Reisejournalist Leon träumt von Selbstverwirklichung – für die Beständigkeit seiner Familie hat er wenig Verständnis. Als sich die Gelegenheit bietet, der Enge der Heimat zu entfliehen und stattdessen mit dem faszinierenden Fotografen Janko französische Niemandsorte zu erkunden, greift er zu. Doch auf der Reise geraten Leons Gewissheiten ins Wanken. Wie hoch ist der Preis für ein Leben ohne Verpflichtungen? Reisejournalist Leon will vieles sein: Boxer, Gitarrist, Surfer, Weltenbummler. Stattdessen ist der junge Mann vor allem ein großer Film- und Literaturliebhaber, der sein fragiles Selbstbild ständig neu ausrichtet. Als sein Vater ihm einen Wohnungstausch vorschlägt, freundet er sich mit seiner neuen Identität als Hausbesitzer ebenso schnell an wie mit der Idee, einen beinahe Unbekannten mit auf sein nächstes Projekt zu nehmen. Doch die anstehende Reise verläuft nicht wie geplant. Je länger Leon und Janko in Frankreich nach Niemandsorten suchen, desto stärker verwickeln sie sich in einen intellektuellen Machtkampf. Wer, so die alles entscheidende Frage, gewinnt mit seiner Kunst die Deutungshoheit über die Realität – der Journalist oder der Fotograf? Als sich abzuzeichnen beginnt, dass Janko Verrat an der gemeinsamen Sache begehen wird, ist es für Leon längst zu spät, unbeschädigt aus der verhängnisvollen Beziehung zu entkommen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Andrea Diener ist gelangweilt angesichts der Story und der Figuren, die ihr Kai Wieland in seinem Roman auftischt. Zwei Männer auf Selbstfindungstrip, eine geheimnisvolle Frau und die deutsche beziehungsweise nordfranzösische Provinz ergeben für sie noch keine Spannung, zumal es dem Autor laut Diener nicht gelingt, die Bedeutungshudelei im Text auch mit Substanz zu füllen. Da hilft es auch nichts, dass die Protagonisten sich an großen Vorbildern reiben (Hemingway, Robert Capa) und Wieland mit allerhand Filmreferenzen hantiert. Ein Thema pro Figur, das ist Diener am Ende einfach zu schlicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2020Zwei Seelen und viele Bilder vom Krieg
Wenn die Suche nach der verfallenden Zivilisation wieder nur mit Latte macchiato endet: Kai Wielands „Zeit der Wildschweine“
Der zweite Roman ist bekanntlich der schwierigste. Zumal dann, wenn es für den ersten viel Applaus gegeben hat. So war es bei Kai Wieland, Jahrgang 1989, der in der schwäbischen Provinz aufwuchs, Medienkaufmann und Buchwissenschaftler wurde und vor zwei Jahren unter dem Titel „Amerika“ das boomende Dorfroman-Genre um eine sehr originelle Variante bereicherte. Die sollte man zuerst lesen, um die Fähigkeiten und Stärken des Autors einschätzen zu können. Denn sein neuer Roman „Zeit der Wildschweine“ trägt bereits Spuren eines Erfolgsdrucks, die den Zugang zu Wielands literarischem Potenzial erschweren könnten.
Die Heimatprovinz ist das Thema geblieben, zu dem er sich bekennt, und das ihn fasziniert, aber in Erwartung eines größeren Publikums musste nun noch einiges dazukommen: ein Stück Welt, eine Brise Zeitgeist und Figuren, die zur Identifikation taugen, zumal für jüngere und junge Leser. Wieland, der im Brotberuf in einem Verlagsbüro vor allem Reiseführerreihen betreut, fand eine naheliegende Lösung: Er lässt seinen Helden, den Endzwanziger und Reisejournalisten Leon, in zwei Strängen erzählen. Der eine handelt davon, dass er mit seinem verwitweten Vater auf dessen Wunsch die Wohnung tauscht, also in sein dörfliches Elternhaus zurückzieht. Der andere führt ihn mit dem Fotografen Janko, den er im Kickboxstudio kennengelernt hat, im Auftrag eines Reisebuchverlags in die Normandie, wo sogenannte Lost Places zu erkunden sind.
Aufgegebene Orte, verlassene Stätten oder abandoned premises, vom illegalen Autofriedhof über den verfallenden Kinosaal und die Industrieruine bis zur ausgestorbenen Siedlung, waren einst das Revier tollkühner Urban Explorer. Mittlerweile sind diese Relikte des Vergangenen so gut wie restlos von Bloggern und Instagrammern aufgespürt und massenkompatibel geworden. Das weiß Leon, und das weiß auch sein Auftraggeber, der auch noch auf den Zug aufspringen will. Doch immerhin ist es nicht zum hundertsten Mal die Côte d’Azur, und ein Projektabenteuer mit dem widerborstigen und geheimnisumwitterten Janko, der cineastische Vorlieben mit dem Erzähler teilt, ansonsten jedoch sein schieres Gegenbild ist, bietet sich als Kompensation für die bevorstehende Rückkehr in die schwäbische Dorf- und Familiensphäre an.
Die bis ins Detail durchdachte Konstruktion von Gegensätzen und Symmetrien durchzieht den gesamten Roman. Spiegelungen sind das auffälligste Motiv, und so weckt die Szene, in der Leon und Janko einander im Waschraumspiegel der Kampfsportschule zum ersten Mal erblicken, nicht nur filmische Assoziationen, sondern weist auch auf das ästhetische Prinzip voraus, nach dem der Autor planvoll und gewissenhaft verfährt.
Leon ist auf der Suche nach seiner Identität, und natürlich wohnen in seiner Brust zwei Seelen: Die eine sehnt sich in die Fremde, ins Offene, die andere strebt zurück in die Geborgenheit des Herkunftsmilieus, die wiederum mindestens zur Hälfte traumatisch verdunkelt ist, vorwiegend durch den rätselhaften Freitod der Mutter. Leons Schwester Jana – noch eine Polarität – hat sich für ein geregeltes bürgerliches Dasein entschieden, während ihr Bruder dem Traum vom unbehausten, ungezähmten Leben nachhängt, den er seit Kindheitstagen mit den Wildschweinrudeln in den Wäldern und Maisfeldern jenseits des Dorfrandes assoziiert: Man weiß um ihre Gegenwart, bekommt sie aber nie zu Gesicht.
Die mediale Rivalität von Wort und Bild, die Leon und Janko in ihren Tätigkeiten verkörpern, inszeniert Wieland in Dialogen als eskalierenden Machtkampf, gespiegelt in wiederkehrenden Reverenzen an seine Idole Ernest Hemingway und Robert Capa, die beide als Kriegsreporter in der Normandie waren.
Janko ist, wie sich herausstellt, der Sohn eines serbischen Kriegsfotografen und Capa-Verehrers, benutzt sogar noch dessen Kamera. Prompt geraten die beiden Auftragsabenteurer, enttäuscht von der mageren Ausbeute in zwei nordfranzösischen Niemandsorten, in die Dreharbeiten zu Christopher Nolans Film „Dunkirk“ und wirken als Statisten mit. Außerdem begegnen sie, weil ja auch in Männerromanen à la Hemingway der weibliche Counterpart nicht fehlen darf, einer surfenden Künstlerin namens Zohra, in deren Fantasieuniversum die beiden berühmten Amerikaner ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
Erotische Spannungen, die den Konflikt zwischen Leon und Janko verschärfen könnten, werden jedoch allenfalls angedeutet. Auch ist unübersehbar, dass Kai Wieland sich im schwäbischen Teil des Romans mehr zu Hause fühlt und seinem Helden dort, beim Graben im Familien- und Nachbarschaftshumus, intensivere Erfahrungen schenken kann als in der Normandie, wo er ihn dann Latte macchiato an der Strandpromenade von Boulogne trinken lässt – eine Insel der Banalität in einem Meer von Ernst und tieferer Bedeutung.
Es berührt sympathisch, dass Wieland die Regeln der Schreibschulprosa verweigert, vor allem das überstrapazierte „Show, don’t tell“. Er erklärt, reflektiert und philosophiert, wo es ihm angemessen erscheint, und nimmt dabei das Risiko von Überinstrumentierung und wackligen Bildern in Kauf. Darüber hinaus übt er sich in der Balance zwischen realistischem und fantastischem Erzählen, was man oft erst beim zweiten Hinschauen merkt, weil die Übergänge noch ungeschliffen sind.
Dieser Autor hat sehr viel im Kopf und womöglich müsste er, um dafür eine weniger angestrengte literarische Form zu finden, nur etwas Luft ablassen und die schräge Distanz des Beobachters zurückgewinnen, die sein Debüt „Amerika“ zu einem Vergnügen machte.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Die Auftragsabenteurer landen
am Set von Christopher Nolans
„Dunkirk“ und werden Statisten
Kai Wieland: Zeit der Wildschweine. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 271 Seiten,
20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn die Suche nach der verfallenden Zivilisation wieder nur mit Latte macchiato endet: Kai Wielands „Zeit der Wildschweine“
Der zweite Roman ist bekanntlich der schwierigste. Zumal dann, wenn es für den ersten viel Applaus gegeben hat. So war es bei Kai Wieland, Jahrgang 1989, der in der schwäbischen Provinz aufwuchs, Medienkaufmann und Buchwissenschaftler wurde und vor zwei Jahren unter dem Titel „Amerika“ das boomende Dorfroman-Genre um eine sehr originelle Variante bereicherte. Die sollte man zuerst lesen, um die Fähigkeiten und Stärken des Autors einschätzen zu können. Denn sein neuer Roman „Zeit der Wildschweine“ trägt bereits Spuren eines Erfolgsdrucks, die den Zugang zu Wielands literarischem Potenzial erschweren könnten.
Die Heimatprovinz ist das Thema geblieben, zu dem er sich bekennt, und das ihn fasziniert, aber in Erwartung eines größeren Publikums musste nun noch einiges dazukommen: ein Stück Welt, eine Brise Zeitgeist und Figuren, die zur Identifikation taugen, zumal für jüngere und junge Leser. Wieland, der im Brotberuf in einem Verlagsbüro vor allem Reiseführerreihen betreut, fand eine naheliegende Lösung: Er lässt seinen Helden, den Endzwanziger und Reisejournalisten Leon, in zwei Strängen erzählen. Der eine handelt davon, dass er mit seinem verwitweten Vater auf dessen Wunsch die Wohnung tauscht, also in sein dörfliches Elternhaus zurückzieht. Der andere führt ihn mit dem Fotografen Janko, den er im Kickboxstudio kennengelernt hat, im Auftrag eines Reisebuchverlags in die Normandie, wo sogenannte Lost Places zu erkunden sind.
Aufgegebene Orte, verlassene Stätten oder abandoned premises, vom illegalen Autofriedhof über den verfallenden Kinosaal und die Industrieruine bis zur ausgestorbenen Siedlung, waren einst das Revier tollkühner Urban Explorer. Mittlerweile sind diese Relikte des Vergangenen so gut wie restlos von Bloggern und Instagrammern aufgespürt und massenkompatibel geworden. Das weiß Leon, und das weiß auch sein Auftraggeber, der auch noch auf den Zug aufspringen will. Doch immerhin ist es nicht zum hundertsten Mal die Côte d’Azur, und ein Projektabenteuer mit dem widerborstigen und geheimnisumwitterten Janko, der cineastische Vorlieben mit dem Erzähler teilt, ansonsten jedoch sein schieres Gegenbild ist, bietet sich als Kompensation für die bevorstehende Rückkehr in die schwäbische Dorf- und Familiensphäre an.
Die bis ins Detail durchdachte Konstruktion von Gegensätzen und Symmetrien durchzieht den gesamten Roman. Spiegelungen sind das auffälligste Motiv, und so weckt die Szene, in der Leon und Janko einander im Waschraumspiegel der Kampfsportschule zum ersten Mal erblicken, nicht nur filmische Assoziationen, sondern weist auch auf das ästhetische Prinzip voraus, nach dem der Autor planvoll und gewissenhaft verfährt.
Leon ist auf der Suche nach seiner Identität, und natürlich wohnen in seiner Brust zwei Seelen: Die eine sehnt sich in die Fremde, ins Offene, die andere strebt zurück in die Geborgenheit des Herkunftsmilieus, die wiederum mindestens zur Hälfte traumatisch verdunkelt ist, vorwiegend durch den rätselhaften Freitod der Mutter. Leons Schwester Jana – noch eine Polarität – hat sich für ein geregeltes bürgerliches Dasein entschieden, während ihr Bruder dem Traum vom unbehausten, ungezähmten Leben nachhängt, den er seit Kindheitstagen mit den Wildschweinrudeln in den Wäldern und Maisfeldern jenseits des Dorfrandes assoziiert: Man weiß um ihre Gegenwart, bekommt sie aber nie zu Gesicht.
Die mediale Rivalität von Wort und Bild, die Leon und Janko in ihren Tätigkeiten verkörpern, inszeniert Wieland in Dialogen als eskalierenden Machtkampf, gespiegelt in wiederkehrenden Reverenzen an seine Idole Ernest Hemingway und Robert Capa, die beide als Kriegsreporter in der Normandie waren.
Janko ist, wie sich herausstellt, der Sohn eines serbischen Kriegsfotografen und Capa-Verehrers, benutzt sogar noch dessen Kamera. Prompt geraten die beiden Auftragsabenteurer, enttäuscht von der mageren Ausbeute in zwei nordfranzösischen Niemandsorten, in die Dreharbeiten zu Christopher Nolans Film „Dunkirk“ und wirken als Statisten mit. Außerdem begegnen sie, weil ja auch in Männerromanen à la Hemingway der weibliche Counterpart nicht fehlen darf, einer surfenden Künstlerin namens Zohra, in deren Fantasieuniversum die beiden berühmten Amerikaner ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
Erotische Spannungen, die den Konflikt zwischen Leon und Janko verschärfen könnten, werden jedoch allenfalls angedeutet. Auch ist unübersehbar, dass Kai Wieland sich im schwäbischen Teil des Romans mehr zu Hause fühlt und seinem Helden dort, beim Graben im Familien- und Nachbarschaftshumus, intensivere Erfahrungen schenken kann als in der Normandie, wo er ihn dann Latte macchiato an der Strandpromenade von Boulogne trinken lässt – eine Insel der Banalität in einem Meer von Ernst und tieferer Bedeutung.
Es berührt sympathisch, dass Wieland die Regeln der Schreibschulprosa verweigert, vor allem das überstrapazierte „Show, don’t tell“. Er erklärt, reflektiert und philosophiert, wo es ihm angemessen erscheint, und nimmt dabei das Risiko von Überinstrumentierung und wackligen Bildern in Kauf. Darüber hinaus übt er sich in der Balance zwischen realistischem und fantastischem Erzählen, was man oft erst beim zweiten Hinschauen merkt, weil die Übergänge noch ungeschliffen sind.
Dieser Autor hat sehr viel im Kopf und womöglich müsste er, um dafür eine weniger angestrengte literarische Form zu finden, nur etwas Luft ablassen und die schräge Distanz des Beobachters zurückgewinnen, die sein Debüt „Amerika“ zu einem Vergnügen machte.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Die Auftragsabenteurer landen
am Set von Christopher Nolans
„Dunkirk“ und werden Statisten
Kai Wieland: Zeit der Wildschweine. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 271 Seiten,
20 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2020Mann, hat man als Mann männlich zu sein!
Jedem Kerl seine "Fight Club"-Peinlichkeit, auch den beiden nur mittelgut kickboxenden Protagonisten in Kai Wielands Roman "Zeit der Wildschweine"
Mit dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" bezeichnet man gesellschaftlich geprägte Vorstellungen vom Mannsein, die seine Rolle stark limitieren und von den als unterlegen angenommenen Frauen abgrenzen sollen. Stark sind sie, die richtigen Männer, abenteuerlustig, sie befinden sich in einem ewigen Wettkampf miteinander, und über Gefühle sollen sie bitte auch nicht reden, weshalb sie sich gern ein wenig wortkarg geben. Wenn sie sich schon unbedingt mit Kunst und Kultur befassen müssen, dann wenigstens mit den breitbeinig daherstapfenden Heroen. Wenn sie schreiben, dann wie Hemingway, wenn sie fotografieren, dann wie Robert Capa an der Front, und idealerweise legen sie sich ein männliches Hobby zu, Kickboxen zum Beispiel.
Im Ring einer Sportschule begegnen wir denn auch den kickboxenden Protagonisten von Kai Wielands Roman "Zeit der Wildschweine". Genauer gesagt begegnet dort Leon, ein Autor von Reiseführern und Reportagen, dem Fotografen Janko, und beide stellen sich nur mittelgut in dieser Disziplin an. Dafür haben sie beide dieselben Filme gesehen und identifizieren sich nach Kräften. Janko hält sich für Tyler Durden aus "Fight Club", gespielt von Brad Pitt in jener Männlichkeitsoper von 1999, die so ungefähr jeder Mann irgendwann einmal ganz unentbehrlich fand, was ihm jetzt hoffentlich reichlich peinlich ist. Außerdem stammt Janko aus Osteuropa, ist drahtig und tätowiert, hat eine Vergangenheit, nennt Leon "Bruder" und sagt bedeutungstiefe Sätze wie "Glaub mir, Bruder, ich kann Dinge so fotografieren, dass mehr dabei herauskommt als die Summe ihrer Teile."
Leon hadert derweil mit seiner schwäbischen Dorfherkunft und seiner Familie, die er provinziell und langweilig findet - Schwester Jana findet Erfüllung im Familienleben und ist seitdem besonders langweilig -, und nimmt bereitwillig Aufträge eines Reisebuchverlags an, obwohl er diese Aufträge meistens auch provinziell und langweilig findet. Nein, mit besonders sympathischen Figuren hat man es nicht zu tun, man möchte sie eigentlich dauernd abwatschen wegen ihrer großsprecherischen Bedeutungshuberei. Leon wächst einem auch dann nicht sonderlich ans Herz, als er seine Großstadtwohnung gegen das Haus des Vaters tauscht, weil dem das inzwischen zu groß geworden ist. Nebenan lebt als Nachbar Herbert Seibold, ein Mann der eher naturverwachsenen Sorte, genauso wortkarg wie alle diese Kerle und wie alle mit einem Hang zur bedeutungsvollen Geste. Er blickt mit einiger Skepsis auf den Immobilien-Tauschhandel.
Dass der Reisejournalist Leon sich dann auf eine Reise begibt, ist erst einmal nichts Besonderes, es ist ja sein Beruf. Schon wieder Frankreich, wie öde, aber diesmal nach Norden, in die Nähe von Dünkirchen und Calais, sogenannte "Lost Places" suchen, vor allem ein aufgelassenes Dorf in einem Kohlerevier namens Nortzeele. Leon ist seltsamerweise auch von diesem komplett unrealistischen Traumauftrag angeödet. Begleiten soll ihn als Fotograf Janko, der Experte fürs Abgründige. "Bruder", sagt Janko, "es gibt dort vieles, aber keine Abgründe." Janko ist nämlich auch schon gelangweilt, bevor er überhaupt dort war.
Die Sache beginnt denn auch etwas unzielgerichtet. Die Häuser stauben einsam vor sich hin, Janko fotografiert, Leon hadert, weil er mal wieder nicht Hemingway ist. Und was Janko angeht, ist er auch skeptisch: "Das Leben hatte ihn zu zynisch gemacht, um wie Robert Capa zu fotografieren." Zum Glück, möchte man einwenden, er soll ja auch fotografieren wie Janko, wir sind ja schließlich im 21. Jahrhundert angekommen, und Capa ist bei aller Liebe nicht mehr der Stand der allerneuesten fotografischen Dinge.
Das Dorf Nortzeele allerdings ist auch nicht zu finden, dafür taucht im dramaturgisch richtigen Moment eine geheimnisvolle Nixe mit grünen Augen aus dem Meer, die eventuell Zohra heißt, genauer weiß man es nicht, sonst wäre sie ja nicht geheimnisvoll. Man weiß sofort, mit einem der beiden wird sie irgendwann ins Bett gehen, solche Figuren tun das immer. Solche Frauen sind in Fiktionen dazu da, Männern die eine oder andere Erkenntnis über sich und die Welt zu verschaffen. Im ebenfalls dramaturgisch richtigen Moment stolpert Leon in Dreharbeiten eines Filmes. Der Regisseur Christopher Nolan dreht nämlich gerade "Dunkirk", und Leon ergattert eine Statistenrolle. Und dann? Werden sie dann endlich Hemingway und Capa? Finden sie Hemingway und Capa? Natürlich nicht. Die geheimnisvolle Frau hat sie tüchtig zum Narren gehalten. Und nicht nur diese beiden, denn Männer und ihre männlichen Sehnsüchte sind ja enttäuschend leicht zu durchschauen. Dafür muss man gar keine grünäugige Nixe mit Geheimnishintergrund sein.
Ebenso schlicht ist leider die Figurenzeichnung in diesem Roman. "Mein Vater verteidigte die Jäger und Schützenvereine, ich ermahnte ihn immer wieder, nicht mehr das N-Wort zu sagen. Er beanspruchte für sich das Meinungsmonopol auf die Heimat, ich jenes auf die Welt." So beschreibt Leon die Beziehung zu seinem Vater, und viel komplexer wird es nicht. Hier der Weltenwanderer, dort der Verwurzelte. Ganz ähnlich die Schwester: sie Vorstadt und Kinder und Mann mit "Endverbraucherhumor", Leon dagegen der einsame Wolf, der immer wieder hinauszieht.
Mit diesen Gegensätzen spielt Wieland im ganzen Buch. Allerdings nicht besonders raffiniert, weil eine Figur für ein Thema steht und dieses die ganze Zeit vertreten muss, und zwar ausschließlich. Das macht das Personal nicht eben runder und schon gar nicht interessanter. Es spiegelt sich allerhand Motivisches, es werden Thesen überinstrumentiert herumgereicht und reichlich Cineastisches anzitiert, Tomaten faulen metaphorisch, und im Mais toben die Sauen, bis irgendwann alles brennt, aber die Protagonisten bleiben ebenso blass wie die Szenen, in denen sie herumstehen und etwas Bedeutungsvolles sagen - oft genug murmeln sie es allerdings oder seufzen oder runzeln die Stirn, das volle Programm der erzählerischen Hilflosigkeit. Das ist schade, denn Leons Geschichte vom Erwachsenwerden und seinem Abschied von den allzu männlichen Vorbildern wäre eigentlich grundsätzlich interessant gewesen - und allzu oft hat man darüber auch noch nicht gelesen.
ANDREA DIENER
Kai Wieland: "Zeit der Wildschweine". Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 271 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jedem Kerl seine "Fight Club"-Peinlichkeit, auch den beiden nur mittelgut kickboxenden Protagonisten in Kai Wielands Roman "Zeit der Wildschweine"
Mit dem Begriff der "toxischen Männlichkeit" bezeichnet man gesellschaftlich geprägte Vorstellungen vom Mannsein, die seine Rolle stark limitieren und von den als unterlegen angenommenen Frauen abgrenzen sollen. Stark sind sie, die richtigen Männer, abenteuerlustig, sie befinden sich in einem ewigen Wettkampf miteinander, und über Gefühle sollen sie bitte auch nicht reden, weshalb sie sich gern ein wenig wortkarg geben. Wenn sie sich schon unbedingt mit Kunst und Kultur befassen müssen, dann wenigstens mit den breitbeinig daherstapfenden Heroen. Wenn sie schreiben, dann wie Hemingway, wenn sie fotografieren, dann wie Robert Capa an der Front, und idealerweise legen sie sich ein männliches Hobby zu, Kickboxen zum Beispiel.
Im Ring einer Sportschule begegnen wir denn auch den kickboxenden Protagonisten von Kai Wielands Roman "Zeit der Wildschweine". Genauer gesagt begegnet dort Leon, ein Autor von Reiseführern und Reportagen, dem Fotografen Janko, und beide stellen sich nur mittelgut in dieser Disziplin an. Dafür haben sie beide dieselben Filme gesehen und identifizieren sich nach Kräften. Janko hält sich für Tyler Durden aus "Fight Club", gespielt von Brad Pitt in jener Männlichkeitsoper von 1999, die so ungefähr jeder Mann irgendwann einmal ganz unentbehrlich fand, was ihm jetzt hoffentlich reichlich peinlich ist. Außerdem stammt Janko aus Osteuropa, ist drahtig und tätowiert, hat eine Vergangenheit, nennt Leon "Bruder" und sagt bedeutungstiefe Sätze wie "Glaub mir, Bruder, ich kann Dinge so fotografieren, dass mehr dabei herauskommt als die Summe ihrer Teile."
Leon hadert derweil mit seiner schwäbischen Dorfherkunft und seiner Familie, die er provinziell und langweilig findet - Schwester Jana findet Erfüllung im Familienleben und ist seitdem besonders langweilig -, und nimmt bereitwillig Aufträge eines Reisebuchverlags an, obwohl er diese Aufträge meistens auch provinziell und langweilig findet. Nein, mit besonders sympathischen Figuren hat man es nicht zu tun, man möchte sie eigentlich dauernd abwatschen wegen ihrer großsprecherischen Bedeutungshuberei. Leon wächst einem auch dann nicht sonderlich ans Herz, als er seine Großstadtwohnung gegen das Haus des Vaters tauscht, weil dem das inzwischen zu groß geworden ist. Nebenan lebt als Nachbar Herbert Seibold, ein Mann der eher naturverwachsenen Sorte, genauso wortkarg wie alle diese Kerle und wie alle mit einem Hang zur bedeutungsvollen Geste. Er blickt mit einiger Skepsis auf den Immobilien-Tauschhandel.
Dass der Reisejournalist Leon sich dann auf eine Reise begibt, ist erst einmal nichts Besonderes, es ist ja sein Beruf. Schon wieder Frankreich, wie öde, aber diesmal nach Norden, in die Nähe von Dünkirchen und Calais, sogenannte "Lost Places" suchen, vor allem ein aufgelassenes Dorf in einem Kohlerevier namens Nortzeele. Leon ist seltsamerweise auch von diesem komplett unrealistischen Traumauftrag angeödet. Begleiten soll ihn als Fotograf Janko, der Experte fürs Abgründige. "Bruder", sagt Janko, "es gibt dort vieles, aber keine Abgründe." Janko ist nämlich auch schon gelangweilt, bevor er überhaupt dort war.
Die Sache beginnt denn auch etwas unzielgerichtet. Die Häuser stauben einsam vor sich hin, Janko fotografiert, Leon hadert, weil er mal wieder nicht Hemingway ist. Und was Janko angeht, ist er auch skeptisch: "Das Leben hatte ihn zu zynisch gemacht, um wie Robert Capa zu fotografieren." Zum Glück, möchte man einwenden, er soll ja auch fotografieren wie Janko, wir sind ja schließlich im 21. Jahrhundert angekommen, und Capa ist bei aller Liebe nicht mehr der Stand der allerneuesten fotografischen Dinge.
Das Dorf Nortzeele allerdings ist auch nicht zu finden, dafür taucht im dramaturgisch richtigen Moment eine geheimnisvolle Nixe mit grünen Augen aus dem Meer, die eventuell Zohra heißt, genauer weiß man es nicht, sonst wäre sie ja nicht geheimnisvoll. Man weiß sofort, mit einem der beiden wird sie irgendwann ins Bett gehen, solche Figuren tun das immer. Solche Frauen sind in Fiktionen dazu da, Männern die eine oder andere Erkenntnis über sich und die Welt zu verschaffen. Im ebenfalls dramaturgisch richtigen Moment stolpert Leon in Dreharbeiten eines Filmes. Der Regisseur Christopher Nolan dreht nämlich gerade "Dunkirk", und Leon ergattert eine Statistenrolle. Und dann? Werden sie dann endlich Hemingway und Capa? Finden sie Hemingway und Capa? Natürlich nicht. Die geheimnisvolle Frau hat sie tüchtig zum Narren gehalten. Und nicht nur diese beiden, denn Männer und ihre männlichen Sehnsüchte sind ja enttäuschend leicht zu durchschauen. Dafür muss man gar keine grünäugige Nixe mit Geheimnishintergrund sein.
Ebenso schlicht ist leider die Figurenzeichnung in diesem Roman. "Mein Vater verteidigte die Jäger und Schützenvereine, ich ermahnte ihn immer wieder, nicht mehr das N-Wort zu sagen. Er beanspruchte für sich das Meinungsmonopol auf die Heimat, ich jenes auf die Welt." So beschreibt Leon die Beziehung zu seinem Vater, und viel komplexer wird es nicht. Hier der Weltenwanderer, dort der Verwurzelte. Ganz ähnlich die Schwester: sie Vorstadt und Kinder und Mann mit "Endverbraucherhumor", Leon dagegen der einsame Wolf, der immer wieder hinauszieht.
Mit diesen Gegensätzen spielt Wieland im ganzen Buch. Allerdings nicht besonders raffiniert, weil eine Figur für ein Thema steht und dieses die ganze Zeit vertreten muss, und zwar ausschließlich. Das macht das Personal nicht eben runder und schon gar nicht interessanter. Es spiegelt sich allerhand Motivisches, es werden Thesen überinstrumentiert herumgereicht und reichlich Cineastisches anzitiert, Tomaten faulen metaphorisch, und im Mais toben die Sauen, bis irgendwann alles brennt, aber die Protagonisten bleiben ebenso blass wie die Szenen, in denen sie herumstehen und etwas Bedeutungsvolles sagen - oft genug murmeln sie es allerdings oder seufzen oder runzeln die Stirn, das volle Programm der erzählerischen Hilflosigkeit. Das ist schade, denn Leons Geschichte vom Erwachsenwerden und seinem Abschied von den allzu männlichen Vorbildern wäre eigentlich grundsätzlich interessant gewesen - und allzu oft hat man darüber auch noch nicht gelesen.
ANDREA DIENER
Kai Wieland: "Zeit der Wildschweine". Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 271 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Vexierspiel um Identitäten und Schickale, Kunst und Fälschung, Wahrheit und Fiktion. Voller Melancholie und Poesie, wie aus der Zeit gefallen, mit großartigen Bildern und cineastischen Referenzen.« Dagmar Kaindl, Buchkultur, 25. Juni 2020 "Backnang und die Region um Backnang herum sind auf der Landkarte der deutschen Literatur bisher bedauerliche Leerstellen gewesen. Dabei ist doch klar, dass Deutschland sich aus Provinz zusammensetzt und von da her viel besser zu begreifen ist als vom Zentrum aus. Das gilt umso mehr für Wielands weltreisenden, weit hinaus denkenden Helden und seine mehr als ungewöhnliche Vater-Sohn-Beziehung." Jörg Magenau, Jury Alfred-Döblin-Preis