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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Ossi zu Gast bei Wessis: Ingo Schulze liefert Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet, beobachtet sich dabei selbst und sucht Helden der Wirklichkeit.
Metropolenschreiber Ruhr": Das klingt etwas hochtrabend für einen Ballungsraum, an dem Rost und Kohlenstaub haften, doch das "Projekt", 2017 von der Brost-Stiftung eingerichtet, hat sich etabliert. Neun Autoren wurde die Auszeichnung, die zu einem üppig dotierten Aufenthalt in Mülheim an der Ruhr einlädt, bisher zuteil, und auch wenn der eine oder andere mit dem Titel fremdelte, ist eine illustre Stafette entstanden, die mit jeder Stabübernahme die Blickrichtung ändert.
Ingo Schulze war der Siebte in dieser Reihe und, geboren 1962 in Dresden, der erste Ostdeutsche. Von Oktober 2022 bis März 2023 "zu Gast im Westen", hat er unter diesem Titel nun, ein knappes Jahr später, ein Buch vorgelegt. So eine schnelle Rendite ist nicht die Regel, doch auch zwei seiner Vorgänger hatten ähnlich früh, wenn auch mit nur etwa halb so vielen Seiten, "zurückgezahlt": Wolfram Eilenberger mit "Versuch einer Liebeserklärung" (F.A.Z. vom 8. Oktober 2021) und Per Leo mit dem geschichtsphilosophischen Essay "Noch nicht mehr" (F.A.Z. vom 8. November 2023).
Ingo Schulze macht etwas anderes, Näherliegendes: Er stellt sich der Wirklichkeit und beschreibt sie. "Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen", erklärt er seine "Methode". Gast zu sein, versteht er als Privileg, als Angebot, zuzuhören, nachzufragen, zu beobachten und, indem er davon erzählt, seiner Arbeit nachzugehen: "Fast jeden Tag bin ich unterwegs." Der Autor kennt die Region von Lesereisen her, aber "im Westen gelebt hatte ich zuvor noch nie". So hat er einen Blick von außen, aber auch die Angewohnheit zu vergleichen. Im Prolog "Neu in Mülheim-Broich" versucht er, sich die temporäre Lebensumwelt, vom Lichtschalter in seiner "stattlichen Doppelhaushälfte" bis zum Supermarkt in der "Broicher Mitte", schrittweise anzueignen. Zentrale Themen des Ruhrgebiets werden da schon angesprochen: Zuwanderung, Integration, Strukturwandel, fließende Stadtgrenzen, Siedlungsbrei, Wohlstandsgefälle, ÖPNV, Fußball.
Die Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet bewegen sich zwischen den Genres und sind so etwas wie journalistische Erzählungen: Einerseits erfindet Schulze nichts (hinzu), andererseits beobachtet er sich in seiner Rolle. Oft genügt ein äußerer Anlass, um einen Faden aufzunehmen und fortzuspinnen: Ein Konzert im Alfried-Krupp-Saal der Essener Philharmonie führt zum Namensgeber, dann in die Villa Hügel und zur Geschichte des Unternehmens, zu dessen Rolle in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, dem letzten Erben Arndt von Bohlen und Halbach, der Stiftung unter Berthold Beitz und dessen Ostpolitik und weiter zum Arbeitskampf in Rheinhausen, dem Duisburger Hafen, dessen Manager Erich Staake und der Zugverbindung nach China bis nach Ruhrort, zu Franz Haniel und der Dichterin Barbara Köhler - ein Fluss von Geschichten, der munter mäandert, bis er im "Rheinorange" des Abendhimmels glänzt. Dann sitzt Schulze noch einmal im Alfried-Krupp-Saal, nun in einer Ecke der Orchesterbühne, um eine Innenansicht des Klangkörpers zu geben und das Publikum von vorne zu beobachten: "Betrachtungen eines musikalischen Dilettanten".
Was Schulze mitbringt, sind Offenheit, Humor und sein schwarz-gelbes Trikot - das Ruhrgebiet springt darauf an: "Dat is hier so, wir sagen du." Wenn ihm ein gleichaltriger Landsmann aus Leipzig von seiner abenteuerlichen Flucht im Juli 1989 über Budapest in den Westen erzählt, dann wird eine deutsch-deutsche Momentaufnahme daraus; wenn er neben dem Polizeipräsidenten a. D. das "Risikospiel" Rot-Weiss Essen gegen den Halleschen FC verfolgt, absolviert er einen Schnellkurs über Clankriminalität; wenn er sich vom Seniorchef eines Sanitärbetriebs durch Gelsenkirchen chauffieren lässt, gerät das zu einer Zeitreise durch die Wirtschaftswunder- und Kohlenkrisenjahre der Stadt, deren Scheitelpunkt das Theater mit den "blauen Dingern" von Yves Klein markiert. Und wenn er anschließend auf Schalke-Tour geht, lernt er zwischen St. Joseph und der Kampfbahn Glückauf den irischen Bergbauingenieur Thomas William Mulvany und eine moderne Interpretation des Schalker Kreisels kennen. Schulze belässt es nicht bei Anekdoten.
In der Buchhandlung, die ein Flugbegleiter der Lufthansa in Essen-Holsterhausen eröffnet hat, begegnet Schulze dem Juristen der Wasserwerke Mülheim, der mit ihm zum Wasserturm Aquarius radelt und ihn an die Emscherkläranlage Bottrop vermittelt. In der nächsten Buchhandlung in Kettwig ruft ein Wilhelm-von-Kügelgen-Abend Erinnerungen an seine Anfänge als Autor auf, und in der "Weltbühne" in Duisburg-Neudorf, der "letzten linken Buchhandlung weit und breit", deckt er sich mit Büchern ein, von "denen ich gar nicht wusste, dass ich sie gesucht habe". Mit einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten trifft er sich in Dortmund-Hörde, wo das Stahlwerk Phoenix-Ost für ein Villenviertel am See abgeräumt wurde, und zeichnet den Werdegang des nonkonformen Politikers nach, der sich gegen das Partei-Establishment durchgesetzt und schließlich "keinen anderen Weg mehr gesehen hat, als aus der SPD auszutreten".
So geht es kreuz und quer. Schulze nimmt das Ruhrgebiet, wie es kommt. Reportage, Porträt, Stadterkundung, Ortsbesichtigung, Lektüreeindrücke, Essay, Theaterkritik - manches ist durchkomponiert, anderes schnell heruntergeschrieben. Zwei herausragende unter den neunzehn Texten berichten von Schulen in sozialen Brennpunkten, die sich als Leuchttürme der Bildungsgerechtigkeit erweisen: die "Grundschule im Dichterviertel" in Mülheim, mit der sich ihre Leiterin die "kaputteste Schule weit und breit ausgesucht" und sie so neu konzipiert hat, dass sie "unter die fünf besten Schulen Deutschlands" gewählt wurde, und die Gemeinschaftsgrundschule Sandstraße in Duisburg-Marxloh, wo neunzig Prozent der Erstklässler aus prekären und instabilen Familien kommen, kaum Deutsch sprechen und über Musik- und Tanzunterricht (Schönberg, Bartók, Ligeti) an das Lernen und die Sprache herangeführt werden.
Die Dramaturgie des Aufenthalts und des Buches setzt den Ausflug nach Marxloh, dem "einzigen Ort im Ruhrgebiet, vor dem ich eindringlich gewarnt wurde", an den Schluss. "Es wäre mir auch nicht schwergefallen, weitere sechs Monate oder gar sechs Jahre damit zuzubringen, das Ruhrgebiet besser kennenzulernen", schreibt Schulze im Epilog. Die Helden der Wirklichkeit, die er jenseits der Skyline aus aufgereihten Wahrzeichen, die den Buchumschlag ziert, erkundet, heißen nicht Beitz oder Staake, nicht Willy "Ente" Lippens, Mesut Özil oder Kloppo, die auch vorkommen, sondern Nicola Küppers und Klaus Hagge. Starke Persönlichkeiten einer vielfältigen Region. Ruhrgebiet eben. ANDREAS ROSSMANN
Ingo Schulze: "Zu Gast im Westen". Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2024. 344 S., geb., 24,- Euro.
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