Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Jetzt aber flott, wenn ich bitten darf: Sonja Gabbani-Hedman mißt japanische Zeit im Sauseschritt
Japans hohes Lebenstempo zeigt sich auch in der Grußformel "omatase shimashita!" (ich habe Sie warten lassen) des Personals in den Cafés. Die Zeit als Kalkulationsmasse und Gesellschaftskitt prägt das Verhalten, die Dienstleistungen und die Lebensentwürfe.
Doch hinter der Oberfläche der chronometrischen Zeit, so Sonja Gabbani-Hedmans Annahme, liegt eine folkloristische Zeit. Japans staatliche Kalender- und Zeitreform von 1873 verdrängte auf den ersten Blick die zyklischen und bedeutungsvollen Zeitmuster wie die am chinesischen Tierkreis orientierte Einteilung eines Tages und einer Nacht in jeweils sechs Einheiten und den Mond-Sonnen-Kalender, der neben lokalen rituellen Kalendern existierte. Paradoxerweise ermöglichte erst die Übernahme der präzisen Uhrzeit, des christlichen Kalendersystems und der Weltstandardzeit Japans gesellschaftliche Homogenisierung und Synchronisierung.
Der Aufbau eines zentralisierten Nationalstaates, der die Feudalgesellschaft ablöste, ging mit der staatlichen Durchsetzung der universalen Zeit bei der Einführung der allgemeinen Schul- und Wehrpflicht, der Rationalisierung der Bürokratie und der Betriebe und bei der Koordination der Eisenbahnreisen einher. Neu war die Erfahrung zeitlich begrenzter öffentlicher Veranstaltungen wie Theaterstücke oder Sumo-Wettkämpfe seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, nachdem die Zuschauer bis dahin während der laufenden, zeitlich vage festgelegten Vorstellung kamen und gingen. Nach 1945 gelang der endgültige Sieg der westlichen Disziplinarzeit, die Etablierung der "Bildungsganggesellschaft" und die Institutionalisierung der Lebensläufe.
Auf der Suche nach den Schattenorten der dominanten Zeit begibt sich die Autorin in einem Stadtbezirk von Nagoya, der während des Wirtschaftsaufschwungs in den sechziger Jahren einem infrastrukturellen Wandel unterworfen war. Anhand von Lebenserzählungen älterer Bewohner macht sie Zeitkonzepte und Lebensideologien lebendig und verortet den Verlust von Zeitsouveränität an der autobiographischen Schnittstelle zwischen agrarischen und urbanen Gesellschaften.
In der Standardbiographie des japanischen Angestellten erkennt die Autorin unter Rückgriff auf Pierre Bourdieu eine "biographische Illusion" und ein von Brüchen geprägtes Konzept der Linearität, ein postmodernes Ablaufprogramm von "kurzfristigen institutionellen Arrangements". Augenfällig in den Interviews ist, das die Zukunft fehlt, was durchaus mit der syntaktischen Struktur des Japanischen zusammenhängt.
Die Gründe für eine fehlende Lebensplanung liegen in der Abfolge von Zugehörigkeiten und Identitäten, in der Hierarchie von Verpflichtungen und Institutionen wie Schule, Universität und Betrieb, innerhalb deren Lebenslaufentscheidungen von der universitären Arbeitsvermittlung bis hin zu firmenintern arrangierten Hochzeiten getroffen werden.
In Japan sind die Grenzen zwischen Privatheit und Berufsleben, Arbeit und Freizeit, Haushalt und Berufsarbeit fließend, wie die "Hausfrauendebatte" um die Entlohnung der Hausarbeit in den 1960er Jahren belegt.
Die Studie betont die lokale Ausdehnung von Zeit in "kleinräumlich organisierten Sozialeinheiten" im Alltag, die als soziale Verpflichtung und unter möglicher Umgehung des Arbeitsvertrags das Phänomen des "zu viel Arbeitens" (hataraki-sugi) erklärt. Das räumlich-kontextuelle Zeitverständnis begründet auch die Koexistenz einer öffentlichen und privaten Sphäre in der fernöstlichen Unternehmenskultur, was sich in der obligatorischen Geselligkeit von Firmenfeiern und Trinkgelagen mit Kollegen und Vorgesetzten äußert.
Die Autorin vermutet hinter dem fluchtpunktlosen Sprechen ihrer japanischen Informanten, welche lebensgeschichtliche Ereignisse nicht in einen kohärenten Zusammenhang bringen, kollektive, auf Gabe-Gegengabe-Verhältnissen basierende Zeitregelungen und ein gemeinsames "Zeiten" (timing). Tempo, Tempo - die Zeit zur Lektüre ist kostbar.
STEFFEN GNAM.
Sonja Gabbani-Hedman: "Zeitvorstellungen in Japan". Reflexionen über den uni-versalen Zeitbegriff. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 2006. 290 S., br., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH