Über das Erinnern, das Vergessen und die Sorge davor, aus Fehlern der Geschichte nicht gelernt zu haben. Sie hatte ihr Leben dem Lesen und Schreiben gewidmet. Doch plötzlich zerbricht alles um sie herum, eine Diktatur breitet sich aus, das Schreiben wird unmöglich. Ihre einzige Ausdrucksmöglichkeit findet die Erzählerin in einem rätselhaft bleibenden "Soundblog". Mysteriöse, beängstigende und philosophische Gedanken beschäftigen sie: Die neue Macht zerstört nach und nach auf heimtückische Weise jede Erinnerung und versucht, alle Spuren der Geschichte zu löschen. Wann und wie hat dieser Umbruch stattgefunden? Gab es Warnsignale? Ist sie selbst schuld daran, dass die Dinge geschehen? Wollte sie sich nicht aus der Vergangenheit befreien? Cécile Wajsbrot beschreibt in ihrem sprachmächtigen Roman auf beeindruckende und erschreckende Weise die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte. In einer innovativen ästhetischen Form beschäftigt sie sich mit der deutsch-französischen Erinnerungskultur.
buecher-magazin.deSchon der Einstieg in dieses Protokoll einer Frau, deren gewohntes freies, kulturell reiches Leben zerstört wird, ist mitreißend: Quasi über Nacht wird die Welt eine andere, nichts ist mehr, wie es war. Was bleibt, ist Verwirrung, Fassungslosigkeit, der Traum von dem, was gestern war. Der Roman beginnt mit dem Gleichnis einer Sonnenfinsternis und sondiert darauf den Zustand des sich Wiederfindens in einer Welt, die dem Ungewissen entgegentreibt. Die Erzählerin berichtet aus dem Exil in Berlin über die plötzliche Machtübernahme eines populistisch-totalitären Regimes in Frankreich. Die verstörte, verunsicherte Stimmung, die hier erzählerisch heraufbeschworen wird, gleicht streckenweise dem Ausnahmezustand, den wir gerade durch die Corona-Krise durchleben. Wobei hier nicht ein Virus, sondern eine Diktatur die gesellschaftliche Ordnung zerstört – was düsteren menschlichen Eigenschaften den Vormarsch ermöglicht. Wajsbrot, Tochter polnischer Juden, hat als Lehrerin, Journalistin und Literaturübersetzerin gearbeitet und schreibend bisher überwiegend die Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern, die Shoah, verarbeitet. Heute lebt die 65-Jährige als freie Autorin in Paris und Berlin.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2020Das Ende der Zukunft
Cécile Wajsbrots Roman „Zerstörung“ erschien in Frankreich schon vor
einem Jahr, hat aber zur Corona-Krise verblüffend viel zu sagen
VON HILMAR KLUTE
Es geschieht in diesen Tagen gelegentlich, dass bestimmte Romane überraschende Bedeutungszuwächse erfahren, weil sie – zwangsläufig – im Inneren der Corona-Krise gelesen werden. Leselisten gehen von Hand zu Hand, zumeist enthalten sie die immer gleichen Empfehlungen von Werken der Klassik oder der klassischen Moderne, in denen um sich greifende Epidemien eine Gesellschaft zerstören, verändern oder zu Modellen einer besonderen Bewusstseinsgestaltung geraten lassen. Die Gesellschaften, von denen diese Bücher handeln, haben mit unserer gegenwärtigen wenig zu tun, denn ihnen fehlen noch die Instrumente zur Messung zivilisatorischen Lebens, die Bewegungsapps und andere digitale Zugriffe auf das Private.
In einer mit den Mitteln der Einmischung und Überwachung überreich ausgestatteten Gesellschaft wie der unseren liegt die Vorstellung eines Regimes, das diese Mittel zu einer Art diktatorischer Machtübernahme nutzt, nahe. Die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot hat in ihrem 2019 in Frankreich veröffentlichten, nun in deutscher Übersetzung erschienen Roman „Zerstörung“ eine solche Möglichkeit in einer besonders bedrückenden, weil an die Wurzeln unserer kulturellen Identitäten rührenden Parabel durchgespielt.
Die 40 Jahre alte Frau, von der wir die Geschichte einer allmählichen Verdunkelung des öffentlichen Lebens erzählt bekommen, lebt vom Lesen und vom Schreiben – ein Umstand, den sich ein in Personen nicht greifbares finsteres Regime, das Frankreich seiner manipulativen Gewalt unterworfen hat, zunutze macht. Die Frau ist angehalten, einen sogenannten „Sound-Blog“ zu verfassen. Nacht für Nacht erzählt sie also vom Schwinden der Freiheit. Die neuen Machthaber, unsichtbar wie das Coronavirus, räumen nach und nach den Grundbestand der Zivilgesellschaft ab. Sie nehmen Bilder und Familienalben mit, demontieren Gedenktafeln, die an historische Ereignisse oder Personen erinnern, entfernen die Bücher aus den Regalen. Alles, was älter als zehn Jahre ist, muss verschwinden. An die Stelle der Kunstwerke, Filme und literarischen Texte, die auf differenzierte Art von der Wirklichkeit zeugen, rückt wertlose Unterhaltungsware: „Das Verkaufs- und Besucher-Ranking ist die einzig gültige ästhetische Richtlinie.“ Autorität hat im Zusammenspiel mit einem komplett entseelten Kapitalismus jeden Distinktionswert dem kalt berechneten Plan, alle guten Errungenschaften der Menschheit zu vergessen, untergeordnet.
Cécile Wajsbrot erzählt die Geschichte einer kulturellen Auslöschung. Die neuen Autoritäten müssen irgendwie erkannt haben, dass die innere Kraft einer Gesellschaft auf dem glücklichen Zusammenspiel ihrer Soft Skills beruht. Auch wenn „Zerstörung“ alles andere als ein Paris-Roman ist, dient der legendäre Hedonismus dieser Stadt, dient die unablässige Beschwörung ihrer geschichtlichen Größe, ihrer literarischen Schätze und kunstgeschichtlichen Adressen als höchster Messpunkt der Fallhöhe: Nur an einem Ort, wo soviel Schönes und Wahres zu Hause ist, kann ein destruktives Regime seinen kraftvollen Vernichtungsschlag ausführen.
Somit ist Cécile Wajsbrots Roman auch eine Übung in Zivilisationskritik. In der relativen Sorglosigkeit der westlichen Gesellschaften, die selbst große blutige Ereignisse wie den islamistischen Terror nicht erschüttern konnte, schlummert bereits der düstere Wendepunkt. „Die Leichtigkeit drohte das große Übel des Jahrhunderts zu werden, und plötzlich haben uns die Ereignisse in großen Ernst gestürzt.“ Wenn man der Moralistin Wajsbrot richtig zugehört hat, ahnt man: Ihr Roman, ein Jahr vor Corona erschienen, ist ein allegorischer Weckruf an die komplett übersteuerten Gesellschaften, sich nicht allzu sicher zu fühlen.
Eine unmittelbare Folge des Regimewechsels ist die menschenlose Stadt, die große Leere, ihr ist in „Zerstörung“ ein eigenes Kapitel gewidmet: „Draußen herrscht Stille, als hätte jedermann jegliche Aktivität eingestellt und sich vor sein Radio- oder Fernsehgerät oder vor einen Bildschirm verzogen.“ Und noch eine Ungewissheit gibt es, nämlich die Dauer. „Ich möchte an das Vorübergehende unserer Lage glauben“, sagt die Erzählerin und weiß doch, dass es auf einen ganz anderen Zustand hinausläuft: „Das Ende einer Welt ohne den Anfang einer anderen.“
Cécile Wajsbrot ist eine kluge und behutsame Erzählerin des subtilen Schreckens und der schleichenden Grausamkeit einer von Fantasien und Erinnerungen verpixelten Welterfahrung. In ihrem vorangegangenen Roman „Eclipse“ schrieb sie Liedern und Fotografien eine hohe Vergegenwärtigungsmacht zu. In „Zerstörung“ wendet sich diese Kraft ins Gegenteil. Denn auf die Verbannung von Literatur und Kunst aus dem öffentlichen Raum folgt zunächst die Zersetzung der Seele, schließlich die Zerstörung der menschlichen Existenz.
Immer wieder beschwört Wajsbrot die Wirkmacht großer Texte: Platons Höhlengleichnis, Stifters erschrockene Observation der Sonnenfinsternis von 1842, die Gedichte der im Gulag zugrunde gegangenen Marina Zwetajewa bis hin zu Lukrez großem Gedicht „Über die Natur der Dinge“, das, im ersten Jahrhundert vor Christus geschrieben, doch erst in der Renaissance zu kulturphilosophischer Geltung kam. In diesem Sinn weist Wajsbrots an Referenzen und Anspielungen reicher Roman, den Anne Weber in ein magisch-kühles Deutsch gebracht hat, in eine Zukunft, die wir im Augenblick vielleicht schon in Teilen als Gegenwart zu kennen glauben.
Cécile Wajsbrot: Zerstörung Roman. Aus dem Französischen von Anne Weber. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 229 Seiten, 20 Euro.
Die Zukunft, die hier skizziert
wird, erkennen wir
schon jetzt in unserer Gegenwart
Von der Wirkmacht großer Texte: die Schriftstellerin Cécile Wajsbrot.
Foto: imago images / gezett
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Cécile Wajsbrots Roman „Zerstörung“ erschien in Frankreich schon vor
einem Jahr, hat aber zur Corona-Krise verblüffend viel zu sagen
VON HILMAR KLUTE
Es geschieht in diesen Tagen gelegentlich, dass bestimmte Romane überraschende Bedeutungszuwächse erfahren, weil sie – zwangsläufig – im Inneren der Corona-Krise gelesen werden. Leselisten gehen von Hand zu Hand, zumeist enthalten sie die immer gleichen Empfehlungen von Werken der Klassik oder der klassischen Moderne, in denen um sich greifende Epidemien eine Gesellschaft zerstören, verändern oder zu Modellen einer besonderen Bewusstseinsgestaltung geraten lassen. Die Gesellschaften, von denen diese Bücher handeln, haben mit unserer gegenwärtigen wenig zu tun, denn ihnen fehlen noch die Instrumente zur Messung zivilisatorischen Lebens, die Bewegungsapps und andere digitale Zugriffe auf das Private.
In einer mit den Mitteln der Einmischung und Überwachung überreich ausgestatteten Gesellschaft wie der unseren liegt die Vorstellung eines Regimes, das diese Mittel zu einer Art diktatorischer Machtübernahme nutzt, nahe. Die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot hat in ihrem 2019 in Frankreich veröffentlichten, nun in deutscher Übersetzung erschienen Roman „Zerstörung“ eine solche Möglichkeit in einer besonders bedrückenden, weil an die Wurzeln unserer kulturellen Identitäten rührenden Parabel durchgespielt.
Die 40 Jahre alte Frau, von der wir die Geschichte einer allmählichen Verdunkelung des öffentlichen Lebens erzählt bekommen, lebt vom Lesen und vom Schreiben – ein Umstand, den sich ein in Personen nicht greifbares finsteres Regime, das Frankreich seiner manipulativen Gewalt unterworfen hat, zunutze macht. Die Frau ist angehalten, einen sogenannten „Sound-Blog“ zu verfassen. Nacht für Nacht erzählt sie also vom Schwinden der Freiheit. Die neuen Machthaber, unsichtbar wie das Coronavirus, räumen nach und nach den Grundbestand der Zivilgesellschaft ab. Sie nehmen Bilder und Familienalben mit, demontieren Gedenktafeln, die an historische Ereignisse oder Personen erinnern, entfernen die Bücher aus den Regalen. Alles, was älter als zehn Jahre ist, muss verschwinden. An die Stelle der Kunstwerke, Filme und literarischen Texte, die auf differenzierte Art von der Wirklichkeit zeugen, rückt wertlose Unterhaltungsware: „Das Verkaufs- und Besucher-Ranking ist die einzig gültige ästhetische Richtlinie.“ Autorität hat im Zusammenspiel mit einem komplett entseelten Kapitalismus jeden Distinktionswert dem kalt berechneten Plan, alle guten Errungenschaften der Menschheit zu vergessen, untergeordnet.
Cécile Wajsbrot erzählt die Geschichte einer kulturellen Auslöschung. Die neuen Autoritäten müssen irgendwie erkannt haben, dass die innere Kraft einer Gesellschaft auf dem glücklichen Zusammenspiel ihrer Soft Skills beruht. Auch wenn „Zerstörung“ alles andere als ein Paris-Roman ist, dient der legendäre Hedonismus dieser Stadt, dient die unablässige Beschwörung ihrer geschichtlichen Größe, ihrer literarischen Schätze und kunstgeschichtlichen Adressen als höchster Messpunkt der Fallhöhe: Nur an einem Ort, wo soviel Schönes und Wahres zu Hause ist, kann ein destruktives Regime seinen kraftvollen Vernichtungsschlag ausführen.
Somit ist Cécile Wajsbrots Roman auch eine Übung in Zivilisationskritik. In der relativen Sorglosigkeit der westlichen Gesellschaften, die selbst große blutige Ereignisse wie den islamistischen Terror nicht erschüttern konnte, schlummert bereits der düstere Wendepunkt. „Die Leichtigkeit drohte das große Übel des Jahrhunderts zu werden, und plötzlich haben uns die Ereignisse in großen Ernst gestürzt.“ Wenn man der Moralistin Wajsbrot richtig zugehört hat, ahnt man: Ihr Roman, ein Jahr vor Corona erschienen, ist ein allegorischer Weckruf an die komplett übersteuerten Gesellschaften, sich nicht allzu sicher zu fühlen.
Eine unmittelbare Folge des Regimewechsels ist die menschenlose Stadt, die große Leere, ihr ist in „Zerstörung“ ein eigenes Kapitel gewidmet: „Draußen herrscht Stille, als hätte jedermann jegliche Aktivität eingestellt und sich vor sein Radio- oder Fernsehgerät oder vor einen Bildschirm verzogen.“ Und noch eine Ungewissheit gibt es, nämlich die Dauer. „Ich möchte an das Vorübergehende unserer Lage glauben“, sagt die Erzählerin und weiß doch, dass es auf einen ganz anderen Zustand hinausläuft: „Das Ende einer Welt ohne den Anfang einer anderen.“
Cécile Wajsbrot ist eine kluge und behutsame Erzählerin des subtilen Schreckens und der schleichenden Grausamkeit einer von Fantasien und Erinnerungen verpixelten Welterfahrung. In ihrem vorangegangenen Roman „Eclipse“ schrieb sie Liedern und Fotografien eine hohe Vergegenwärtigungsmacht zu. In „Zerstörung“ wendet sich diese Kraft ins Gegenteil. Denn auf die Verbannung von Literatur und Kunst aus dem öffentlichen Raum folgt zunächst die Zersetzung der Seele, schließlich die Zerstörung der menschlichen Existenz.
Immer wieder beschwört Wajsbrot die Wirkmacht großer Texte: Platons Höhlengleichnis, Stifters erschrockene Observation der Sonnenfinsternis von 1842, die Gedichte der im Gulag zugrunde gegangenen Marina Zwetajewa bis hin zu Lukrez großem Gedicht „Über die Natur der Dinge“, das, im ersten Jahrhundert vor Christus geschrieben, doch erst in der Renaissance zu kulturphilosophischer Geltung kam. In diesem Sinn weist Wajsbrots an Referenzen und Anspielungen reicher Roman, den Anne Weber in ein magisch-kühles Deutsch gebracht hat, in eine Zukunft, die wir im Augenblick vielleicht schon in Teilen als Gegenwart zu kennen glauben.
Cécile Wajsbrot: Zerstörung Roman. Aus dem Französischen von Anne Weber. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 229 Seiten, 20 Euro.
Die Zukunft, die hier skizziert
wird, erkennen wir
schon jetzt in unserer Gegenwart
Von der Wirkmacht großer Texte: die Schriftstellerin Cécile Wajsbrot.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Cornelia Geißler ahnt, dass der Zukunftsentwurf von Cecile Wajsbrot eine Möglichkeit unseres Daseins ist, die es zu verhindern gilt. Um Überwachung und geistige Verarmung kreist die von einem Schriftsteller-Ich erzählte Geschichte laut Geißler. Dass die dunkle Instanz nicht näher benannt wird, ebenso die genaue Zeit der Dystopie, stört Geißler nicht. Wie Bücher und sogar Worte Schritt für Schritt verboten werden, beschreibt Wajsbrot in "suchenden Sätzen", die die Rezensentin unversehens mit einer leicht verschobenen Wirklichkeit konfrontieren. Diese Herausforderung an die eigene Wahrnehmung nimmt Geißler gebannt an, auch wenn dieser Weltentwurf recht ungemütlich daherkommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein großartiges Buch über Ratlosigkeit, Hoffnung, Skepsis und Erinnerung. Kurz: ein Buch, dass uns die Gefahren und Möglichkeiten des (unzuverlässigen) Erzählens vorführt.« (Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt) Literaturblog »Trouvailles littéraires«