Eine hochaktuelle Analyse über das Ende historischer Gewissheiten und das Bemühen der Zeitgeschichte um Gegenwartsdistanz. Mit seiner an der Humboldt-Universität Berlin gehaltenen Abschiedsvorlesung knüpft Martin Sabrow an seine Antrittsvorlesung zwölf Jahre zuvor an und sucht den Ort der Zeitgeschichte und Erinnerungskultur in der Gegenwart zu bestimmen. Er widmet sich dem Verlust tradierter Gewissheiten, der mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs im Februar 2022 einhergeht und in der vielzitierten Rede von der "Zeitenwende" zum Ausdruck kommt. Sabrow lotet die Facetten dieses Umbruchs auf dem Feld der Vergegenwärtigung der Vergangenheit aus und beschreibt sie als schleichende Auflösung eines geschichtkulturellen Grundkonsenses, der sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die in dieser Zeit auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft etablierte Bereitschaft zur kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Last des vergangenen Katastrophenjahrhunderts deutet Sabrow als Ära der Aufarbeitung. Deren scheinbar festgefügte Gewissheiten werden heute immer stärker in Frage gestellt und lassen auf einen geschichtskulturellen Epochenumbruch vom Universalismus zum Partikularismus schließen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Robert Probst hat diesen Essay des Historikers Martin Sabrow mit viel Interesse gelesen. Sabrows besonderes Forschungsinteresse liegt beim Thema Zäsuren und historische Wendepunkte, weiß Probst, und so schickt er den Leser auf einen "Ritt durchs 20. Jahrhundert" und macht an einschneidenden historischen Ereignissen halt. Im Mittelpunkt steht allerdings eine Analyse der Herausforderungen, denen sich die Forschungsdisziplin Zeitgeschichte stellen muss, lesen wir. So plädiert Sabrow für die Wahrung einer kritischen Distanz zur Vergangenheit, statt für Identifikation und Übernahme von "Opfererzählungen", so Probst, der das durchaus gutzuheißen scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2023Von der Kraft
der Distanz
Der Historiker Martin Sabrow
analysiert die Krisen
der Zeitgeschichtsschreibung
Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird seit der Kanzlerrede vom 27. Februar 2022 als „Zeitenwende“ tituliert. Seither wird gern auf die SPD und ihre Ostpolitik seit Willy Brandt eingeschlagen, als hätte Putins Überfall bereits 1972 seinen Ausgang genommen. Und was auch noch der Kampf gegen „Mohrenstraßen“ und „Mohrenapotheken“ damit zu tun hat, das erklärt Martin Sabrow in einem kleinen, sehr lesenswerten Essay über „Zeitenwenden in der Zeitgeschichte“.
Sabrow, von 2004 bis 2021 Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, hat im Juli 2022 seine Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität gehalten (und für das Buch auch noch bis Frühjahr 2023 aktualisiert). Das Thema Zäsuren und Wendepunkt treibt ihn schon lange um. Und so ist sein Vortrag auch ein Ritt durchs 20. Jahrhundert mit theoretischen Überlegungen und ein paar historischen Tupfern auf die tatsächlichen Zäsuren 1918, 1933, 1945 und 1989. Besonders die Betrachtung über die Ostdeutschen, die alsbald der „diktaturbezogenen Befreiungserzählung“ eine „Verweigerungserzählung“ entgegenstellten, lohnt einen genauen Blick. Sabrows These vom „nationalen Sonderstolz“ über das Ende des SED-Staats hinaus bietet durchaus Erkläransätze für den Erfolg der AfD in Ostdeutschland.
Er erinnert aber auch daran, dass vieles, was einst als Zeitenwende empfunden wurde, bald wieder vergessen war, etwa die Notstandsgesetze, die Einführung des Euro, die EU-Osterweiterung 2004 oder auch die Furcht vor dem neuen Jahrtausend.
Im Kern geht es aber um die Krisen und Herausforderungen der Forschungsdisziplin Zeitgeschichte. Und davon gibt es viele: Da wäre die „innere Auszehrung“ der opferzentrierten Geschichtskultur; da wäre die „Routine einer historischen Selbstberuhigung“ durch die ständige Reproduktion von Opfererzählungen aus der NS-Zeit und dem Holocaust; da wäre nicht zuletzt die „Trivialisierung der kathartischen Kraft der historischen Aufklärung“.
Und da wäre die „zunehmende Ersetzung von Distanz durch Identifikation“. Gemeint ist damit eine Angleichung der Vergangenheit an die Normen der Gegenwart – womit bedauerlicherweise einhergeht, dass der Vergangenheit ihre Andersartigkeit schlicht aberkannt wird. Sabrows Plädoyer, dass es „die vornehme Aufgabe der Zeitgeschichte bleibt, der Gegenwart zu dienen, indem sie sich ihrer noch so gut gemeinten Indienstnahme zu entziehen sucht“, könnten sich Gesellschaft und Medien und einige Fachkolleginnen durchaus zu Herzen nehmen.
ROBERT PROBST
Martin Sabrow:
Zeitenwenden in der Zeitgeschichte. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023.
88 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Distanz
Der Historiker Martin Sabrow
analysiert die Krisen
der Zeitgeschichtsschreibung
Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird seit der Kanzlerrede vom 27. Februar 2022 als „Zeitenwende“ tituliert. Seither wird gern auf die SPD und ihre Ostpolitik seit Willy Brandt eingeschlagen, als hätte Putins Überfall bereits 1972 seinen Ausgang genommen. Und was auch noch der Kampf gegen „Mohrenstraßen“ und „Mohrenapotheken“ damit zu tun hat, das erklärt Martin Sabrow in einem kleinen, sehr lesenswerten Essay über „Zeitenwenden in der Zeitgeschichte“.
Sabrow, von 2004 bis 2021 Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, hat im Juli 2022 seine Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität gehalten (und für das Buch auch noch bis Frühjahr 2023 aktualisiert). Das Thema Zäsuren und Wendepunkt treibt ihn schon lange um. Und so ist sein Vortrag auch ein Ritt durchs 20. Jahrhundert mit theoretischen Überlegungen und ein paar historischen Tupfern auf die tatsächlichen Zäsuren 1918, 1933, 1945 und 1989. Besonders die Betrachtung über die Ostdeutschen, die alsbald der „diktaturbezogenen Befreiungserzählung“ eine „Verweigerungserzählung“ entgegenstellten, lohnt einen genauen Blick. Sabrows These vom „nationalen Sonderstolz“ über das Ende des SED-Staats hinaus bietet durchaus Erkläransätze für den Erfolg der AfD in Ostdeutschland.
Er erinnert aber auch daran, dass vieles, was einst als Zeitenwende empfunden wurde, bald wieder vergessen war, etwa die Notstandsgesetze, die Einführung des Euro, die EU-Osterweiterung 2004 oder auch die Furcht vor dem neuen Jahrtausend.
Im Kern geht es aber um die Krisen und Herausforderungen der Forschungsdisziplin Zeitgeschichte. Und davon gibt es viele: Da wäre die „innere Auszehrung“ der opferzentrierten Geschichtskultur; da wäre die „Routine einer historischen Selbstberuhigung“ durch die ständige Reproduktion von Opfererzählungen aus der NS-Zeit und dem Holocaust; da wäre nicht zuletzt die „Trivialisierung der kathartischen Kraft der historischen Aufklärung“.
Und da wäre die „zunehmende Ersetzung von Distanz durch Identifikation“. Gemeint ist damit eine Angleichung der Vergangenheit an die Normen der Gegenwart – womit bedauerlicherweise einhergeht, dass der Vergangenheit ihre Andersartigkeit schlicht aberkannt wird. Sabrows Plädoyer, dass es „die vornehme Aufgabe der Zeitgeschichte bleibt, der Gegenwart zu dienen, indem sie sich ihrer noch so gut gemeinten Indienstnahme zu entziehen sucht“, könnten sich Gesellschaft und Medien und einige Fachkolleginnen durchaus zu Herzen nehmen.
ROBERT PROBST
Martin Sabrow:
Zeitenwenden in der Zeitgeschichte. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023.
88 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 17,99 Euro.
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»kleine(r), sehr lesenwerte(r) Essay« (Robert Probst, Süddeutsche Zeitung, 16.07.2023) »Sabrow diskutiert in seinem Essay mit intellektueller Schärfe (...) souverän auf der Höhe des aktuellen Wissenschaftsstandards.« (Theodor Joseph, Jüdische Rundschau, September 2023)