er sich eine neue Geliebte, ein neues Leben suchen. Die Schuld jedoch bleibt, überträgt sich wie ein Virus.
Wieder ein Betrug im Mondlicht, wieder ändert ein verschwommenes Bild alles: "Nur den weißen Schimmer ihrer Wangen, der Schenkel und Arme konnte ich ausmachen, alles andere war verdeckt. Mein Blick fixierte die in der Dunkelheit kaum wahrnehmbaren Bewegungen." Der Blick, der auf den vertrauten, geliebten Körper fällt, als der lustvoll einen anderen, fremden umklammert, wird starr und böse. Wie ein Fluch verfolgt ihn von nun an die beobachtete Szene. Linderung gibt es für ihn nur da, wo er heimtückisch einem anderen den Verdacht einflüstern, ihn auf den zermarternden Gedanken eines möglichen Betrugs bringen kann.
"Male" nennt Reinhard Kaiser-Mühlecker diese Geschichte, in der er auf ebenso präzise wie grausame Weise von der Nachwirkung einer einmal auf sich geladenen Schuld erzählt. Wie ein Brandmal bleibt sie ewig sichtbar und schmerzt immer wieder aufs Neue. Hinter dem fein austarierten Rhythmus der Erzählstruktur mit ihren vorsichtigen Anläufen und dramatischen Höhepunkten scheint das stets wiederkehrende Motiv dieses Autors auf: die Suche nach den Verbindungslinien zwischen den Schicksalsmomenten unseres Lebens.
Wie hängen Betrug, Schuld und Sühne zusammen, wie wirkt Gerechtigkeit? Es ist ein unerbittlicher, fast alttestamentarischer Furor, mit dem hier gerächt und gesühnt wird. Die nahezu archaisch anmutende Erzählhaltung mag manchen Leser verstören oder befremden. Und doch liegt genau hier die einzigartige Kraft dieses Autors.
Es ist eine kompromisslose Haltung, mit der Kaiser-Mühlecker seinen Figuren und ihren Schwächen begegnet. Zuletzt konnte man sich davon in einer Romantrilogie (der abschließende Band "Roter Flieder" erschien 2012) überzeugen, in der er das heillose Schicksal der Familie Goldberger schildert. Diese Haltung setzt er auch im neuen Buch fort. Und beginnt doch etwas Neues. Sein Ton ist im Klangraum der "Erzählung" noch bestimmter, fester geworden, ohne aber die Lautstärke zu erhöhen. Das ist gerade das Wunderbare, dass hier einer den Mut hat, leise zu schreiben, vorsichtig tastend, aber nie unsicher, sondern in seiner Behutsamkeit selbstgewiss. Das macht die Sprache von Kaiser-Mühlecker so anziehend und so einzigartig unter den jüngeren deutschsprachigen Autoren.
Man darf sich den Österreicher, der seit einigen Jahren in Stockholm lebt, als einen im klassisch-romantischen Sinne einsamen Autor vorstellen. Einen, der die dunklen Stunden und Tage im hohen Norden schreibend verbringt, der am Fenster sitzt, sehnsüchtig träumend von dem, was Heimat sein könnte. Die Vergangenheit als Lebensmacht ist Ausgang und Zielpunkt seines Denkens und Schreibens. Und doch ist es nie gegenwartsvergessen. Auf der Spur des Immergleichen sucht Kaiser-Mühlecker nach den verborgenen Gefühlsströmungen, die uns auch jetzt, im Heute, umtreiben. Das gelingt ihm in seinem neuen Erzählband auf eindrucksvolle Weise. Denn der Betrug hat ja kein Verfallsdatum, kennt keine Epochengrenze. Immer schon schlägt er mit derselben Gewalt ins Gesicht und Gewissen der Menschen.
Neben dem körperlichen, dem sexuellen Betrug, der in den Wahnsinn treibt und Katastrophen verursacht, gibt es auch den anderen Betrug. Der nicht allein mit Kopf und Körper, sondern mit ganzer Seele begangen wird. Die dritte und letzte Geschichte erzählt davon. Ein Junge verlässt den elterlichen Hof, weil er die "Schande" ahnt, nur das Produkt eines Seitensprungs seiner Mutter zu sein. In einem Landwirtschaftsbetrieb arbeitet er sich hoch, wird zur rechten Hand des Direktors und gewöhnt sich an das Gefühl, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Um bessere Chancen auf die Nachfolge zu haben, heiratet er die Tochter des Chefs. "Wunderbare Jahre - aber sie vergingen." Das Unglück beginnt hier nicht mit dem sexuellen Betrug, nicht mit der Aufdeckung seiner Seitensprünge, sondern in dem Augenblick, als er - ermüdet vom Abenteuer - beginnt, seine Frau wirklich zu lieben, und sie bemerkt, dass alles zuvor nur Betrug und Berechnung war.
"Ist der menschliche Blick jemals frei von Erinnerung?", fragt der Erzähler hier einmal lakonisch. Der Satz steht als Motto über allen drei Geschichten. Die Erinnerung, das ist in den Erzählungen von Reinhard Kaiser-Mühlecker vor allem die Erinnerung an Schuld und Vergehen. Davon kann es keine Befreiung geben. Die einfühlsame Genauigkeit, mit der dieser Autor auf seine Figuren und ihr Schicksal blickt, findet ihren Ausdruck in Sätzen, die scharf gespitzt sind, aber nicht prätentiös klingen. Sie prägen sich ein, weil sie schlicht sind und doch das Ganze umfassen.
Die Beschreibung des Moments zum Beispiel, in dem einer begreift, was Trennung bedeutet: "Wie war das, als du noch nicht alleine warst? Immer war sie da, und du warst auch immer da. Jeden Tag. Nie war das Warten umsonst, und immer gab es Warten. Jetzt war kein Warten mehr." Und an anderer Stelle findet sich in diesem wundervollen Erzählband sogar einer der schönsten, zärtlichsten Sätze, die man seit langem über das Glück des Zusammenseins gelesen hat: "Zu sehen, dass jemand sieht, gerne sieht, zustimmend sieht, dass man, noch, da ist. War das nicht alles?"
SIMON STRAUSS
Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Zeichnungen". Drei Erzählungen. S. Fischer, 304 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man darf sich den Autor als einsamen Romantiker vorstellen: Der Österreicher Reinhard Kaiser-Mühlecker und seine Erzählungen von Schuld und Sühne
Bevor sich alles für immer verändert. Bevor das Netz reißt und das Bild zerspringt. Bevor der Tumult einsetzt, die Tobsucht beginnt, schleicht auf leisen Sohlen die Ahnung heran. Nicht die schwindsüchtige Sorge mit ihren ausgemergelten Wangen, sondern die gefährlich anmutige Ahnung. Sie pflanzt den Keim des Verdachts ein, des Verdachts, getäuscht zu werden. Erst langsam, dann immer schneller wächst, was schließlich aufbricht. Ein letztes sehnsüchtiges Suchen nach Halt im Blick des anderen, einmal noch vertrauen wie früher. Und dann der Moment, wenn das Schicksal zuschnappt wie ein bissiger Hund.
Der Betrug hat viele Gesichter. Er nimmt unterschiedliche Töne und Farben an, tritt in unzähligen Formen auf. In jedem Leben. Und immer zerstört er Festgefügtes, mordet Vertrauen. Dreimal erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker, 32, in seinem neuen Band "Zeichnungen" davon. Dreimal lässt er aus den Fugen geraten, was vorher beständig, gar glücklich war. Es sind Geschichten, scheinbar einfach erzählt und begriffen, aber jede von ihnen hat einen gewaltigen Nachhall.
Aus heiterem Himmel verliert ein Mann seine Arbeit. Und die Hoffnung dazu. Seine Frau wird schweigsam, ihr Blick trübt sich. Eines Nachmittags packt sie den Koffer und zieht mit Gewalt den Reißverschluss zu. Zurück bleibt ein Zettel auf dem Küchentisch. Und ein Mann, der sein Haus nur noch in schweren Bergschuhen verlässt. Sie allein können ihm jetzt Halt geben, ihn stützen. Nie hätte er geahnt, dass die Welt um ihn herum so abweisend, so bedrückend werden könnte. Die Orte, an denen sie gemeinsam waren, werden zu blinden Flecken auf der Landkarte der Erinnerung. Nie mehr Schlittschuhlaufen: "es hätte mir nur gezeigt, dass sie nicht mehr da war; ich hätte die Leere neben mir herfahren gespürt, und davor wollte ich mich hüten".
Die Angst vor dieser Leere, sie lässt ihn nicht mehr los, drückt ihn zu Boden. Und dann, eines Abends, sieht er sie. Arm in Arm mit einem anderen Mann. Da ist er, der Moment, der sich einbrennen und nie mehr weichen wird. Eine fremde Hand an ihrer Taille. Nie wird er sie vergessen. Auch später nicht, als sie zurückkehrt zu ihm, sie das Bett wieder teilen. Wie eine blutende Wunde, die kein Mittel stillt, bleibt ihr Betrug bestehen, und kein offenes Reden wie vorher, sondern nur hilfloses Lächeln bestimmt von nun an ihr Miteinander.
Oder: Erst zwei nackte Körper im Mondlicht während des Fronturlaubs. Dann zwei Freunde im Schützengraben unter dem "sternendurchschossenen Nachthimmel". Der eine ist in der Heimat gewesen, den anderen treibt ein rasender Verdacht: "Du bist bei ihr gewesen." Dabei war's ein anderer, ein Pole, der seine Braut geschwängert hat. Aber die Eifersucht, einmal entbrannt, kennt kein Zurück. Der Gehörnte stirbt im Glauben an den Verrat, der Freund kehrt zurück und nimmt Rache. Am Polen, aber auch an der treulosen Braut. Er zwingt sie zur Ehe, zur Liebe. Und betrügt den Freund also doch. Später wird sich die verzweifelte Frau das Leben nehmen und er sich eine neue Geliebte, ein neues Leben suchen. Die Schuld jedoch bleibt, überträgt sich wie ein Virus.
Wieder ein Betrug im Mondlicht, wieder ändert ein verschwommenes Bild alles: "Nur den weißen Schimmer ihrer Wangen, der Schenkel und Arme konnte ich ausmachen, alles andere war verdeckt. Mein Blick fixierte die in der Dunkelheit kaum wahrnehmbaren Bewegungen." Der Blick, der auf den vertrauten, geliebten Körper fällt, als der lustvoll einen anderen, fremden umklammert, wird starr und böse. Wie ein Fluch verfolgt ihn von nun an die beobachtete Szene. Linderung gibt es für ihn nur da, wo er heimtückisch einem anderen den Verdacht einflüstern, ihn auf den zermarternden Gedanken eines möglichen Betrugs bringen kann.
"Male" nennt Reinhard Kaiser-Mühlecker diese Geschichte, in der er auf ebenso präzise wie grausame Weise von der Nachwirkung einer einmal auf sich geladenen Schuld erzählt. Wie ein Brandmal bleibt sie ewig sichtbar und schmerzt immer wieder aufs Neue. Hinter dem fein austarierten Rhythmus der Erzählstruktur mit ihren vorsichtigen Anläufen und dramatischen Höhepunkten scheint das stets wiederkehrende Motiv dieses Autors auf: die Suche nach den Verbindungslinien zwischen den Schicksalsmomenten unseres Lebens.
Wie hängen Betrug, Schuld und Sühne zusammen, wie wirkt Gerechtigkeit? Es ist ein unerbittlicher, fast alttestamentarischer Furor, mit dem hier gerächt und gesühnt wird. Die nahezu archaisch anmutende Erzählhaltung mag manchen Leser verstören oder befremden. Und doch liegt genau hier die einzigartige Kraft dieses Autors.
Es ist eine kompromisslose Haltung, mit der Kaiser-Mühlecker seinen Figuren und ihren Schwächen begegnet. Zuletzt konnte man sich davon in einer Romantrilogie (der abschließende Band "Roter Flieder" erschien 2012) überzeugen, in der er das heillose Schicksal der Familie Goldberger schildert. Diese Haltung setzt er auch im neuen Buch fort. Und beginnt doch etwas Neues. Sein Ton ist im Klangraum der "Erzählung" noch bestimmter, fester geworden, ohne aber die Lautstärke zu erhöhen. Das ist gerade das Wunderbare, dass hier einer den Mut hat, leise zu schreiben, vorsichtig tastend, aber nie unsicher, sondern in seiner Behutsamkeit selbstgewiss. Das macht die Sprache von Kaiser-Mühlecker so anziehend und so einzigartig unter den jüngeren deutschsprachigen Autoren.
Man darf sich den Österreicher, der seit einigen Jahren in Stockholm lebt, als einen im klassisch-romantischen Sinne einsamen Autor vorstellen. Einen, der die dunklen Stunden und Tage im hohen Norden schreibend verbringt, der am Fenster sitzt, sehnsüchtig träumend von dem, was Heimat sein könnte. Die Vergangenheit als Lebensmacht ist Ausgang und Zielpunkt seines Denkens und Schreibens. Und doch ist es nie gegenwartsvergessen. Auf der Spur des Immergleichen sucht Kaiser-Mühlecker nach den verborgenen Gefühlsströmungen, die uns auch jetzt, im Heute, umtreiben. Das gelingt ihm in seinem neuen Erzählband auf eindrucksvolle Weise. Denn der Betrug hat ja kein Verfallsdatum, kennt keine Epochengrenze. Immer schon schlägt er mit derselben Gewalt ins Gesicht und Gewissen der Menschen.
Neben dem körperlichen, dem sexuellen Betrug, der in den Wahnsinn treibt und Katastrophen verursacht, gibt es auch den anderen Betrug. Der nicht allein mit Kopf und Körper, sondern mit ganzer Seele begangen wird. Die dritte und letzte Geschichte erzählt davon. Ein Junge verlässt den elterlichen Hof, weil er die "Schande" ahnt, nur das Produkt eines Seitensprungs seiner Mutter zu sein. In einem Landwirtschaftsbetrieb arbeitet er sich hoch, wird zur rechten Hand des Direktors und gewöhnt sich an das Gefühl, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Um bessere Chancen auf die Nachfolge zu haben, heiratet er die Tochter des Chefs. "Wunderbare Jahre - aber sie vergingen." Das Unglück beginnt hier nicht mit dem sexuellen Betrug, nicht mit der Aufdeckung seiner Seitensprünge, sondern in dem Augenblick, als er - ermüdet vom Abenteuer - beginnt, seine Frau wirklich zu lieben, und sie bemerkt, dass alles zuvor nur Betrug und Berechnung war.
"Ist der menschliche Blick jemals frei von Erinnerung?", fragt der Erzähler hier einmal lakonisch. Der Satz steht als Motto über allen drei Geschichten. Die Erinnerung, das ist in den Erzählungen von Reinhard Kaiser-Mühlecker vor allem die Erinnerung an Schuld und Vergehen. Davon kann es keine Befreiung geben. Die einfühlsame Genauigkeit, mit der dieser Autor auf seine Figuren und ihr Schicksal blickt, findet ihren Ausdruck in Sätzen, die scharf gespitzt sind, aber nicht prätentiös klingen. Sie prägen sich ein, weil sie schlicht sind und doch das Ganze umfassen.
Die Beschreibung des Moments zum Beispiel, in dem einer begreift, was Trennung bedeutet: "Wie war das, als du noch nicht alleine warst? Immer war sie da, und du warst auch immer da. Jeden Tag. Nie war das Warten umsonst, und immer gab es Warten. Jetzt war kein Warten mehr." Und an anderer Stelle findet sich in diesem wundervollen Erzählband sogar einer der schönsten, zärtlichsten Sätze, die man seit langem über das Glück des Zusammenseins gelesen hat: "Zu sehen, dass jemand sieht, gerne sieht, zustimmend sieht, dass man, noch, da ist. War das nicht alles?"
SIMON STRAUSS
Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Zeichnungen". Drei Erzählungen. S. Fischer, 304 Seiten, 19,99 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Drei Erzählungen finden sich in Reinhard Kaiser-Mühleckers "Zeichnungen", berichtet Paul Jandl, leicht melancholische Geschichten, die zwar in so etwas wie der Gegenwart spielen, diese aber von der Ewigkeit her denken, was die einzelnen Figuren schrumpft und das Gewicht auf ganze Generationen und die Landschaft, die sie bevölkern, verschiebt, erklärt der Rezensent. Das einzelne Schicksal - wie etwa das eines Anlageberaters in der Finanzkrise - dient Kaiser-Mühlecker als "historischer Knoten", in dem uralte Fäden zusammenlaufen, so Jandl. Mit seinen Erzählungen passt der österreichische Autor nicht so recht zum Gros seiner gegenwärtigen Kollegen, aber der Rezensent fühlt sich an ältere, an Stifter und Lebert erinnert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wer die Romane [...] kennt, wird nicht überrascht sein, mit welcher Präzision und Feinheit er die Linien aus den weiten weißen Flächen herauszuarbeiten weiß. Christoph Schröder Süddeutsche Zeitung 20150727