Als sein Dienstherr stirbt, findet Ajay Arbeit in einem Café - und dort macht er eine schicksalsweisende Bekanntschaft: Sunny Wadia, Abkömmling des einflussreichen Wadia-Clans, verbringt dort mit seinen Freunden das Wochenende.
Ajay wird Sunnys rechte Hand und nicht nur in die politischen Machenschaften der Wadias, sondern auch in die verbotene Liebesbeziehung zwischen Sunny und der Journalistin Neda hineingezogen. Er würde für Sunny alles tun - ohne zu ahnen, dass sein größter Loyalitätsbeweis Sunny, Neda und ihn selbst in eine Spirale der Gewalt verstricken wird ...
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Deepti Kapoors indisches Epos "Zeit der Schuld" macht Lust auf mehr
Es herrscht das Kaliyuga, das letzte der vier zyklischen Zeitalter der Hindu-Kosmologie, das Zeitalter des Verfalls und des Verderbens. Im englischen Originaltitel wird daraus "Age of Vice", die Ära des Lasters, und hierzulande die "Zeit der Schuld". Alle drei Varianten treffen zu. Deepti Kapoors Gangsterepos, das ihr international Vergleiche mit Mario Puzos "Der Pate" einbrachte, beginnt mit einem schrecklichen Unfall, einer Kollision denkbar gegensätzlicher Lebenswelten im modernen Indien.
Eine schlingernde Mercedeslimousine reißt fünf Obdachlose in den Tod, die auf einem Gehsteig in Delhi ihr Nachtlager errichtet hatten. Hinter dem Steuer: Ajay, der Chauffeur eines schwerreichen Unternehmersohns. Auf annähernd siebenhundert Seiten holt Kapoor weit aus, um die Geschichten der ursächlich Beteiligten bis zu genau diesem Punkt im Raum-Zeit-Gefüge nachzuvollziehen und widmet sich dabei nicht nur der Suche nach der Schuld an jener einen von vielen Tragödien, sondern mindestens ebenso vehement der Frage nach dem Gewissen. Was bedeutet Eigenverantwortung in einem Land, in dem äußere Faktoren wie die Kastenzugehörigkeit für viele Menschen noch immer einem unveränderlichen Schicksal gleichkommen?
Der zweite Roman der 1980 in Moradabad im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh geborenen und heute in Portugal lebenden Journalistin und Schriftstellerin ist ihr erster Auftritt in deutscher Sprache, Kapoors Debüt von 2014, "A Bad Character", ist bislang nicht übersetzt worden. "Zeit der Schuld" ist als Auftakt einer Trilogie angelegt. Die Rechte an einer Serienadaption sind bereits verkauft, was angesichts Kapoors filmischer Sprache kaum verwundert. Für Actionszenen wechselt sie in das Präsens und die Unmittelbarkeit dieser Passagen reibt sich wunderbar am üppigen, zuweilen in geradezu mythische Dimensionen übergehenden Tonfall ihrer Rückblenden und Abschweifungen.
Drei zentrale Perspektiven fügen sich zum Vielklang von "Zeit der Schuld" zusammen: zuerst Ajay, Sohn kastenloser Bauern, der im Alter von acht Jahren verkauft wird und schon einiges hinter sich hat, als er den Erben Sunny Wadia kennenlernt und für ihn zu arbeiten beginnt. Er ist das personifizierte Identifikationsangebot dieser Geschichte, ein junger Mann, der eine radikale Transformation vom unerfahrenen Welpen zum makellosen Soldaten des Wadia-Imperiums durchläuft.
Zweitens Neda, eine aufstrebende Journalistin aus der gehobenen Mittelschicht, die aus Recherchegründen auf Sunny aufmerksam wird. Sie bringt das soziale Gewissen ins Spiel, den kulturellen Kontext des sich rasant verändernden Delhis der Nullerjahre und eine messerscharfe Analyse des anfangs noch nebulös agierenden Wadia-Clans. Im besten Falle eine neoliberale Unternehmerdynastie, im Schlechtesten mafiöse Verbrecher, kontrollieren sie vom Spirituosengeschäft bis zur Regionalpolitik jegliche Transaktion in Uttar Pradesh. Und schließlich Sunny selbst, zu gleichen Teilen glamouröser Visionär und tickende Zeitbombe. Hin und her gerissen zwischen Gefallsucht und Verachtung gegenüber seinem Vater - unmöglich, sich diesen nicht mit dem Stahlblick von Bollywood-Legende Amitabh Bachchan vorzustellen - sorgt er für den Drama-Faktor, der es unmöglich macht "Zeit der Schuld" vorzeitig aus der Hand zu legen.
Sich auf dieses Multituden umfassende Erzähluniversum einzulassen, ist wie eine Schatzkiste zu öffnen, die immer noch weitere Kisten enthält. KATRIN DOERKSEN
Deepti Kapoor: "Zeit der Schuld". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke.
Blessing Verlag, München 2023.
688 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Deepti Kapoors indisches Epos "Zeit der Schuld" macht Lust auf mehr
Es herrscht das Kaliyuga, das letzte der vier zyklischen Zeitalter der Hindu-Kosmologie, das Zeitalter des Verfalls und des Verderbens. Im englischen Originaltitel wird daraus "Age of Vice", die Ära des Lasters, und hierzulande die "Zeit der Schuld". Alle drei Varianten treffen zu. Deepti Kapoors Gangsterepos, das ihr international Vergleiche mit Mario Puzos "Der Pate" einbrachte, beginnt mit einem schrecklichen Unfall, einer Kollision denkbar gegensätzlicher Lebenswelten im modernen Indien.
Eine schlingernde Mercedeslimousine reißt fünf Obdachlose in den Tod, die auf einem Gehsteig in Delhi ihr Nachtlager errichtet hatten. Hinter dem Steuer: Ajay, der Chauffeur eines schwerreichen Unternehmersohns. Auf annähernd siebenhundert Seiten holt Kapoor weit aus, um die Geschichten der ursächlich Beteiligten bis zu genau diesem Punkt im Raum-Zeit-Gefüge nachzuvollziehen und widmet sich dabei nicht nur der Suche nach der Schuld an jener einen von vielen Tragödien, sondern mindestens ebenso vehement der Frage nach dem Gewissen. Was bedeutet Eigenverantwortung in einem Land, in dem äußere Faktoren wie die Kastenzugehörigkeit für viele Menschen noch immer einem unveränderlichen Schicksal gleichkommen?
Der zweite Roman der 1980 in Moradabad im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh geborenen und heute in Portugal lebenden Journalistin und Schriftstellerin ist ihr erster Auftritt in deutscher Sprache, Kapoors Debüt von 2014, "A Bad Character", ist bislang nicht übersetzt worden. "Zeit der Schuld" ist als Auftakt einer Trilogie angelegt. Die Rechte an einer Serienadaption sind bereits verkauft, was angesichts Kapoors filmischer Sprache kaum verwundert. Für Actionszenen wechselt sie in das Präsens und die Unmittelbarkeit dieser Passagen reibt sich wunderbar am üppigen, zuweilen in geradezu mythische Dimensionen übergehenden Tonfall ihrer Rückblenden und Abschweifungen.
Drei zentrale Perspektiven fügen sich zum Vielklang von "Zeit der Schuld" zusammen: zuerst Ajay, Sohn kastenloser Bauern, der im Alter von acht Jahren verkauft wird und schon einiges hinter sich hat, als er den Erben Sunny Wadia kennenlernt und für ihn zu arbeiten beginnt. Er ist das personifizierte Identifikationsangebot dieser Geschichte, ein junger Mann, der eine radikale Transformation vom unerfahrenen Welpen zum makellosen Soldaten des Wadia-Imperiums durchläuft.
Zweitens Neda, eine aufstrebende Journalistin aus der gehobenen Mittelschicht, die aus Recherchegründen auf Sunny aufmerksam wird. Sie bringt das soziale Gewissen ins Spiel, den kulturellen Kontext des sich rasant verändernden Delhis der Nullerjahre und eine messerscharfe Analyse des anfangs noch nebulös agierenden Wadia-Clans. Im besten Falle eine neoliberale Unternehmerdynastie, im Schlechtesten mafiöse Verbrecher, kontrollieren sie vom Spirituosengeschäft bis zur Regionalpolitik jegliche Transaktion in Uttar Pradesh. Und schließlich Sunny selbst, zu gleichen Teilen glamouröser Visionär und tickende Zeitbombe. Hin und her gerissen zwischen Gefallsucht und Verachtung gegenüber seinem Vater - unmöglich, sich diesen nicht mit dem Stahlblick von Bollywood-Legende Amitabh Bachchan vorzustellen - sorgt er für den Drama-Faktor, der es unmöglich macht "Zeit der Schuld" vorzeitig aus der Hand zu legen.
Sich auf dieses Multituden umfassende Erzähluniversum einzulassen, ist wie eine Schatzkiste zu öffnen, die immer noch weitere Kisten enthält. KATRIN DOERKSEN
Deepti Kapoor: "Zeit der Schuld". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Astrid Finke.
Blessing Verlag, München 2023.
688 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main