Seit einem halben Jahrhundert hält Peter Sloterdijk jeden Morgen Gedanken, Erlebnisse und Kommentare zum Zeitgeschehen fest; seit 2012 hat er zwei Bücher mit datierten Notizen aus diesem Fundus publiziert – zur Begeisterung seiner Leser und der Kritik: »Ansichten, die zu verblüffen wissen, ein- und aufleuchten.« (FAZ) Mit der nun erscheinenden Fortsetzung decken die Aufzeichnungen einen großen Teil des langen Jahrzehnts zwischen der Lehman-Pleite und Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine ab.
Dabei bietet auch dieser Band weit mehr als die Chronik einer Abfolge politischer Krisen um Krim (2014), Migration (2015) und Brexit (2016). Zeilen und Tage III bleibt der polythematischen, weitwinkligen und mit dem Zufall sympathisierenden Grundhaltung des Notizen-Projekts verpflichtet. Sloterdijk ist beim Leben, Denken und Lesen stets in Bewegung, stellt Campusromanszenen neben Kurzrezensionen, funkelnde Aphorismen neben szintigrafisch protokollierte Vitalfunktionen. So drückt sich in diesem Band erneut eine chronische Reizbarkeit aus, die unabhängig von der Jahreszeit auf den Pollenflug der Themen reagiert.
Dabei bietet auch dieser Band weit mehr als die Chronik einer Abfolge politischer Krisen um Krim (2014), Migration (2015) und Brexit (2016). Zeilen und Tage III bleibt der polythematischen, weitwinkligen und mit dem Zufall sympathisierenden Grundhaltung des Notizen-Projekts verpflichtet. Sloterdijk ist beim Leben, Denken und Lesen stets in Bewegung, stellt Campusromanszenen neben Kurzrezensionen, funkelnde Aphorismen neben szintigrafisch protokollierte Vitalfunktionen. So drückt sich in diesem Band erneut eine chronische Reizbarkeit aus, die unabhängig von der Jahreszeit auf den Pollenflug der Themen reagiert.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Arno Widmann lässt sich von Peter Sloterdijk gerne ablenken. Auch dieses neue Buch gibt ihm, beschreibt er, immer wieder Anlass, eigene Assoziationsketten anspringen zu lassen, und dass er dabei dem Philosoph immer ein paar Schritte hinterher hinkt, macht gar nichts. Denn es geht bei Sloterdijk Widmann zufolge nicht um Wahrheit, sondern um die Möglichkeiten des Denkens mithilfe selbstgewählter Werkzeuge, wie etwa der Kritischen Theorie. Wer Sloterdijk beim Wort nimmt, wenn er etwa in seiner Rede "Regeln für den Menschenpark" über die biotechnologische Nutzbarmachung des Menschen nachdenkt, ist laut Widmann auf der falschen Fährte. Eitel ist im Falle Sloterdijks nicht der Autor, sondern der Sloterdijk als eitel kritisierende Leser, meint Widmann, der ein paar Themen des Buches aufzählt: Buddhas Vater kommt vor, Marc Augés Gedanken über das Altern finden Erwähnung, gleichfalls Giorgio Agambens Überlegungen zu Flüchtlingen und einiges mehr. Insgesamt haben wir es hier, schließt der Rezensent, mit einer ganz wunderbaren Textsammlung zu tun, die unseren Gedanken neue Möglichkeitsräume erschließt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2023Der berühmte Philosoph ärgert sich wie ein Debütant aus Hildesheim
Ständig die weiten Blicke, Komasaufen des Auges: Peter Sloterdijk legt seine mit Realpoesie und Polemik gesättigten Tagebücher aus den Jahren 2013 bis 2016 vor
Der schönste Satz kommt gleich am zweiten Tag: "Windstille am Morgen, goldgrün das Licht in den Blättern, freie Stunden bis Mittag." Das also gibt es auch in Karlsruhe, aber braucht man dazu das Tagebuch eines Philosophen?
Über Peter Sloterdijk ist wohl das meiste gesagt. Und über seine "datierten Notizen"? Tagebücher, das liegt nahe, neigen allein vom Genre her zur Wiederholung, so wie das nackte Leben selbst; ihre innere Struktur ändert sich wenig, von Jahr zu Jahr, von Band zu Band, weshalb auch treue Rezensenten kaum zu grundstürzend neuen Erkenntnissen finden, selbst wenn, wie hier, nun schon der dritte erreicht ist.
Anders für den Leser, der einräumt, dass er Sloterdijks Werk zuletzt ein wenig aus den Augen verloren hat, seinem Autor höchstens einmal auf dem Parkplatz des Intermarché in Grignan über den Weg läuft. Da er sich jedoch häufig mit Tagebüchern, Aufzeichnungen der verschiedensten Autoren beschäftigt - von Simone Weil bis Julien Green, von Ernst Jünger bis Peter Handke -, sind Naivität und Neugier vielleicht auch einmal gute Ratgeber: Kann man Sloterdijks "Zeilen und Tage" lesen, als wüsste man sonst nichts von ihm?
Und diesem Leser erging es wunderlich. Es fing an mit Kopfschütteln. Wo, um alles in der Welt, fährt der Mann nicht hin, obwohl es doch in Karlsruhe so wunderbare Momente gibt? Berlin, Wien, Frankfurt, Dublin, Hohenheim, Krakau, Barcelona, Paris, Zürich, zwischendurch Grignan, aber es kommt durchaus noch dicker: Shenzhen, China. Und warum das alles? Vorträge, Konferenzen, Seminare: "In Shenzhen geht es um Nanomaterialien, Biomaterialien, Pharmamaterialien, optisch-magnetisch-elektronische Materialien und Kompositmaterialien aller Art." Den Leser überkommt ein Hauch von Mitgefühl: Das ist doch kein Leben! Und er denkt an ein anderes Tagebuch, an Ennio Flaiano: "Und meine Reisen in China sind kaum der Rede wert, verglichen mit den tastenden Schritten im Dunkel, vom Bett zur Küche, auf der Suche nach einem Glas Wasser."
Dann: Meinungen über Meinungen! Zu allem hat dieser Autor eine Meinung, hier ein gerichtliches Fehlurteil in Sachen sexuelle Nötigung, dort Günter Grass, der Intimfeind Habermas, die Notenbank, die Bundestagswahl und alle anderen Fragen der großen und kleinen Politik. Da der Leser auch Meinungen hat, schüttelt er hier den Kopf, stimmt dort zu, und, wie sofort festzuhalten ist, stimmt immer häufiger zu. 2014: Russland okkupiert die Krim; Sloterdijks höchst klare Sicht ist die, deren Fehlen alle Welt jetzt rückblickend beklagt. Auch die Beschreibung der Merkel-Jahre als "Appeasement der Realität" wird nunmehr, nach dem unerwünscht kalten Realitätsschock in Sachen Trump, Putin, Klima, Migration, Israel, mehr nachdenkliche Zustimmung finden als seinerzeit, hoffentlich.
Trotzdem, der Leser liest ja nicht, um eigene Meinungen zu bestätigen, und dass gerade Sloterdijk keineswegs zum Zwecke des umarmenden Einverständnisses schreibt, illustrieren all die Sottisen, Polemiken, Provokationen, die, je geschliffener und böser, der Leser sich auf seinem üblichen Notizzettel notiert. Und wunderlich, der übliche Notizzettel reicht schon bald nicht mehr hin. Tage- oder Notizbücher verleiten zum Blättern, zu Stippvisiten hier und dort, bei heiklen Themen und noch heikleren Namen, und da bleibt es leicht bei Kopfschütteln hier und amüsiertem Nicken dort. Irgendwann nämlich verrät der bereits dritte Zettel, dass Blättern diesem Buch nicht gerecht wird, und so liest der Leser noch einmal von Anfang an.
Liest er das Tagebuch eines Philosophen? Ein Philosoph weiß seit Hegel, dass bloße Meinungen gleichgültig sind, und seit Heidegger, dass man besser auf heimisch-deutscher Scholle grübelt. Dieser Philosoph aber ist schon wieder unterwegs und denkt trotzdem, ununterbrochen: Abu Dhabi, São Paolo, San Francisco, Half Moon Bay, Palo Alto, dem Leser wird schwindlig, und er ist bereits froh, wenn es nur nach Bologna geht oder zwischendurch endlich wieder einmal nach Grignan, zur Erholung. Und was tut Sloterdijk in Grignan, wo es weiß Gott unendlich schöne Dinge zu tun gibt? Er lässt sich auf elektronischem Wege die in der Tat recht dämliche Rezension eines seiner Bücher schicken und erregt sich drei Seiten lang über die unbedarfte Journalistin.
Wem käme da nicht der Gedanke in den Sinn: Hat ein Philosoph nichts anderes zu tun? Nichts Besseres, als über Hinz und Kunz zu schimpfen? Der Leser aber entdeckt, leicht erstaunt, welche Sympathie er inzwischen für den Tagebuchschreiber entwickelt hat. Nein, hier gibt es keine Überlegenheitsattitüde, und der berühmte Vortragsweltreisende ärgert sich wie ein Debütant aus Hildesheim. Ja, geben wir's nur zu, so ist es, das nackte Leben: Der alte Thomas Mann verbuchte jede mickrige Kritik, und der noch ältere Goethe widmete dem meckernden Herrn Pustkuchen sogar ein ganzes Gedicht, und nur dem verdankt dieser seine relative Unsterblichkeit!
Es leben die Pustkuchen einst und jetzt! Man braucht sie, als Einbruch des banalen Lebens in die Hermetik des Geistes. Die unerwartete Sympathie des Lesers wurde wohl genau hier geweckt, in der porösen Ungeschütztheit, mit der Sloterdijk den ganzen Alltagskram eines tagtäglich gelebten Lebens hineinlässt, in die Fugen zwischen Hegel und Heidegger, Nanomaterialien und Kompositmaterialien aller Art.
Da finden sich verblüffende Seiten über die Erbsünde, bewegende Sätze über Tod, Sterben und Geburt, die der Leser nicht vergessen wird, und gleich daneben der Ärger, dass keiner sich um des Autors 68. Geburtstag schert: "Mit Bea bei den biertrinkenden und bratwurstverzehrenden Hartzern am Rheinkiosk." Zum Glück geht es bald wieder nach Grignan, für beide: "Bea jagt im Bikini auf dem Rasenmähertraktor über die Wiese." Wem der Sinn fehlt für solche Kapriolen rheinischer und südlicher Idylle, der ist verloren für die Sprache surrealer Realpoesie!
Und je mehr und genauer er liest, entdeckt der Leser, dass zwischen all den Cambridges, New Yorks, Roms, von denen man wenig erfährt, die Augenblicke des Innehaltens zwar exzellent versteckt sind, aber doch weit mehr als gedacht. Der schönste Satz vom zweiten Tag bleibt nicht allein: "Größere Radtour via Vinsobres und Venterol. Ständig die weiten Blicke, Komasaufen des Auges." Oder des Lesers Lieblingssatz: "20. August, Grignan. Regen. Umzug ins Dorfhaus." Short and to the point.
Liest der Leser also das Tagebuch eines Philosophen? Ja, gewiss! Und das verborgene Prinzip dieser Notizen ist es ganz offenbar, sehr unpathetisch drauf zu beharren, dass dies womöglich nichts Besonderes ist. Der Philosoph, der sich nicht abdichtet gegen das nackte Leben, steht nun einmal mittendrin, und zuweilen schaut er sich dort selbst beim Schreiben zu: "Das Tagebuch: Klagemauer für Leute, die nicht wissen, wo sonst sie die Nachricht deponieren könnten, der Tag sei wieder eine Zumutung gewesen." Ehrlicher kann man's nicht sagen. Und der Leser fragt sich jetzt, ob er nicht doch noch zu den ersten Bänden der "Zeilen und Tage" greifen soll. WOLFGANG MATZ
Peter Sloterdijk: "Zeilen und Tage III". Notizen 2013-2016.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
604 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ständig die weiten Blicke, Komasaufen des Auges: Peter Sloterdijk legt seine mit Realpoesie und Polemik gesättigten Tagebücher aus den Jahren 2013 bis 2016 vor
Der schönste Satz kommt gleich am zweiten Tag: "Windstille am Morgen, goldgrün das Licht in den Blättern, freie Stunden bis Mittag." Das also gibt es auch in Karlsruhe, aber braucht man dazu das Tagebuch eines Philosophen?
Über Peter Sloterdijk ist wohl das meiste gesagt. Und über seine "datierten Notizen"? Tagebücher, das liegt nahe, neigen allein vom Genre her zur Wiederholung, so wie das nackte Leben selbst; ihre innere Struktur ändert sich wenig, von Jahr zu Jahr, von Band zu Band, weshalb auch treue Rezensenten kaum zu grundstürzend neuen Erkenntnissen finden, selbst wenn, wie hier, nun schon der dritte erreicht ist.
Anders für den Leser, der einräumt, dass er Sloterdijks Werk zuletzt ein wenig aus den Augen verloren hat, seinem Autor höchstens einmal auf dem Parkplatz des Intermarché in Grignan über den Weg läuft. Da er sich jedoch häufig mit Tagebüchern, Aufzeichnungen der verschiedensten Autoren beschäftigt - von Simone Weil bis Julien Green, von Ernst Jünger bis Peter Handke -, sind Naivität und Neugier vielleicht auch einmal gute Ratgeber: Kann man Sloterdijks "Zeilen und Tage" lesen, als wüsste man sonst nichts von ihm?
Und diesem Leser erging es wunderlich. Es fing an mit Kopfschütteln. Wo, um alles in der Welt, fährt der Mann nicht hin, obwohl es doch in Karlsruhe so wunderbare Momente gibt? Berlin, Wien, Frankfurt, Dublin, Hohenheim, Krakau, Barcelona, Paris, Zürich, zwischendurch Grignan, aber es kommt durchaus noch dicker: Shenzhen, China. Und warum das alles? Vorträge, Konferenzen, Seminare: "In Shenzhen geht es um Nanomaterialien, Biomaterialien, Pharmamaterialien, optisch-magnetisch-elektronische Materialien und Kompositmaterialien aller Art." Den Leser überkommt ein Hauch von Mitgefühl: Das ist doch kein Leben! Und er denkt an ein anderes Tagebuch, an Ennio Flaiano: "Und meine Reisen in China sind kaum der Rede wert, verglichen mit den tastenden Schritten im Dunkel, vom Bett zur Küche, auf der Suche nach einem Glas Wasser."
Dann: Meinungen über Meinungen! Zu allem hat dieser Autor eine Meinung, hier ein gerichtliches Fehlurteil in Sachen sexuelle Nötigung, dort Günter Grass, der Intimfeind Habermas, die Notenbank, die Bundestagswahl und alle anderen Fragen der großen und kleinen Politik. Da der Leser auch Meinungen hat, schüttelt er hier den Kopf, stimmt dort zu, und, wie sofort festzuhalten ist, stimmt immer häufiger zu. 2014: Russland okkupiert die Krim; Sloterdijks höchst klare Sicht ist die, deren Fehlen alle Welt jetzt rückblickend beklagt. Auch die Beschreibung der Merkel-Jahre als "Appeasement der Realität" wird nunmehr, nach dem unerwünscht kalten Realitätsschock in Sachen Trump, Putin, Klima, Migration, Israel, mehr nachdenkliche Zustimmung finden als seinerzeit, hoffentlich.
Trotzdem, der Leser liest ja nicht, um eigene Meinungen zu bestätigen, und dass gerade Sloterdijk keineswegs zum Zwecke des umarmenden Einverständnisses schreibt, illustrieren all die Sottisen, Polemiken, Provokationen, die, je geschliffener und böser, der Leser sich auf seinem üblichen Notizzettel notiert. Und wunderlich, der übliche Notizzettel reicht schon bald nicht mehr hin. Tage- oder Notizbücher verleiten zum Blättern, zu Stippvisiten hier und dort, bei heiklen Themen und noch heikleren Namen, und da bleibt es leicht bei Kopfschütteln hier und amüsiertem Nicken dort. Irgendwann nämlich verrät der bereits dritte Zettel, dass Blättern diesem Buch nicht gerecht wird, und so liest der Leser noch einmal von Anfang an.
Liest er das Tagebuch eines Philosophen? Ein Philosoph weiß seit Hegel, dass bloße Meinungen gleichgültig sind, und seit Heidegger, dass man besser auf heimisch-deutscher Scholle grübelt. Dieser Philosoph aber ist schon wieder unterwegs und denkt trotzdem, ununterbrochen: Abu Dhabi, São Paolo, San Francisco, Half Moon Bay, Palo Alto, dem Leser wird schwindlig, und er ist bereits froh, wenn es nur nach Bologna geht oder zwischendurch endlich wieder einmal nach Grignan, zur Erholung. Und was tut Sloterdijk in Grignan, wo es weiß Gott unendlich schöne Dinge zu tun gibt? Er lässt sich auf elektronischem Wege die in der Tat recht dämliche Rezension eines seiner Bücher schicken und erregt sich drei Seiten lang über die unbedarfte Journalistin.
Wem käme da nicht der Gedanke in den Sinn: Hat ein Philosoph nichts anderes zu tun? Nichts Besseres, als über Hinz und Kunz zu schimpfen? Der Leser aber entdeckt, leicht erstaunt, welche Sympathie er inzwischen für den Tagebuchschreiber entwickelt hat. Nein, hier gibt es keine Überlegenheitsattitüde, und der berühmte Vortragsweltreisende ärgert sich wie ein Debütant aus Hildesheim. Ja, geben wir's nur zu, so ist es, das nackte Leben: Der alte Thomas Mann verbuchte jede mickrige Kritik, und der noch ältere Goethe widmete dem meckernden Herrn Pustkuchen sogar ein ganzes Gedicht, und nur dem verdankt dieser seine relative Unsterblichkeit!
Es leben die Pustkuchen einst und jetzt! Man braucht sie, als Einbruch des banalen Lebens in die Hermetik des Geistes. Die unerwartete Sympathie des Lesers wurde wohl genau hier geweckt, in der porösen Ungeschütztheit, mit der Sloterdijk den ganzen Alltagskram eines tagtäglich gelebten Lebens hineinlässt, in die Fugen zwischen Hegel und Heidegger, Nanomaterialien und Kompositmaterialien aller Art.
Da finden sich verblüffende Seiten über die Erbsünde, bewegende Sätze über Tod, Sterben und Geburt, die der Leser nicht vergessen wird, und gleich daneben der Ärger, dass keiner sich um des Autors 68. Geburtstag schert: "Mit Bea bei den biertrinkenden und bratwurstverzehrenden Hartzern am Rheinkiosk." Zum Glück geht es bald wieder nach Grignan, für beide: "Bea jagt im Bikini auf dem Rasenmähertraktor über die Wiese." Wem der Sinn fehlt für solche Kapriolen rheinischer und südlicher Idylle, der ist verloren für die Sprache surrealer Realpoesie!
Und je mehr und genauer er liest, entdeckt der Leser, dass zwischen all den Cambridges, New Yorks, Roms, von denen man wenig erfährt, die Augenblicke des Innehaltens zwar exzellent versteckt sind, aber doch weit mehr als gedacht. Der schönste Satz vom zweiten Tag bleibt nicht allein: "Größere Radtour via Vinsobres und Venterol. Ständig die weiten Blicke, Komasaufen des Auges." Oder des Lesers Lieblingssatz: "20. August, Grignan. Regen. Umzug ins Dorfhaus." Short and to the point.
Liest der Leser also das Tagebuch eines Philosophen? Ja, gewiss! Und das verborgene Prinzip dieser Notizen ist es ganz offenbar, sehr unpathetisch drauf zu beharren, dass dies womöglich nichts Besonderes ist. Der Philosoph, der sich nicht abdichtet gegen das nackte Leben, steht nun einmal mittendrin, und zuweilen schaut er sich dort selbst beim Schreiben zu: "Das Tagebuch: Klagemauer für Leute, die nicht wissen, wo sonst sie die Nachricht deponieren könnten, der Tag sei wieder eine Zumutung gewesen." Ehrlicher kann man's nicht sagen. Und der Leser fragt sich jetzt, ob er nicht doch noch zu den ersten Bänden der "Zeilen und Tage" greifen soll. WOLFGANG MATZ
Peter Sloterdijk: "Zeilen und Tage III". Notizen 2013-2016.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
604 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Nehmen Sie Zeilen und Tage, lesen Sie darin ... Betrachten Sie es als Übung. Nicht anders sollten Sie mit dem Leben umgehen. ... Sloterdijk erweitert Ihren Bewegungsspielraum, er führt Ihnen vor, dass es andere Wege, Methoden, Fahrzeuge gibt, als die, die Sie bisher benutzten.« Arno Widmann Frankfurter Rundschau 20240722