Berühmte Recherchen, die RAF und Zeitgeschichte aus der ersten Reihe - der große Journalist erzählt Berühmte Recherchen, die RAF und Zeitgeschichte aus der ersten Reihe - der große Journalist erzählt »Es wurde mir von Tag zu Tag deutlicher bewusst, welches Privileg es war, als >so eine Art Journalist<, wie ich immer gern gesagt hatte, am Straßenrand der Geschichte zu stehen.« Wenige Menschen waren bei den großen zeitgeschichtlichen Ereignissen der letzten Jahrzehnte so oft mittendrin wie Stefan Aust. Seine Autobiografie ist auch ein Rückblick auf seine journalistische Arbeit, hier folgt man nicht nur den Stationen eines ereignisreichen Lebens, sondern erhält auch tiefere Einblicke in seine Recherchen. So entsteht ein Panorama bundesdeutscher und internationaler Politik; es ist zugleich Zeitzeugnis, Hintergrundbericht und die Abenteuergeschichte eines hoch spannenden Lebens. »Ich hatte durchaus meine Positionen zu bestimmten Dingen und Ereignissen, aber ich habe mich nie mit einer Sache, auch wenn ich sie für richtig hielt, gemein gemacht. Ich war bei vielen Demonstrationen dabei, habe aber meistens ganz buchstäblich am Straßenrand gestanden, weil ich als junger Journalist - ich war ja gerade Anfang 20 - Abstand zu den politischen Aktivisten der damaligen Zeit halten wollte. Manche Meinungen, wie etwa die Kritik am Vietnamkrieg, habe ich geteilt - ohne aber mit >Ho-Ho-Ho-Chi-Minh< auf den Lippen für den Sieg der nordvietnamesischen Kommunisten und ihres Vietcong Partei zu ergreifen. Und doch steckte man mittendrin, in den Ereignissen der Zeit. Ich war skeptisch. Das war meine Grundhaltung. Skeptisch gegenüber den Regierenden, aber auch skeptisch gegenüber deren Gegnern.«
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Zweifel? Kennt er nicht, hat er nicht
Immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Stefan Aust erzählt in seiner Autobiographie viel von der jüngsten Vergangenheit und wenig von sich selbst.
Das Erstaunlichste an diesem Text, den doch ein Journalist und Filmemacher verfasst hat, ist der Umstand, dass er 577 Seiten braucht, bis er zum ersten Mal eine Meinung hat. Und dass der Autor schreibt, er habe sich danach weder gesehnt noch gedrängt, er habe es sich bis dahin geradezu versagt, eine Meinung zu haben oder jedenfalls zu formulieren und in einer hohen Auflage zu veröffentlichen. Jetzt ist er aber Herausgeber der Tageszeitung Die Welt und der Welt am Sonntag, jetzt gehören Sinnstiftung und Meinungsproduktion zu seinen Aufgaben. Und auf den Seiten, die dann noch folgen, demonstriert Stefan Aust, dass das Anfertigen und womöglich sogar das Begründen von Meinungen auch nie das größte seiner Talente war. Wenn er, nur zum Beispiel, den Kindern, die freitags die Schule schwänzen, entgegenhält, dass das Klima sich doch immer gewandelt habe, ist das eher schlicht als originell gedacht.
Links, schreibt Aust gleich am Anfang, sei er nie gewesen, was, auf den ersten Blick jedenfalls, eine erstaunliche Selbstbeschreibung istfür einen Mann, der in den Sechzigern beim linken Magazin Konkret gearbeitet hat, der Ulrike Meinhofs Kolumnen gegenlas, mit Rudi Dutschke nach Prag fuhr und den von der Polizei gesuchten Studentenführer Karl Heinz Roth in seiner Wohnung versteckte. Und manchmal, wenn er von der Studentenrevolte erzählt und von "den Genossen" so schreibt, wie man das nur tut, wenn man sich selbst als Genosse begreift, manchmal klingt der Text (wohl gegen die Intention des Autors), als wäre Aust den rebellierenden Studenten näher gewesen, als er sich das heute eingestehen mag. Aber dass er, der Journalist, der Beobachter und Beschreiber, in diesem Milieu vor allem die interessanteren Köpfe, die besseren Geschichten und nicht zuletzt das aufregendere Leben suchte und fand, glaubt man ihm sofort. Und dass er für die Diktatur des Proletariats nie etwas übrig hatte, auch.
"Du kennst das ja: ein bißchen Freiheit, Star-Club, Coca-Cola, frische Luft, am besten morgens, wenn das Gras noch vom Tau naß ist, dann einen Gaul zwischen den Schenkeln, Geschwindigkeit und Wind und Regen. Jede Menge Lärm, Beat-Musik, ein wenig Duft der großen weiten Welt . . ." Dieses Zitat, aus einem Brief des zwanzigjährigen Aust an seine damalige Freundin, ist dessen einziges Bekenntnis zu subjektiven Wünschen und Leidenschaften, wenn man von ein paar beinahe zärtlichen Passagen über Pferde, die ihm mehr als ein Hobby sind, absieht. Sonst aber fühlt Aust nicht und meint auch nicht. Er ist dabei, er schaut zu, er beschreibt. Und dass diese nüchternen Protokolle des Geschehens oft einen großen Zauber haben, ist nicht nur eine der Stärken dieses Buchs. Es liegt am womöglich größten Talent von Stefan Aust, dem Talent, dabei zu sein, wenn etwas passiert.
Er spricht mit Rudi Dutschke über dessen geplanten Konkret-Artikel, bevor Dutschke dann zur SDS-Zentrale am Kurfürstendamm radelt und auf dem Rückweg von Rudi Bachmann niedergeschossen wird. Er sitzt in Ulrike Meinhofs blauem R4, als das Auto genau so im Halteverbot geparkt wird, dass der Springer-Verlag zwar blockiert, das Auto bei einer Räumung aber nicht beschädigt wird. Er ist zu Besuch in Harlem, als die militanten Weathermen beschließen, sich zu bewaffnen und in den Untergrund zu gehen. Er ist auf Sizilien, von wo aus Ulrike Meinhofs Töchter in ein Fatah-Lager in Jordanien verschleppt werden sollen, was Aust verhindert. Und er ist rechtzeitig heraus aus seiner Wohnung in Hamburg, als Andreas Baader und Horst Mahler vor der Tür stehen, angeblich um ihn dafür zu erschießen. "Stuck around St. Petersburg when I saw it was a time for a change": Wären diese Kapitel ein Film, müsste auf dem Soundtrack "Sympathy for the Devil" laufen.
Es ist eine eigenwillige Interpretation der Gattung Autobiographie, wenn Stefan Aust nach den Jahren der Revolte und einer großen Reise durch Amerika von Stefan Aust so gut wie gar nicht spricht. Zweifel, Krisen, unerfüllte Wünsche, gefährliche Gedanken, verbotenes Begehren: Kennt er nicht, hat er nicht, und wenn doch, dann schweigt er davon, was ja sein gutes Recht ist. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut euch meine Filme an, hat Helmut Dietl immer gesagt. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut auf die Geschichten, die mich interessieren, die ich recherchiert oder in Auftrag gegeben habe, scheint Stefan Aust mit diesem Buch zu sagen. Und, möchte man hinzufügen, erinnert euch an den spöttischen Zug im Gesicht des Mannes, der jahrelang Spiegel TV leitete.
Ja, er hat Spiegel TV gegründet, er war Chefredakteur des Spiegels, er ist Herausgeber bei Springer. Und er erzählt von dieser erstaunlichen Karriere so beiläufig, als wäre ihm das alles eher widerfahren, als dass er es angestrebt hätte. Lieber schreibt er die vielen Seiten voll mit den Kapiteln der Zeitgeschichte, deren Zeuge er war. RAF, Mauerfall oder wie er vor der Frau des Agenten Mauss stand und die ihm drohte, sie werde ihn persönlich töten, falls er ihren Mann enttarne. Die Suche nach dem Bernsteinzimmer, die Recherchen in den Stasi-Archiven, die Suche nach dem Wrack der gesunkenen Fähre "Estonia": Journalismus ist nichts, wenn er kein Abenteuer ist, suggeriert Aust (der, was nicht im Buch steht, in manchen Spiegel-Konferenzen nachdenkliche Kulturredakteure mit der Frage erschreckte, ob sie nicht, statt ewig an ihren Besinnungsaufsätzen zu feilen, vielleicht mal nach Sarajevo fahren wollten).
Man kann dieses Buch - und die meisten werden genau das tun - als Gang durch die jüngere deutsche Geschichte lesen, wobei am interessantesten jene Kapitel sind, deren Akteure am liebsten verborgen geblieben wären, und Austs Anspruch auf Deutungshoheit sich nur daraus speist, dass er eben näher dran war und bessere Quellen angezapft hat. Man kann das Buch auch als gewaltige Anmaßung lesen: Ich, Stefan Aust, erzähle Geschichte als Autobiographie, ich bin also diese Geschichte, zumindest verkörpere ich sie. Und man kann sicher sein, dass Aust zu solchen Interpretationen ausdrücklich keine Meinung hat. Er hat halt aufgeschrieben, was war. Wo soll da ein Problem sein? CLAUDIUS SEIDL
Stefan Aust: "Zeitreise". Die Autobiografie.
Piper Verlag, München 2021. 656 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Stefan Aust erzählt in seiner Autobiographie viel von der jüngsten Vergangenheit und wenig von sich selbst.
Das Erstaunlichste an diesem Text, den doch ein Journalist und Filmemacher verfasst hat, ist der Umstand, dass er 577 Seiten braucht, bis er zum ersten Mal eine Meinung hat. Und dass der Autor schreibt, er habe sich danach weder gesehnt noch gedrängt, er habe es sich bis dahin geradezu versagt, eine Meinung zu haben oder jedenfalls zu formulieren und in einer hohen Auflage zu veröffentlichen. Jetzt ist er aber Herausgeber der Tageszeitung Die Welt und der Welt am Sonntag, jetzt gehören Sinnstiftung und Meinungsproduktion zu seinen Aufgaben. Und auf den Seiten, die dann noch folgen, demonstriert Stefan Aust, dass das Anfertigen und womöglich sogar das Begründen von Meinungen auch nie das größte seiner Talente war. Wenn er, nur zum Beispiel, den Kindern, die freitags die Schule schwänzen, entgegenhält, dass das Klima sich doch immer gewandelt habe, ist das eher schlicht als originell gedacht.
Links, schreibt Aust gleich am Anfang, sei er nie gewesen, was, auf den ersten Blick jedenfalls, eine erstaunliche Selbstbeschreibung istfür einen Mann, der in den Sechzigern beim linken Magazin Konkret gearbeitet hat, der Ulrike Meinhofs Kolumnen gegenlas, mit Rudi Dutschke nach Prag fuhr und den von der Polizei gesuchten Studentenführer Karl Heinz Roth in seiner Wohnung versteckte. Und manchmal, wenn er von der Studentenrevolte erzählt und von "den Genossen" so schreibt, wie man das nur tut, wenn man sich selbst als Genosse begreift, manchmal klingt der Text (wohl gegen die Intention des Autors), als wäre Aust den rebellierenden Studenten näher gewesen, als er sich das heute eingestehen mag. Aber dass er, der Journalist, der Beobachter und Beschreiber, in diesem Milieu vor allem die interessanteren Köpfe, die besseren Geschichten und nicht zuletzt das aufregendere Leben suchte und fand, glaubt man ihm sofort. Und dass er für die Diktatur des Proletariats nie etwas übrig hatte, auch.
"Du kennst das ja: ein bißchen Freiheit, Star-Club, Coca-Cola, frische Luft, am besten morgens, wenn das Gras noch vom Tau naß ist, dann einen Gaul zwischen den Schenkeln, Geschwindigkeit und Wind und Regen. Jede Menge Lärm, Beat-Musik, ein wenig Duft der großen weiten Welt . . ." Dieses Zitat, aus einem Brief des zwanzigjährigen Aust an seine damalige Freundin, ist dessen einziges Bekenntnis zu subjektiven Wünschen und Leidenschaften, wenn man von ein paar beinahe zärtlichen Passagen über Pferde, die ihm mehr als ein Hobby sind, absieht. Sonst aber fühlt Aust nicht und meint auch nicht. Er ist dabei, er schaut zu, er beschreibt. Und dass diese nüchternen Protokolle des Geschehens oft einen großen Zauber haben, ist nicht nur eine der Stärken dieses Buchs. Es liegt am womöglich größten Talent von Stefan Aust, dem Talent, dabei zu sein, wenn etwas passiert.
Er spricht mit Rudi Dutschke über dessen geplanten Konkret-Artikel, bevor Dutschke dann zur SDS-Zentrale am Kurfürstendamm radelt und auf dem Rückweg von Rudi Bachmann niedergeschossen wird. Er sitzt in Ulrike Meinhofs blauem R4, als das Auto genau so im Halteverbot geparkt wird, dass der Springer-Verlag zwar blockiert, das Auto bei einer Räumung aber nicht beschädigt wird. Er ist zu Besuch in Harlem, als die militanten Weathermen beschließen, sich zu bewaffnen und in den Untergrund zu gehen. Er ist auf Sizilien, von wo aus Ulrike Meinhofs Töchter in ein Fatah-Lager in Jordanien verschleppt werden sollen, was Aust verhindert. Und er ist rechtzeitig heraus aus seiner Wohnung in Hamburg, als Andreas Baader und Horst Mahler vor der Tür stehen, angeblich um ihn dafür zu erschießen. "Stuck around St. Petersburg when I saw it was a time for a change": Wären diese Kapitel ein Film, müsste auf dem Soundtrack "Sympathy for the Devil" laufen.
Es ist eine eigenwillige Interpretation der Gattung Autobiographie, wenn Stefan Aust nach den Jahren der Revolte und einer großen Reise durch Amerika von Stefan Aust so gut wie gar nicht spricht. Zweifel, Krisen, unerfüllte Wünsche, gefährliche Gedanken, verbotenes Begehren: Kennt er nicht, hat er nicht, und wenn doch, dann schweigt er davon, was ja sein gutes Recht ist. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut euch meine Filme an, hat Helmut Dietl immer gesagt. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut auf die Geschichten, die mich interessieren, die ich recherchiert oder in Auftrag gegeben habe, scheint Stefan Aust mit diesem Buch zu sagen. Und, möchte man hinzufügen, erinnert euch an den spöttischen Zug im Gesicht des Mannes, der jahrelang Spiegel TV leitete.
Ja, er hat Spiegel TV gegründet, er war Chefredakteur des Spiegels, er ist Herausgeber bei Springer. Und er erzählt von dieser erstaunlichen Karriere so beiläufig, als wäre ihm das alles eher widerfahren, als dass er es angestrebt hätte. Lieber schreibt er die vielen Seiten voll mit den Kapiteln der Zeitgeschichte, deren Zeuge er war. RAF, Mauerfall oder wie er vor der Frau des Agenten Mauss stand und die ihm drohte, sie werde ihn persönlich töten, falls er ihren Mann enttarne. Die Suche nach dem Bernsteinzimmer, die Recherchen in den Stasi-Archiven, die Suche nach dem Wrack der gesunkenen Fähre "Estonia": Journalismus ist nichts, wenn er kein Abenteuer ist, suggeriert Aust (der, was nicht im Buch steht, in manchen Spiegel-Konferenzen nachdenkliche Kulturredakteure mit der Frage erschreckte, ob sie nicht, statt ewig an ihren Besinnungsaufsätzen zu feilen, vielleicht mal nach Sarajevo fahren wollten).
Man kann dieses Buch - und die meisten werden genau das tun - als Gang durch die jüngere deutsche Geschichte lesen, wobei am interessantesten jene Kapitel sind, deren Akteure am liebsten verborgen geblieben wären, und Austs Anspruch auf Deutungshoheit sich nur daraus speist, dass er eben näher dran war und bessere Quellen angezapft hat. Man kann das Buch auch als gewaltige Anmaßung lesen: Ich, Stefan Aust, erzähle Geschichte als Autobiographie, ich bin also diese Geschichte, zumindest verkörpere ich sie. Und man kann sicher sein, dass Aust zu solchen Interpretationen ausdrücklich keine Meinung hat. Er hat halt aufgeschrieben, was war. Wo soll da ein Problem sein? CLAUDIUS SEIDL
Stefan Aust: "Zeitreise". Die Autobiografie.
Piper Verlag, München 2021. 656 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine ZeitungZweifel? Kennt er nicht, hat er nicht
Immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Stefan Aust erzählt in seiner Autobiographie viel von der jüngsten Vergangenheit und wenig von sich selbst.
Das Erstaunlichste an diesem Text, den doch ein Journalist und Filmemacher verfasst hat, ist der Umstand, dass er 577 Seiten braucht, bis er zum ersten Mal eine Meinung hat. Und dass der Autor schreibt, er habe sich danach weder gesehnt noch gedrängt, er habe es sich bis dahin geradezu versagt, eine Meinung zu haben oder jedenfalls zu formulieren und in einer hohen Auflage zu veröffentlichen. Jetzt ist er aber Herausgeber der Tageszeitung Die Welt und der Welt am Sonntag, jetzt gehören Sinnstiftung und Meinungsproduktion zu seinen Aufgaben. Und auf den Seiten, die dann noch folgen, demonstriert Stefan Aust, dass das Anfertigen und womöglich sogar das Begründen von Meinungen auch nie das größte seiner Talente war. Wenn er, nur zum Beispiel, den Kindern, die freitags die Schule schwänzen, entgegenhält, dass das Klima sich doch immer gewandelt habe, ist das eher schlicht als originell gedacht.
Links, schreibt Aust gleich am Anfang, sei er nie gewesen, was, auf den ersten Blick jedenfalls, eine erstaunliche Selbstbeschreibung istfür einen Mann, der in den Sechzigern beim linken Magazin Konkret gearbeitet hat, der Ulrike Meinhofs Kolumnen gegenlas, mit Rudi Dutschke nach Prag fuhr und den von der Polizei gesuchten Studentenführer Karl Heinz Roth in seiner Wohnung versteckte. Und manchmal, wenn er von der Studentenrevolte erzählt und von "den Genossen" so schreibt, wie man das nur tut, wenn man sich selbst als Genosse begreift, manchmal klingt der Text (wohl gegen die Intention des Autors), als wäre Aust den rebellierenden Studenten näher gewesen, als er sich das heute eingestehen mag. Aber dass er, der Journalist, der Beobachter und Beschreiber, in diesem Milieu vor allem die interessanteren Köpfe, die besseren Geschichten und nicht zuletzt das aufregendere Leben suchte und fand, glaubt man ihm sofort. Und dass er für die Diktatur des Proletariats nie etwas übrig hatte, auch.
"Du kennst das ja: ein bißchen Freiheit, Star-Club, Coca-Cola, frische Luft, am besten morgens, wenn das Gras noch vom Tau naß ist, dann einen Gaul zwischen den Schenkeln, Geschwindigkeit und Wind und Regen. Jede Menge Lärm, Beat-Musik, ein wenig Duft der großen weiten Welt . . ." Dieses Zitat, aus einem Brief des zwanzigjährigen Aust an seine damalige Freundin, ist dessen einziges Bekenntnis zu subjektiven Wünschen und Leidenschaften, wenn man von ein paar beinahe zärtlichen Passagen über Pferde, die ihm mehr als ein Hobby sind, absieht. Sonst aber fühlt Aust nicht und meint auch nicht. Er ist dabei, er schaut zu, er beschreibt. Und dass diese nüchternen Protokolle des Geschehens oft einen großen Zauber haben, ist nicht nur eine der Stärken dieses Buchs. Es liegt am womöglich größten Talent von Stefan Aust, dem Talent, dabei zu sein, wenn etwas passiert.
Er spricht mit Rudi Dutschke über dessen geplanten Konkret-Artikel, bevor Dutschke dann zur SDS-Zentrale am Kurfürstendamm radelt und auf dem Rückweg von Rudi Bachmann niedergeschossen wird. Er sitzt in Ulrike Meinhofs blauem R4, als das Auto genau so im Halteverbot geparkt wird, dass der Springer-Verlag zwar blockiert, das Auto bei einer Räumung aber nicht beschädigt wird. Er ist zu Besuch in Harlem, als die militanten Weathermen beschließen, sich zu bewaffnen und in den Untergrund zu gehen. Er ist auf Sizilien, von wo aus Ulrike Meinhofs Töchter in ein Fatah-Lager in Jordanien verschleppt werden sollen, was Aust verhindert. Und er ist rechtzeitig heraus aus seiner Wohnung in Hamburg, als Andreas Baader und Horst Mahler vor der Tür stehen, angeblich um ihn dafür zu erschießen. "Stuck around St. Petersburg when I saw it was a time for a change": Wären diese Kapitel ein Film, müsste auf dem Soundtrack "Sympathy for the Devil" laufen.
Es ist eine eigenwillige Interpretation der Gattung Autobiographie, wenn Stefan Aust nach den Jahren der Revolte und einer großen Reise durch Amerika von Stefan Aust so gut wie gar nicht spricht. Zweifel, Krisen, unerfüllte Wünsche, gefährliche Gedanken, verbotenes Begehren: Kennt er nicht, hat er nicht, und wenn doch, dann schweigt er davon, was ja sein gutes Recht ist. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut euch meine Filme an, hat Helmut Dietl immer gesagt. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut auf die Geschichten, die mich interessieren, die ich recherchiert oder in Auftrag gegeben habe, scheint Stefan Aust mit diesem Buch zu sagen. Und, möchte man hinzufügen, erinnert euch an den spöttischen Zug im Gesicht des Mannes, der jahrelang Spiegel TV leitete.
Ja, er hat Spiegel TV gegründet, er war Chefredakteur des Spiegels, er ist Herausgeber bei Springer. Und er erzählt von dieser erstaunlichen Karriere so beiläufig, als wäre ihm das alles eher widerfahren, als dass er es angestrebt hätte. Lieber schreibt er die vielen Seiten voll mit den Kapiteln der Zeitgeschichte, deren Zeuge er war. RAF, Mauerfall oder wie er vor der Frau des Agenten Mauss stand und die ihm drohte, sie werde ihn persönlich töten, falls er ihren Mann enttarne. Die Suche nach dem Bernsteinzimmer, die Recherchen in den Stasi-Archiven, die Suche nach dem Wrack der gesunkenen Fähre "Estonia": Journalismus ist nichts, wenn er kein Abenteuer ist, suggeriert Aust (der, was nicht im Buch steht, in manchen Spiegel-Konferenzen nachdenkliche Kulturredakteure mit der Frage erschreckte, ob sie nicht, statt ewig an ihren Besinnungsaufsätzen zu feilen, vielleicht mal nach Sarajevo fahren wollten).
Man kann dieses Buch - und die meisten werden genau das tun - als Gang durch die jüngere deutsche Geschichte lesen, wobei am interessantesten jene Kapitel sind, deren Akteure am liebsten verborgen geblieben wären, und Austs Anspruch auf Deutungshoheit sich nur daraus speist, dass er eben näher dran war und bessere Quellen angezapft hat. Man kann das Buch auch als gewaltige Anmaßung lesen: Ich, Stefan Aust, erzähle Geschichte als Autobiographie, ich bin also diese Geschichte, zumindest verkörpere ich sie. Und man kann sicher sein, dass Aust zu solchen Interpretationen ausdrücklich keine Meinung hat. Er hat halt aufgeschrieben, was war. Wo soll da ein Problem sein? CLAUDIUS SEIDL
Stefan Aust: "Zeitreise". Die Autobiografie.
Piper Verlag, München 2021. 656 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Stefan Aust erzählt in seiner Autobiographie viel von der jüngsten Vergangenheit und wenig von sich selbst.
Das Erstaunlichste an diesem Text, den doch ein Journalist und Filmemacher verfasst hat, ist der Umstand, dass er 577 Seiten braucht, bis er zum ersten Mal eine Meinung hat. Und dass der Autor schreibt, er habe sich danach weder gesehnt noch gedrängt, er habe es sich bis dahin geradezu versagt, eine Meinung zu haben oder jedenfalls zu formulieren und in einer hohen Auflage zu veröffentlichen. Jetzt ist er aber Herausgeber der Tageszeitung Die Welt und der Welt am Sonntag, jetzt gehören Sinnstiftung und Meinungsproduktion zu seinen Aufgaben. Und auf den Seiten, die dann noch folgen, demonstriert Stefan Aust, dass das Anfertigen und womöglich sogar das Begründen von Meinungen auch nie das größte seiner Talente war. Wenn er, nur zum Beispiel, den Kindern, die freitags die Schule schwänzen, entgegenhält, dass das Klima sich doch immer gewandelt habe, ist das eher schlicht als originell gedacht.
Links, schreibt Aust gleich am Anfang, sei er nie gewesen, was, auf den ersten Blick jedenfalls, eine erstaunliche Selbstbeschreibung istfür einen Mann, der in den Sechzigern beim linken Magazin Konkret gearbeitet hat, der Ulrike Meinhofs Kolumnen gegenlas, mit Rudi Dutschke nach Prag fuhr und den von der Polizei gesuchten Studentenführer Karl Heinz Roth in seiner Wohnung versteckte. Und manchmal, wenn er von der Studentenrevolte erzählt und von "den Genossen" so schreibt, wie man das nur tut, wenn man sich selbst als Genosse begreift, manchmal klingt der Text (wohl gegen die Intention des Autors), als wäre Aust den rebellierenden Studenten näher gewesen, als er sich das heute eingestehen mag. Aber dass er, der Journalist, der Beobachter und Beschreiber, in diesem Milieu vor allem die interessanteren Köpfe, die besseren Geschichten und nicht zuletzt das aufregendere Leben suchte und fand, glaubt man ihm sofort. Und dass er für die Diktatur des Proletariats nie etwas übrig hatte, auch.
"Du kennst das ja: ein bißchen Freiheit, Star-Club, Coca-Cola, frische Luft, am besten morgens, wenn das Gras noch vom Tau naß ist, dann einen Gaul zwischen den Schenkeln, Geschwindigkeit und Wind und Regen. Jede Menge Lärm, Beat-Musik, ein wenig Duft der großen weiten Welt . . ." Dieses Zitat, aus einem Brief des zwanzigjährigen Aust an seine damalige Freundin, ist dessen einziges Bekenntnis zu subjektiven Wünschen und Leidenschaften, wenn man von ein paar beinahe zärtlichen Passagen über Pferde, die ihm mehr als ein Hobby sind, absieht. Sonst aber fühlt Aust nicht und meint auch nicht. Er ist dabei, er schaut zu, er beschreibt. Und dass diese nüchternen Protokolle des Geschehens oft einen großen Zauber haben, ist nicht nur eine der Stärken dieses Buchs. Es liegt am womöglich größten Talent von Stefan Aust, dem Talent, dabei zu sein, wenn etwas passiert.
Er spricht mit Rudi Dutschke über dessen geplanten Konkret-Artikel, bevor Dutschke dann zur SDS-Zentrale am Kurfürstendamm radelt und auf dem Rückweg von Rudi Bachmann niedergeschossen wird. Er sitzt in Ulrike Meinhofs blauem R4, als das Auto genau so im Halteverbot geparkt wird, dass der Springer-Verlag zwar blockiert, das Auto bei einer Räumung aber nicht beschädigt wird. Er ist zu Besuch in Harlem, als die militanten Weathermen beschließen, sich zu bewaffnen und in den Untergrund zu gehen. Er ist auf Sizilien, von wo aus Ulrike Meinhofs Töchter in ein Fatah-Lager in Jordanien verschleppt werden sollen, was Aust verhindert. Und er ist rechtzeitig heraus aus seiner Wohnung in Hamburg, als Andreas Baader und Horst Mahler vor der Tür stehen, angeblich um ihn dafür zu erschießen. "Stuck around St. Petersburg when I saw it was a time for a change": Wären diese Kapitel ein Film, müsste auf dem Soundtrack "Sympathy for the Devil" laufen.
Es ist eine eigenwillige Interpretation der Gattung Autobiographie, wenn Stefan Aust nach den Jahren der Revolte und einer großen Reise durch Amerika von Stefan Aust so gut wie gar nicht spricht. Zweifel, Krisen, unerfüllte Wünsche, gefährliche Gedanken, verbotenes Begehren: Kennt er nicht, hat er nicht, und wenn doch, dann schweigt er davon, was ja sein gutes Recht ist. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut euch meine Filme an, hat Helmut Dietl immer gesagt. Wenn ihr wissen wollt, wer ich bin, dann schaut auf die Geschichten, die mich interessieren, die ich recherchiert oder in Auftrag gegeben habe, scheint Stefan Aust mit diesem Buch zu sagen. Und, möchte man hinzufügen, erinnert euch an den spöttischen Zug im Gesicht des Mannes, der jahrelang Spiegel TV leitete.
Ja, er hat Spiegel TV gegründet, er war Chefredakteur des Spiegels, er ist Herausgeber bei Springer. Und er erzählt von dieser erstaunlichen Karriere so beiläufig, als wäre ihm das alles eher widerfahren, als dass er es angestrebt hätte. Lieber schreibt er die vielen Seiten voll mit den Kapiteln der Zeitgeschichte, deren Zeuge er war. RAF, Mauerfall oder wie er vor der Frau des Agenten Mauss stand und die ihm drohte, sie werde ihn persönlich töten, falls er ihren Mann enttarne. Die Suche nach dem Bernsteinzimmer, die Recherchen in den Stasi-Archiven, die Suche nach dem Wrack der gesunkenen Fähre "Estonia": Journalismus ist nichts, wenn er kein Abenteuer ist, suggeriert Aust (der, was nicht im Buch steht, in manchen Spiegel-Konferenzen nachdenkliche Kulturredakteure mit der Frage erschreckte, ob sie nicht, statt ewig an ihren Besinnungsaufsätzen zu feilen, vielleicht mal nach Sarajevo fahren wollten).
Man kann dieses Buch - und die meisten werden genau das tun - als Gang durch die jüngere deutsche Geschichte lesen, wobei am interessantesten jene Kapitel sind, deren Akteure am liebsten verborgen geblieben wären, und Austs Anspruch auf Deutungshoheit sich nur daraus speist, dass er eben näher dran war und bessere Quellen angezapft hat. Man kann das Buch auch als gewaltige Anmaßung lesen: Ich, Stefan Aust, erzähle Geschichte als Autobiographie, ich bin also diese Geschichte, zumindest verkörpere ich sie. Und man kann sicher sein, dass Aust zu solchen Interpretationen ausdrücklich keine Meinung hat. Er hat halt aufgeschrieben, was war. Wo soll da ein Problem sein? CLAUDIUS SEIDL
Stefan Aust: "Zeitreise". Die Autobiografie.
Piper Verlag, München 2021. 656 S., geb., 26,- Euro.
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