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Im Strudel historischer Verwirbelungen: Zwei Bücher fragen jenseits von Uhr und Kalender nach den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Zeit
Hätte die christliche Kirche nicht im dreizehnten Jahrhundert das Fegefeuer erfunden, das auch dem Wucherer noch einen Seitenweg ins Paradies öffnet, drohte uns heute vielleicht nicht die Zerstörung unseres natürlichen Lebensraumes. Mit der moralischen Legitimierung des Zinses wurde jene Wachstumsdynamik losgetreten, die zum Systemzwang wurde, weil sie auf die Zukunft konsequent Hypotheken aufnimmt und uns selbst unter Zeitdruck setzt. Der Wucherer war der Kirche verhasst, weil er das Geld arbeiten ließ, während die Menschen schliefen. Würden wir, wenn der Klerus anders entschieden hätte, heute ruhiger schlafen? Hätten wir einen anderen Begriff von Zeit? Und hätte die Kirche in ihrer Zeit überhaupt eine andere Entscheidung treffen können, ohne ins Abseits zu geraten?
Eine Geschichte der Möglichkeiten und Zeiterfahrungen hat auch Achim Landwehr im Sinn. Der an der Universität Düsseldorf lehrende Geschichtstheoretiker wirbt für eine "andere Historiographie", die, inspiriert von Literatur und Philosophie, die unausgeschöpften Potentiale der Vergangenheit hebt, die unendliche Vielfalt der Gedanken, Erfahrungen und Bezüge, die vergangene Zeiten mit der Gegenwart unterhalten. Der Lehrwert der Geschichte liegt ja nicht nur in der Darstellung des Gewesenen, sondern auch im Aufweis dessen, was stattdessen hätte sein können.
Diese Geschichte der Möglichkeiten schwebt als theoretisches Postulat über einer Geschichtswissenschaft, die derzeit viel damit zu tun hat, im Rausch der Virtualisierung ihre Begriffe und Fakten zu sichern. Der selbstgenügsame Faktizismus ist für Landwehr jedoch gerade die Crux, von der sich der Historiker durch die Reflexion seines ureigenen Gegenstands befreien kann: Zeit. Der Autor greift hinter die abstrakte Weltzeit von Uhr und Kalender zurück und plädiert für eine Vielzahl von Zeiten, ohne nach übergreifenden Einheiten zu fragen. Das betrifft auch den Begriff der Geschichte selbst, diese seltsame Mischung aus Mechanik und Aufklärung, die schon immer den Nachteil hatte, die Vielzahl von Zeiterfahrungen auf eine Linie zu zwingen, welche sie Fortschritt nennt.
Schon im neunzehnten Jahrhundert hatte die Synchronisierung der Welt, die mit der Einführung der Weltzeit einherging, erbitterte lokale Widerstände hervorgerufen. Die getaktete Zeit der Fortschrittsidee hat mit der Globalisierung zwar noch einmal an Spannweite gewonnen, mit dem Digitalkapitalismus ist sie uns gleichsam unter die Haut gekrochen, sie ist aber - nicht zuletzt durch den Klimawandel - unter Legitimationsdruck geraten. Die Gegenwart ist für Landwehr auch heute keine reine Transitstation, sondern ein Delta von "ehrfurchtgebietender Komplexität".
Das Andenvolk der Aymara beispielsweise wendet der Zukunft den Rücken zu; weil diese Menschen nichts über sie wissen, ist sie für sie bedeutungslos. Auch im täglichen Leben der westlichen Zivilisation überlagern sich die Zeitebenen, was etwa dann deutlich wird, wenn es darum geht, die Moral vergangener Zeiten zu bewerten. Wie ist der lineare Zeitstrahl zu durchstoßen, der die Gegenwart nur als Umschlagpunkt betrachtet?
Indem man die Vergangenheit selbst in die Gegenwart holt, lautet die Antwort des Autors. Jede Historiographie spielt sich im Kopf des Historikers ab, ist also ein sehr gegenwärtiges Geschehen, wobei es diesem nicht ungelegen kommt, sich auf vorher Geschriebenes beziehen zu können. Die Erzählung ordnet die vielfach verwobenen Zeiten, die sich beim Denken ineinanderschieben, wieder in ein chronologisches Nacheinander. Sie schafft eine Ordnung, die nicht der Vergangenheit selbst entspricht, und muss deshalb aufgebrochen werden.
Die Konturen einer "anderen Historiographie", auf die der Autor abzielt, heben sich jedoch nur schemenhaft ab. Mit dem französischen Poststrukturalismus teilt er das Faible für alles, was wirbelt, strudelt, schäumt, kurz: Ordnungen aufbricht. Geschichtsschreibung muss aber auch die Ordnungen beschreiben, die sich vergangene Zeiten gegeben haben. In welcher Form das geschehen soll, wird nicht recht deutlich. Im besten Fall ist das Ergebnis des zeitlichen Sprengaktes ein historischer Essayismus, wie ihn Landwehr mit kunstvoll geschliffenen Miniaturen demonstriert, im schlechteren Fall ein historisches Wimmelbild, das von begrifflichen Grundlagen zehrt, die für obsolet erklärt worden sind, bis der Historiker schließlich selbst, vom Strudel ergriffen, das Meer vor Perlen und Schaum nicht mehr sieht.
Es wundert nicht, dass als Generalmetapher der Geschichte die Wolke herhalten muss. Wie kann eine cloudbasierte Historiographie all jene Prozesse erfassen, die bis heute (nicht weniger als früher) von einer rationalen Ordnung bestimmt sind, wenn sie sich nur für Brüche und Diskontinuitäten interessiert? Darüber verliert der Autor dieses ansonsten inspirierenden und glänzend geschriebenen Buches leider nur wenige Worte.
Der Ansatz von Lucian Hölscher ist weniger ketzerisch und programmatisch. Wie Landwehr geht der Bochumer Emeritus in seinem Buch "Zeitgärten" von der Dichotomie zwischen leerer und verkörperter, den Dingen innewohnender Zeit aus, schlägt sich aber nicht auf die Seite von Einheit oder Vielheit. Aus mehr als zwanzig klassischen Geschichtswerken von Friedrich Schiller bis Willibald Steinmetz präpariert er Zeitfiguren heraus, die der jeweiligen Darstellung ihre dramatische Struktur geben, sei es der große Augenblick, der Fortschritt, der Geschichtsbruch oder, etwas nüchterner, aber sehr gegenwärtig, Vergleich und Wettbewerb. Hölscher versucht nicht, diese Figuren zu der von Reinhart Koselleck vorgedachten und unvollendet gebliebenen "Theorie historischer Zeiten" zu verdichten. Die begriffliche Neuprägung "Zeitschichten", mit der Koselleck deutlich machte, das zu gleicher Zeit Prozesse mit unterschiedlichem Rhythmus und anderer Ausdehnung ablaufen können, hat für Hölscher den Nachteil, die in den verschiedenen Ebenen wirkenden Zeitfiguren nicht zusammenführen.
Hölscher füllt diese Leerstelle nicht mit einem eigenen Konzept, sondern endet mit einer philosophischen Reflexion auf die qualitative Verbindung von Raum und Zeit: die leere, abstrakte Zeit ist der Raum, in dem sich die historischen Zeitkörper entfalten, aber auch unverbunden nebeneinander existieren können. Hölscher bündelt das zu der Idee einer eigenen, seiner Ansicht nach zu wenig beachteten Form der Zeitlosigkeit in der Geschichte. Nicht alles hängt zu allen Zeiten in gleicher Intensität oder überhaupt zusammen. Man kann darin ein Ausweichen vor dem Anspruch einer systematischen Theorie sehen, muss aber gleichwohl anerkennen, dass die diachrone Dimension des Historischen im System nicht aufgeht. Ihre Wirkung auf den Leser, sei er Historiker oder Laie, werden Hölschers schwebende Reflexionen jedenfalls nicht verfehlen.
THOMAS THIEL
Achim Landwehr:
"Diesseits der Geschichte". Für eine andere
Historiographie.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2020.
380 S., geb., 28,- [Euro].
Lucian Hölscher:
"Zeitgärten".
Zeitfiguren in der
Geschichte der Neuzeit.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2020.
325 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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