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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Fotografin auf der Flucht vor sich selbst: Sandra Gugic ist in ihrem Roman "Zorn und Stille" der jugoslawischen Katastrophe auf der Spur
Vom possierlichen Nagetier auf dem Schutzumschlag sollte man sich nicht täuschen lassen. Sandra Gugic erzählt in "Zorn und Stille", wie die jugoslawischen Kriege eine serbische Familie in Wien zerreißen. Blut aber fließt in diesem Roman nur einmal: als ein weißer Hase überfahren wird und sein Leben in einer roten Lache aushaucht. Ansonsten meidet Gugic die starken Farben und schrillen Töne. Statt des Blutes, das in den Kriegen vergossen worden ist, fließt die schwarze Galle des Nachkriegs durch ihr Buch. Wütend und melancholisch resümiert es schmerzhafte Verluste und versucht einen letzten Abschied: den von der Überzeugung, im Besitz der einen Wahrheit zu sein.
Verluste gibt es genug. Der Vater ist gestorben, und die Tochter fliegt 2016 nach Belgrad zum Begräbnis. Diese Biljana Banadinovic ist in Wien aufgewachsen, die Eltern waren in den siebziger Jahren aus Jugoslawien nach Österreich ausgewandert. Ihnen hatte sich Biljana vor mehr als zwanzig Jahren als noch Minderjährige entzogen. Sie lebte in einem besetzten Haus und verliebte sich in eine schöne Punkerin. Aus Ira Goldfarb wurde eine umtriebige Galeristin, der Biljana eine Karriere als international bekannte Fotografin und den Künstlernamen Billy Bana verdankt. Doch hält es die Fotografin nirgendwo lange aus, nicht einmal bei der geliebten Ira, und weiß nicht recht, warum.
Auf den harschen Kontaktabbruch ihrer Tochter reagieren die hart arbeitenden und durch das fremde Land ohnehin verunsicherten Eltern voller Scham und ratlos; der jüngere Bruder Jonas verliert allen Halt. Dem Zerfall der Familie ist die Struktur des Romans nachgebildet: In "Billy, September 2016", dem ersten von vier Teilen, erzählt die Fotografin von der Kindheit, vom lebenslangen Wunsch, jeder Festlegung als Serbin, Migrantin oder Frau zu entkommen, und vom geliebten Bruder Jonas. Er erscheint überraschend in Wien bei Biljana und Ira, um dann allein zu einer Reise in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens aufzubrechen. Im zweiten und dritten Romanteil schildert Biljana das Leben ihrer Eltern Azra und Sima. Der vierte Teil ist dem auf der Reise spurlos verschwundenen Bruder gewidmet. Jonas' Ende bleibt ein Rätsel, doch seine Aufzeichnungen entlasten Biljana von Schuldgefühlen. "Du hast gesagt, wir leben alle in unserer eigenen Version der Wahrheit", schreibt der Bruder und folgert, auch die Schwester habe nicht immer recht. Biljanas Position wird relativiert, und sie sieht plötzlich ein weißes Blatt Papier vor sich.
"Zorn und Stille" ist ein Roman über Abnabelung, Ankommen und Vergessen, ein Bildungsroman und ein Migrationsroman. Sandra Gugic teilt mit ihrer Protagonistin das Lebensalter und die Übersiedlung der Eltern aus Serbien nach Wien in den Siebzigern. Allerdings nimmt das vorsichtig versöhnliche Ende, so erfreulich es in lebensweltlicher Hinsicht ist, dem Roman seinen schwarzgalligen Säurekern. Die ersten hundert Seiten geben einen faszinierenden Einblick in das beschädigte Leben einer Fotografin auf der Flucht vor sich selbst. Die folgenden Teile, in denen Biljana versucht, Mutter, Vater und Bruder zu verstehen, warten mit starken Passagen auf, doch die Intensität lässt nach. Auch die Wahrscheinlichkeit: Wie viel kann eine Tochter, die früh im Streit von den Eltern schied und sie danach nur noch ein-, zweimal traf, von ihnen wissen?
Die jugoslawischen Kriege sind das leere Zentrum des Romans. Auch in Wien erzeugt die Propaganda Fronten. Biljana, "noch ein halbes Kind", wird am Telefon von Fremden gefragt: "Seid ihr Serben oder Kroaten?" Doch das Gift der Propaganda bleibt im Buch ohne Biss. Dass die Eltern plötzlich als Serben empfinden, während die in Österreich aufgewachsene Tochter kollektive Identität zurückweist, wird nur angedeutet. Auch die Stellen, an denen Biljana das Leben der Eltern schildert, erhellen die Konflikte nicht.
Die Auffassung einer bloß individuellen, von der jeweiligen Perspektive abhängigen Wahrheit ist intellektuell wenig überzeugend, wohl aber als innerfamiliäres Friedensangebot verständlich. Wie schwer der radikale Konstruktivismus gleichwohl errungen ist, zeigt nicht nur ein Blick auf den Balkan - auch der Vergleich mit einem Roman, der ebenfalls in Wien entstanden ist, dessen Protagonist ebenfalls zum Begräbnis des Vaters nach Belgrad reist und dessen Verfasser ebenfalls ein Kind nach Österreich ausgewanderter Serben ist: Marko Dinic hat mit "Die guten Tage" eine wütende Suada über dumpf-nationalistische Serben im "Gastarbeiter-Express" verfasst, an der Thomas Bernhard seine Freude gehabt hätte. Dinic scheidet tapfer das Eigene vom Fremden, bezahlt für die rhetorische Kraftübung freilich mit einem surrealen, ins Nichts führenden Ende. Sandra Gugic hat es sich nicht so leichtgemacht. Ihr Buch ist stiller, jedoch nicht ohne Zorn. Und der Fotografin gibt sie ein beeindruckend düsteres Leuchten.
JÖRG PLATH
Sandra Gugic: "Zorn und Stille". Roman.
Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2020. 240 S., geb., 24,- [Euro].
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