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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jedem Kerl seine "Fight Club"-Peinlichkeit, auch den beiden nur mittelgut kickboxenden Protagonisten in Kai Wielands Roman "Zeit der Wildschweine"
Mit dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" bezeichnet man gesellschaftlich geprägte Vorstellungen vom Mannsein, die seine Rolle stark limitieren und von den als unterlegen angenommenen Frauen abgrenzen sollen. Stark sind sie, die richtigen Männer, abenteuerlustig, sie befinden sich in einem ewigen Wettkampf miteinander, und über Gefühle sollen sie bitte auch nicht reden, weshalb sie sich gern ein wenig wortkarg geben. Wenn sie sich schon unbedingt mit Kunst und Kultur befassen müssen, dann wenigstens mit den breitbeinig daherstapfenden Heroen. Wenn sie schreiben, dann wie Hemingway, wenn sie fotografieren, dann wie Robert Capa an der Front, und idealerweise legen sie sich ein männliches Hobby zu, Kickboxen zum Beispiel.
Im Ring einer Sportschule begegnen wir denn auch den kickboxenden Protagonisten von Kai Wielands Roman "Zeit der Wildschweine". Genauer gesagt begegnet dort Leon, ein Autor von Reiseführern und Reportagen, dem Fotografen Janko, und beide stellen sich nur mittelgut in dieser Disziplin an. Dafür haben sie beide dieselben Filme gesehen und identifizieren sich nach Kräften. Janko hält sich für Tyler Durden aus "Fight Club", gespielt von Brad Pitt in jener Männlichkeitsoper von 1999, die so ungefähr jeder Mann irgendwann einmal ganz unentbehrlich fand, was ihm jetzt hoffentlich reichlich peinlich ist. Außerdem stammt Janko aus Osteuropa, ist drahtig und tätowiert, hat eine Vergangenheit, nennt Leon "Bruder" und sagt bedeutungstiefe Sätze wie "Glaub mir, Bruder, ich kann Dinge so fotografieren, dass mehr dabei herauskommt als die Summe ihrer Teile."
Leon hadert derweil mit seiner schwäbischen Dorfherkunft und seiner Familie, die er provinziell und langweilig findet - Schwester Jana findet Erfüllung im Familienleben und ist seitdem besonders langweilig -, und nimmt bereitwillig Aufträge eines Reisebuchverlags an, obwohl er diese Aufträge meistens auch provinziell und langweilig findet. Nein, mit besonders sympathischen Figuren hat man es nicht zu tun, man möchte sie eigentlich dauernd abwatschen wegen ihrer großsprecherischen Bedeutungshuberei. Leon wächst einem auch dann nicht sonderlich ans Herz, als er seine Großstadtwohnung gegen das Haus des Vaters tauscht, weil dem das inzwischen zu groß geworden ist. Nebenan lebt als Nachbar Herbert Seibold, ein Mann der eher naturverwachsenen Sorte, genauso wortkarg wie alle diese Kerle und wie alle mit einem Hang zur bedeutungsvollen Geste. Er blickt mit einiger Skepsis auf den Immobilien-Tauschhandel.
Dass der Reisejournalist Leon sich dann auf eine Reise begibt, ist erst einmal nichts Besonderes, es ist ja sein Beruf. Schon wieder Frankreich, wie öde, aber diesmal nach Norden, in die Nähe von Dünkirchen und Calais, sogenannte "Lost Places" suchen, vor allem ein aufgelassenes Dorf in einem Kohlerevier namens Nortzeele. Leon ist seltsamerweise auch von diesem komplett unrealistischen Traumauftrag angeödet. Begleiten soll ihn als Fotograf Janko, der Experte fürs Abgründige. "Bruder", sagt Janko, "es gibt dort vieles, aber keine Abgründe." Janko ist nämlich auch schon gelangweilt, bevor er überhaupt dort war.
Die Sache beginnt denn auch etwas unzielgerichtet. Die Häuser stauben einsam vor sich hin, Janko fotografiert, Leon hadert, weil er mal wieder nicht Hemingway ist. Und was Janko angeht, ist er auch skeptisch: "Das Leben hatte ihn zu zynisch gemacht, um wie Robert Capa zu fotografieren." Zum Glück, möchte man einwenden, er soll ja auch fotografieren wie Janko, wir sind ja schließlich im 21. Jahrhundert angekommen, und Capa ist bei aller Liebe nicht mehr der Stand der allerneuesten fotografischen Dinge.
Das Dorf Nortzeele allerdings ist auch nicht zu finden, dafür taucht im dramaturgisch richtigen Moment eine geheimnisvolle Nixe mit grünen Augen aus dem Meer, die eventuell Zohra heißt, genauer weiß man es nicht, sonst wäre sie ja nicht geheimnisvoll. Man weiß sofort, mit einem der beiden wird sie irgendwann ins Bett gehen, solche Figuren tun das immer. Solche Frauen sind in Fiktionen dazu da, Männern die eine oder andere Erkenntnis über sich und die Welt zu verschaffen. Im ebenfalls dramaturgisch richtigen Moment stolpert Leon in Dreharbeiten eines Filmes. Der Regisseur Christopher Nolan dreht nämlich gerade "Dunkirk", und Leon ergattert eine Statistenrolle. Und dann? Werden sie dann endlich Hemingway und Capa? Finden sie Hemingway und Capa? Natürlich nicht. Die geheimnisvolle Frau hat sie tüchtig zum Narren gehalten. Und nicht nur diese beiden, denn Männer und ihre männlichen Sehnsüchte sind ja enttäuschend leicht zu durchschauen. Dafür muss man gar keine grünäugige Nixe mit Geheimnishintergrund sein.
Ebenso schlicht ist leider die Figurenzeichnung in diesem Roman. "Mein Vater verteidigte die Jäger und Schützenvereine, ich ermahnte ihn immer wieder, nicht mehr das N-Wort zu sagen. Er beanspruchte für sich das Meinungsmonopol auf die Heimat, ich jenes auf die Welt." So beschreibt Leon die Beziehung zu seinem Vater, und viel komplexer wird es nicht. Hier der Weltenwanderer, dort der Verwurzelte. Ganz ähnlich die Schwester: sie Vorstadt und Kinder und Mann mit "Endverbraucherhumor", Leon dagegen der einsame Wolf, der immer wieder hinauszieht.
Mit diesen Gegensätzen spielt Wieland im ganzen Buch. Allerdings nicht besonders raffiniert, weil eine Figur für ein Thema steht und dieses die ganze Zeit vertreten muss, und zwar ausschließlich. Das macht das Personal nicht eben runder und schon gar nicht interessanter. Es spiegelt sich allerhand Motivisches, es werden Thesen überinstrumentiert herumgereicht und reichlich Cineastisches anzitiert, Tomaten faulen metaphorisch, und im Mais toben die Sauen, bis irgendwann alles brennt, aber die Protagonisten bleiben ebenso blass wie die Szenen, in denen sie herumstehen und etwas Bedeutungsvolles sagen - oft genug murmeln sie es allerdings oder seufzen oder runzeln die Stirn, das volle Programm der erzählerischen Hilflosigkeit. Das ist schade, denn Leons Geschichte vom Erwachsenwerden und seinem Abschied von den allzu männlichen Vorbildern wäre eigentlich grundsätzlich interessant gewesen - und allzu oft hat man darüber auch noch nicht gelesen.
ANDREA DIENER
Kai Wieland: "Zeit der Wildschweine". Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 271 S., geb., 20,- [Euro].
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