»Murata lotet mit brutaler Zartheit die innere Welt beschädigter Seelen aus.« Brigitte
Sayaka Murata hat mit ihrem Bestseller »Die Ladenhüterin« und ihrem letzten Roman »Das Seidenraupenzimmer« bewiesen, dass wohl keine andere Autorin derzeit faszinierendere Geschichten über die beunruhigende Natur der menschlichen Existenz erzählt als sie. Die »Zeremonie des Lebens« versammelt 12 ihrer Kurzgeschichten, das Genre, für das Murata in Japan ganz besonders bewundert wird. In diesen so aufrüttelnden wie beglückenden Geschichten über Familie und Freundschaft, Sex und Intimität, Zugehörigkeit und Individualität lotet Murata aus, wie schockierend, phantastisch und unheimlich man denken muss, um etwas Wahres über unsere Realität erzählen zu können.
Ein junges Mädchen ist zum ersten Mal verliebt, obwohl sie insgeheim tiefe Gefühle für den Vorhang in ihrem Zimmer hat. Eine Frau begeistert sich für Möbel und Kleidung aus menschlichem Material und gerät darüber mit ihrem Verlobten in Streit. Familien ehren ihre Verstorbenen in Zeremonien, bei denen kannibalische Feste in Sex übergehen. In zwölf absurden, komischen, zärtlichen Storys führt uns Sayaka Murata in die Tiefen menschlicher Abgründe – originell und unvergesslich, wie nur sie es kann.
»Murata entlarvt auf brillante Weise die Gefühllosigkeit und Willkür unserer Konventionen.« New Yorker
»Ihr funkelnder Stil und Blick für Details sind absolut einzigartig.« Vogue
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, B, BG, CY, CZ, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sayaka Muratas Kurzgeschichten
"Normalität ist ja auch eine Art von Wahnsinn. Und eben die einzige Art von Wahnsinn, die auf dieser Welt erlaubt ist." Sayaka Muratas Kurzgeschichtenband stellt in intelligenten Hinterfragespielen und mit subtiler Verschiebung der Perspektiven im japanischen Reich der Zeichen und codierter Verhaltensregeln die dort eingeübten Konventionen auf den Prüfstand. Tenor des Dutzends Erzählungen, die den kapitalistischen, patriarchalischen japanischen Alltag in leicht surrealen Anderswelten und Parallelgesellschaften persiflieren, ist die Suche nach dem wahren Ich und "Kern des Lebens", die Rückkehr zu mitmenschlicher Achtung und Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung auch noch im betonverbauten Tokio.
Wie in Muratas Bestseller "Die Ladenhüterin" (in Japan 2016 erschienen), der gesellschaftliche Erwartungen anhand einer vorgetäuschten Partnerschaft der Heldin karikierte, sind auch hier Sexualität und die "Ehe ohne Sex" sowie Gegenmodelle zur heteronormativen Kernfamilie der Nachkriegszeit ein Leitmotiv - und das im geburtenschwachen Japan! Sexverweigerung, Appetitlosigkeit und Essstörungen, sich verselbständigende Körperteile wie Magen oder Herz: Einsamkeitsbilder und Autismus prägen die romantischen bis morbiden Storys, die voller Schönheit und zugleich voller Abgründe sind. Zwischen Science-Fiction und Groteske behandelt der Band Themen wie künstliche Befruchtung, Patchworkfamilien und Alternativen zum Ehejoch. In "Liebende im Wind" zieht die Heldin innige Umarmungen ihres Vorhangs der defizitären Zweisamkeit mit Exemplaren der männlichen Spezies vor.
Die 1979 geborene Murata karikiert mit ihrer Erzählkunst den familiären Heiratsdruck und die staatliche Fixierung auf die Fortpflanzung (in "Zeremonie des Lebens" taucht ein "Zentrum für die Aufzucht von Kindern" auf), sie umspielt ein buddhistisches Moment illusionärer Begierden. Buddhistisch grundiert sind auch das Bild der modernen Gesellschaft und ihrer Konsumtempel als "Fata Morgana" und der Topos kosmischer Interdependenz.
Die ökologisch angehauchte Erzählung "Die essbare Stadt" erzählt von der Suche nach dem "wilden" Tokio im gigantischen Stadt-Organismus. Die Erzählerin und Stadt-Streunerin Rina sucht in nostalgischer Kindheitserinnerung an die Berge Naganos in naturbelassenen Nischen der Großstadt nach essbaren Pflanzen. Wie eine Ladendiebin stibitzt sie Wildkräuter im Wadakura Fountain Park; Beifuß-Mochi oder als Kimpira gekochter Löwenzahn stehen auf ihrem Speiseplan.
Shintoistisch mutet die Beseeltheit auch der unbelebten Materie an, wenn surrende Getränkeautomaten an Geschöpfe des Waldes erinnern. Die investigativen Erkundungen Tokios sind auch ein Akt der Rückeroberung der von Sünden der Stadtplanung beschädigten Schöpfung.
Murata schreibt zugleich Außenseiterdramen und Inklusionsgeschichten. So zeigt ihre Erzählung "Puzzle" den Alltag einer Tokioter Angestellten aus der Sicht der sanftmütigen, bei ihren Kolleginnen beliebten Autistin Sanae. Es ist eine zarte Parabel auf die postmodernen bis unmenschlichen Milieus von Arbeitsmenschen als Organen von Organisationen.
Typisch für Muratas Prosa sind denn auch fließende Grenzen zwischen Organischem und Anorganischem, Mensch und Materialität (Sanae hat das Gefühl, "ein Gehäuse zu sein", und empfindet ihren Körper als "Betonbehälter" ihrer Organe), Verwirrspiele von Innen- und Außenwelt: In Sanaes Kopf entsteht ein an Dalí erinnerndes surreales Bild von aus dem Firmengebäude herausquellenden Eingeweiden, die am nächsten Morgen in den bergenden Kokon des Betonkastens zurückkehren.
Die Erzählung "Ausgebrütet" erzählt am Beispiel ihrer Heldin von Fake Love und Verstellung im Ringen nach Anerkennung. Die von Modediktat und Optimierungswahn gesteuerte Protagonistin camoufliert ihre Angst, dass sich hinter ihrer Maske niemand verbirgt. Sayaka Murata überzeugt wieder einmal im spielerischen Entlarven solcher gesellschaftlichen Maskenspiele und im Aufzeigen von Notausgängen aus den eingeschliffenen Routinen des ganz normalen Alltagswahnsinns. STEFFEN GNAM
Sayaka Murata: "Zeremonie des Lebens". Storys.
Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag, Berlin 2022. 286 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main