Sinkende Wahlbeteiligung, Kirchenaustritte, fallende TV-Quoten und Zeitungs-Auflagen: Viele Menschen fühlen sich vom Angebot, das ihnen die politische und mediale Öffentlichkeit in Deutschland macht, nicht mehr angesprochen. Zugleich erhöhen Multi-Krisen und eine immer kaputtere Daseinsvorsorge - Schienenverkehr, die Schulen, die Verwaltung - den Stress der Bürgerinnen und Bürger. Jetzt wird das Erbe von vier Jahrzehnten neoliberaler Fehlsteuerung des Staates als Erosion der materiellen und mentalen Infrastrukturen erkennbar. Wo Polizisten, Ärztinnen, Rettungspersonal oder Zugbegleiterinnen angegriffen werden, wirken die Rituale der Politik nur zynisch. Wenn Kinder keinen ordentlichen Unterricht mehr bekommen, Schwimmbäder und Krankenhäuser schließen und öffentliche Orte verwahrlosen, wächst die Enttäuschung über eine Politik, die ihre Wähler aus dem Blick verliert. Zumal, wenn eine zentral wichtige Aufgabe wie der Kampf gegen den Klimawandel nicht bewältigt wird. Stattdessen kämpft die Regierung gestrige Positionen gegeneinander aus, simuliert Konzepte in endlos aufeinanderfolgenden Gipfeltreffen und kompensiert die vorhandene Ideenlosigkeit mit einem Überschuss an Moralismus. Das alles wird von einem Mediensystem unterstützt, das sich mehr für den Schauwert von Politik interessiert als für das Gelingen von Gesellschaft. Ein Buch über die Fahrlässigkeit und Arroganz einer politischen und medialen Klasse, denen die gefährlich groß werdende Distanz zwischen der Bürgerschaft und der Bundespolitik gleichgültig zu sein scheint und die längst die Fühlung für die soziale Wirklichkeit im Land verloren hat. Und eine Ermutigung für alle Empörten, nicht länger still zu bleiben.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Als Gegenwartsdiagnose kann Rezensent Arno Orzessek Harald Welzers Buch das eine oder andere abgewinnen. Es geht, lernen wir, gegen abgehobene Eliten, gegen verfehlte Umweltpolitik, gegen den westlichen Selbstbetrug im Blick auf die eigene Geschichte und gegen die aus Sicht des Autoren übertriebene Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen die russischen Invasoren. Nicht zuletzt geht es auch, fährt die launige Rezension fort, um eine Rechtfertigung der gemeinsam mit Richard David Precht in "Die vierte Gewalt" vorgebrachten Medienkritik. Dabei versucht er seine Thesen mit empirischen Daten zu belegen, wobei der Hang zur Polemik laut Orzessek insgesamt weiterhin nicht zu leugnen ist. Die Ukrainepassagen erinnern den Rezensenten an das Manifest Alice Schwarzers und Sahra Wagenknechts, dem Welzer eine eigenwillige ökologische Schlagseite beifüge. Wenn es darum geht, nach Auswegen aus der für Welzer allumfassenden Krise zu suchen, verweist der Autor, führt Orzessek aus, auf kleinformatige Utopien eines solidarischen Zusammenlebens. Spätestens hier nehmen laut Rezensent die Plattitüden überhand, wobei Orzessek klarstellt, dass Welzer letztlich auch nicht ratloser ist als alle anderen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Was für eine wohltuende intellektuelle Offenheit in verstörenden Zeiten! Mathias Brodkorb Cicero 20240126