Zündkerzen ist eine Sammlung von 83 Gedichten in den unterschiedlichsten Formen, variierend in kurzen und langen Zeilen. Es sind Traumstücke, Redepartikel, Prosagedichte, zerbrochene Sonette, Sequenzen wie aus Unfallprotokollen. Jedes dieser Stücke entzündet sein eigenes Leuchten, seine kleine oder größere Epiphanie. Hier schreibt ein Dichter, der keiner Schule angehört, keiner modischen Strömung – ein Beobachter des Realen, neugierig auf die diesseitigen Dinge, hellwach für ihr Verschwinden.
Zwei Langgedichte ziehen mächtige Stützpfeiler in die Struktur der Sammlung – reine Anschauung einer südlichen Metropole: Das Photopoem, Elegie vom musealen Leben: Die Massive des Schlafs. Es gibt Liebesgedichte, erotisch direkt, ebenso wie Momente der Verlusterfahrung als Demontage der Sonettform. Ein Gedichtzyklus über die Pinie nähert sich reiner Lautmusik und wird zum Verbarium, in dem die Buchstaben tanzen.
Zündkerzen sind Dinge, keine Ideen und erst recht keine Konzepte.
Zwei Langgedichte ziehen mächtige Stützpfeiler in die Struktur der Sammlung – reine Anschauung einer südlichen Metropole: Das Photopoem, Elegie vom musealen Leben: Die Massive des Schlafs. Es gibt Liebesgedichte, erotisch direkt, ebenso wie Momente der Verlusterfahrung als Demontage der Sonettform. Ein Gedichtzyklus über die Pinie nähert sich reiner Lautmusik und wird zum Verbarium, in dem die Buchstaben tanzen.
Zündkerzen sind Dinge, keine Ideen und erst recht keine Konzepte.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Michael Braun kommt nicht umhin, in den Chor der gähnenden Kritiker einzustimmen und das, obwohl er sich vorgenommen hatte, unvoreingenommen zu lesen. Wenig, eigentlich gar nichts vom "kühnen Schwung" vergangener Tage, vergangener Dichtung Grünbeins ist mehr übrig. Die Gedichte in seinem inzwischen 17. Band sind deutlich beklommener, kleinmütiger und einfacher, teilweise so einfach, dass sie die plattesten "bildungstheoretischen Gemeinplätze" bespielen, so der enttäuschte Rezensent. Wie schon zuvor schöpft Grünbein in "Zündkerzen" zumeist aus dem Motiv-Pool der römischen Antike, lesen wir. Die Verse, die er dort herauszieht und nebeneinanderstellt, manchmal in, wie er findet, recht hölzernen Reimen, erscheinen jedoch leider nicht zeitlos im positiven Sinne, sondern einfach unzeitgemäß, abgedroschen im schlechtesten Sinne. Ein paar wenige Zeilen in einzelnen Gedichten erinnern noch an die Energie, die Stärke, die "Weltaneignungsgeschicklichkeit", die Grünbeins Lyrik einmal ausstrahlte - doch sie machen den Verlust nur noch deutlicher, klagt der unzufriedene Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2018Die Erfindung des
„lyrischen Man“
In seinem Gedichtband „Zündkerzen“ umkreist
Durs Grünbein den Konflikt von Lyrik und Leben
VON HANS-HERBERT RÄKEL
Die 83 Gedichte in Durs Grünbeins neuer Sammlung „Zündkerzen“ lassen sich nicht unbefangen lesen. Denn in jedem von ihnen tritt ein Dichter auf, der seit seinem ersten spektakulären Auftritt vor drei Jahrzehnten ununterbrochen im Rampenlicht der literarischen Öffentlichkeit stand. Er weiß das. Er weiß auch, dass seine Leser das wissen. Und er macht dieses doppelte Wissen zum Gegenstand seiner Dichtung. Seine poetologisch-biografischen Schriften haben deswegen dieselben Wurzeln wie seine Poesie. Sie werden zu deren Spiegel. Manchmal stellen sie sich geradezu vor die Gedichte. Es ist, als ob der Biograf alles daransetzte, die von ihm entlassenen Gedichte im Netz seiner Prosa wieder einzuholen – und umgekehrt, in der lyrischen Form immer wieder das Biografische geltend zu machen.
Durs Grünbein reflektiert fortwährend sein Schreiben, auch und gerade beim Verfassen von Gedichten: „Damals widerfuhr mir, was noch jeder Dichter mit Stolz und Verwunderung seine Stimme finden genannt hat“: Es ist die „Poetik des Sarkasmus, wie sie mir seit meinen frühesten Schreibversuchen den Ton diktiert“. Eine solche Poetik muss alles Poetische überschreiten. Im Sarkasmus tritt der Autor sozusagen neben sich. Er kann keinen Standpunkt einnehmen, von dem aus er einem lyrischen Ich seinen Horizont hätte zeigen können. Oder anders gesagt: Durs Grünbein erfand sich als den Dichter des „lyrischen Man“.
Eine Zündkerze ist dazu da, kontrollierte Explosionen auszulösen – keine schlechte Metapher für ein Gedicht! Aber sie leuchten nicht, außer in der Ankündigung im Suhrkamp-Bändchen mit diesem Titel: „Jedes dieser Stücke entzündet sein eigenes Leuchten, seine größere oder kleinere Epiphanie“. Es erscheint, als hätte der Verlag seinen Dichter lieber erbaulich. Die Gedichte des jüngsten Bandes, wohl alle nach „Koloss im Nebel“ (2012) entstanden, bilden indessen eine bunte Sammlung, behutsam in acht Abteilungen gegliedert, von denen nur die sechste einen Titel trägt, eben „Zündkerzen“, was gewiss für alle anderen ebenso gut passt wie für diese.
Mit einer Beobachtung einer kleinen alltäglichen Szene beginnen mehrere Stücke dieser Sammlung: „Die Horde Spatzen im Straßengraben, beim Sonnenbad / In ihren Staubkuhlen, dichtgedrängt, Flügel zerzaust ...“. Hier erinnert die Horde Spatzen an die Kindheit, „wie wir als Kinder, Trolle der Pubertät, / Eigentlich Prinzen, / stundenlang auf dem Rücken lagen.“
In Durs Grünbeins Werk gibt es für diese Szene ein Pendant, in einem Gedicht über eine gekreuzigte Katze, das „die Fratze Kindheit“ beschwört (in der Sammlung „Erklärte Nacht“ aus dem Jahr 2011). Wie anders klingt das hier: Das Ich im „Wir“ ist nach vier Jahrzehnten auf du und du mit dem Ich von damals, paktiert mit ihm und ist stolz auf seine Ungezogenheit: „Weit zurückgelehnt auf den Fahrrädern, sausten wir / Freihändig die Landstraßen bergab, überglücklich / Bis zur letzten Todeskurve“. Für einen Augenblick sieht es so aus, als habe Durs Grünbein das „lyrische Man“ hinter sich gelassen. Es kommt in diesem Gedicht noch einmal vor und demonstriert, wie es das Ich abspaltet von der Person, die doch von sich spricht: „Man sprang dann auf, / War auf Beutezug ...“.
Das Gedicht evoziert und entwertet den Stachel von Grünbeins Dichten, Endlichkeit, Vergänglichkeit, Tod. Das gelingt durch die versgewordene Erinnerung: „All das war wieder da beim Anblick der Spatzen im Staub.“
Poetologisch gesehen ist das eine klassische Rundung, das Motiv des Anfangs wiederholt sich, wie in einer Melodie, als ihr befriedigender Schluss. Hier ist es zugleich mehr, die Geste des Autors, eine Erinnerung als ein Erleben in Besitz zu nehmen. Der Leser aber könnte auf den letzten Vers verzichten. Er ist für den Dichter wichtiger als für sein Publikum. Tritt er nicht aus dem Gedicht heraus, drückt er nicht vor allem sein Lebensgefühl, ein Glück aus, im Schreiben etwas erreicht zu haben? Die Präsenz des Autors im lyrischen Ich wird in dieser Sammlung ein akutes poetisches Problem. Davon zeugt nicht nur die Zurücknahme des „lyrischen Man“. Es zeigt sich auch daran, dass es keine Rollengedichte mehr gibt und dass die Antike in ihren musealen Spuren als Gegenwart erlebt wird. Das lange „Photopoem“ zum Beispiel reflektiert Rom als gegenwärtige Metropole, aber „verwüstet von Wiederkehr“, und veranlasst erstaunliche Verse wie diese: „Und so ist dieser Morgen ein Anfang. / Er besagt: Der heutige Tag / Wird ein Tag sein wie keiner zuvor.“
Durs Grünbein hat seit seinen Anfängen größte Aufmerksam auf den Vers verwandt. „Integral der Persönlichkeit“ nennt er ihn. Er bemerkt aber auch, dass diese Persönlichkeit im selben Moment darin „aufgehoben“ ist, ihrem Autor entgleitet, wenn der Text veröffentlicht und in ein Eigenleben entlassen ist.
Dieser Dichter aber versucht, den Verlust der Kontrolle über seine Geschöpfe zu mildern oder zu verhindern oder rückgängig zu machen. Dabei geht es nicht um Kunstverstand. Das Bedürfnis, im Gedicht stärker gegenwärtig zu bleiben, als das lyrische Ich zugesteht, ist selbst ein poetisches Thema.
Das Gedicht „Monatsblut“ drückt in kruden Motiven aus, „was für flüchtige Existenzen wir sind“, berührt uns aber mit seinem plötzlichen Schluss: „Bleib bei mir, hörst du? / Bitte bei mir bleiben. Ich halte es sonst nicht aus:“ – da steht kein Ausrufezeichen, sondern ein Doppelpunkt. Danach wird das „es“ mit der Stimme eines linken Kulturkritikers erklärt – und sabotiert: „Das Inferno des täglichen Terrors, den Triumph / Dieser Tauschwirtschaft, die alles trügerisch macht, / Alles in Produkte verwandelt, / Die Orte entleert.“
Extrem ist die Spannung zwischen dem lyrischen Ich und dem Dichter-Ich in „Pfingstrosen“. Wieder entzündet sich das poetische Interesse an einer kleinen Szene: „Es ist so still in der Wohnung, die Wände flimmern, / Die Stahlrohrmöbel brüten ein Geheimnis aus. / Verstummt sind im Regal die Bücher, sie hüten / Die Zeit der Toten, den Kontrapunkt zur Lebenszeit. / Es ist verteufelt still. Nur die Pfingstrosen schreien, / Ihre Blütenblätter – weit aufgerissene Kehlen.“ Ein paar Verse weiter: „Die SMS streicht durchs Haus, weckt Gespenster, / Tauscht sie mit den Lebenden aus, annulliert Ferne – / Macht jede Nähe im Raum virtuell. Es ist so still / In der Wohnung, während die Rosen verenden.“ Ein lyrisches Ich hat sich aufgebaut, es entwirft mit sicherem Griff poetische Bilder: die Bücher, welche die Zeit der Toten hüten, die schreienden Blüten, die geisterhafte SMS, die verendenden (Pfingst-) Rosen. Die Stimme, die hier spricht, ist elegisch und furchtsam.
Aber das ist nicht das ganze Gedicht. Mittendrin heißt es: „In ihrem Zimmer entdeckt die Teenager-Tochter / Gerade die Liebe. – Durex: Die leere Verpackung / Wird unters Bett gefegt. Sehnsucht, / Das sind im Augenblick ein paar schöne Worte / Wie hauchzart, gefühlsecht. / Knutschflecken / Markieren den Übergang ins Reale, vampirische Male.“
Der Dichter tritt aus seinem lyrischen Ich heraus, praktiziert seinen Übergang ins Reale. Er ist selber die Störung, bekommt biografische Realität, hat eine Teenager-Tochter, die auch schon in früheren Gedichten vorkam. Und der Dichter plaudert aus, was im Nebenzimmer mit der Durex-Packung geschieht. Abgesehen von der Verletzung einer Intimität, verübt er hier vor allem einen fast masochistischen Einbruch in sein Gedicht.
Es gibt andere Wege, dem Konflikt zwischen dem lyrischen und dem biografischen Ich einen Sinn und sogar ein Gedicht abzugewinnen. Durs Grünbein scheint sie fast systematisch auszuprobieren. Er tut es etwa im Gedicht „Sieben Pinien“, in dem er mit der konkreten Lyrik experimentiert. Er lässt sich vom Anlaut „P“ durch den Wortschatz führen. Er tut es auch in einem beinahe schon hermetischen Gedicht mit dem Titel „Kiosk am Meer“. Darin tritt ein Ich auf, das sich erinnert, aber fast absichtslos nicht alle Sätze, die es denkt, auch ausspricht. „Der Kiosk am Meer, das war sie“, und diese „sie“ ist das geheim bleibende Thema. Der Schluss imaginiert im „du“ vielleicht eine Person, gelesen wird er freilich vom „lyrischen Leser“ in uns: „Wenn du sie siehst, grüß sie von mir. Sag guten Tag.“
Es ist möglich, dass der Leser das Gedicht schöner findet als sein Autor, denn dieser kann nicht absehen von den Elementen, deren Fehlen hier ein poetisches Geheimnis schafft.
Das etwas längere Gedicht „Die Massive des Schlafs“ umkreist das Thema des traumlosen Tiefschlafs in reimlosen frei rhythmisierten Versen von vier bis sechs Hebungen. Es nimmt einen Gedanken auf, der schon in den Anfängen von Durs Grünbeins Dichten im Vordergrund stand, das Verhältnis von Körper und Bewusstsein. Reflexion und Imagination entfalten sich scheinbar spontan. Ein lyrisches „Wir“ macht die Leser zu Freunden dessen, der zu einer Meditation einlädt. Ohne selber Ich zu sagen, ist er immer ganz da. Nicht alles, was er meditiert, leuchtet ein. Aber man liest das Gedicht gern, und vom Konflikt zwischen lyrischem Ich und biografischem Ich ist hier fast nichts zu spüren.
Ein Dichter, der beim Dichten
immerzu neben sich tritt und
sich beim Dichten bedichtet
Manchmal werden die Verse
indiskret, manchmal scheinen sie
die Selbstbeschädigung zu wollen
Durs Grünbein beim Sommerfest des Literarischen Colloquiums Berlin Anfang September 2017.
Foto: imago/IPON
Durs Grünbein: Zündkerzen. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 152 S., 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
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„lyrischen Man“
In seinem Gedichtband „Zündkerzen“ umkreist
Durs Grünbein den Konflikt von Lyrik und Leben
VON HANS-HERBERT RÄKEL
Die 83 Gedichte in Durs Grünbeins neuer Sammlung „Zündkerzen“ lassen sich nicht unbefangen lesen. Denn in jedem von ihnen tritt ein Dichter auf, der seit seinem ersten spektakulären Auftritt vor drei Jahrzehnten ununterbrochen im Rampenlicht der literarischen Öffentlichkeit stand. Er weiß das. Er weiß auch, dass seine Leser das wissen. Und er macht dieses doppelte Wissen zum Gegenstand seiner Dichtung. Seine poetologisch-biografischen Schriften haben deswegen dieselben Wurzeln wie seine Poesie. Sie werden zu deren Spiegel. Manchmal stellen sie sich geradezu vor die Gedichte. Es ist, als ob der Biograf alles daransetzte, die von ihm entlassenen Gedichte im Netz seiner Prosa wieder einzuholen – und umgekehrt, in der lyrischen Form immer wieder das Biografische geltend zu machen.
Durs Grünbein reflektiert fortwährend sein Schreiben, auch und gerade beim Verfassen von Gedichten: „Damals widerfuhr mir, was noch jeder Dichter mit Stolz und Verwunderung seine Stimme finden genannt hat“: Es ist die „Poetik des Sarkasmus, wie sie mir seit meinen frühesten Schreibversuchen den Ton diktiert“. Eine solche Poetik muss alles Poetische überschreiten. Im Sarkasmus tritt der Autor sozusagen neben sich. Er kann keinen Standpunkt einnehmen, von dem aus er einem lyrischen Ich seinen Horizont hätte zeigen können. Oder anders gesagt: Durs Grünbein erfand sich als den Dichter des „lyrischen Man“.
Eine Zündkerze ist dazu da, kontrollierte Explosionen auszulösen – keine schlechte Metapher für ein Gedicht! Aber sie leuchten nicht, außer in der Ankündigung im Suhrkamp-Bändchen mit diesem Titel: „Jedes dieser Stücke entzündet sein eigenes Leuchten, seine größere oder kleinere Epiphanie“. Es erscheint, als hätte der Verlag seinen Dichter lieber erbaulich. Die Gedichte des jüngsten Bandes, wohl alle nach „Koloss im Nebel“ (2012) entstanden, bilden indessen eine bunte Sammlung, behutsam in acht Abteilungen gegliedert, von denen nur die sechste einen Titel trägt, eben „Zündkerzen“, was gewiss für alle anderen ebenso gut passt wie für diese.
Mit einer Beobachtung einer kleinen alltäglichen Szene beginnen mehrere Stücke dieser Sammlung: „Die Horde Spatzen im Straßengraben, beim Sonnenbad / In ihren Staubkuhlen, dichtgedrängt, Flügel zerzaust ...“. Hier erinnert die Horde Spatzen an die Kindheit, „wie wir als Kinder, Trolle der Pubertät, / Eigentlich Prinzen, / stundenlang auf dem Rücken lagen.“
In Durs Grünbeins Werk gibt es für diese Szene ein Pendant, in einem Gedicht über eine gekreuzigte Katze, das „die Fratze Kindheit“ beschwört (in der Sammlung „Erklärte Nacht“ aus dem Jahr 2011). Wie anders klingt das hier: Das Ich im „Wir“ ist nach vier Jahrzehnten auf du und du mit dem Ich von damals, paktiert mit ihm und ist stolz auf seine Ungezogenheit: „Weit zurückgelehnt auf den Fahrrädern, sausten wir / Freihändig die Landstraßen bergab, überglücklich / Bis zur letzten Todeskurve“. Für einen Augenblick sieht es so aus, als habe Durs Grünbein das „lyrische Man“ hinter sich gelassen. Es kommt in diesem Gedicht noch einmal vor und demonstriert, wie es das Ich abspaltet von der Person, die doch von sich spricht: „Man sprang dann auf, / War auf Beutezug ...“.
Das Gedicht evoziert und entwertet den Stachel von Grünbeins Dichten, Endlichkeit, Vergänglichkeit, Tod. Das gelingt durch die versgewordene Erinnerung: „All das war wieder da beim Anblick der Spatzen im Staub.“
Poetologisch gesehen ist das eine klassische Rundung, das Motiv des Anfangs wiederholt sich, wie in einer Melodie, als ihr befriedigender Schluss. Hier ist es zugleich mehr, die Geste des Autors, eine Erinnerung als ein Erleben in Besitz zu nehmen. Der Leser aber könnte auf den letzten Vers verzichten. Er ist für den Dichter wichtiger als für sein Publikum. Tritt er nicht aus dem Gedicht heraus, drückt er nicht vor allem sein Lebensgefühl, ein Glück aus, im Schreiben etwas erreicht zu haben? Die Präsenz des Autors im lyrischen Ich wird in dieser Sammlung ein akutes poetisches Problem. Davon zeugt nicht nur die Zurücknahme des „lyrischen Man“. Es zeigt sich auch daran, dass es keine Rollengedichte mehr gibt und dass die Antike in ihren musealen Spuren als Gegenwart erlebt wird. Das lange „Photopoem“ zum Beispiel reflektiert Rom als gegenwärtige Metropole, aber „verwüstet von Wiederkehr“, und veranlasst erstaunliche Verse wie diese: „Und so ist dieser Morgen ein Anfang. / Er besagt: Der heutige Tag / Wird ein Tag sein wie keiner zuvor.“
Durs Grünbein hat seit seinen Anfängen größte Aufmerksam auf den Vers verwandt. „Integral der Persönlichkeit“ nennt er ihn. Er bemerkt aber auch, dass diese Persönlichkeit im selben Moment darin „aufgehoben“ ist, ihrem Autor entgleitet, wenn der Text veröffentlicht und in ein Eigenleben entlassen ist.
Dieser Dichter aber versucht, den Verlust der Kontrolle über seine Geschöpfe zu mildern oder zu verhindern oder rückgängig zu machen. Dabei geht es nicht um Kunstverstand. Das Bedürfnis, im Gedicht stärker gegenwärtig zu bleiben, als das lyrische Ich zugesteht, ist selbst ein poetisches Thema.
Das Gedicht „Monatsblut“ drückt in kruden Motiven aus, „was für flüchtige Existenzen wir sind“, berührt uns aber mit seinem plötzlichen Schluss: „Bleib bei mir, hörst du? / Bitte bei mir bleiben. Ich halte es sonst nicht aus:“ – da steht kein Ausrufezeichen, sondern ein Doppelpunkt. Danach wird das „es“ mit der Stimme eines linken Kulturkritikers erklärt – und sabotiert: „Das Inferno des täglichen Terrors, den Triumph / Dieser Tauschwirtschaft, die alles trügerisch macht, / Alles in Produkte verwandelt, / Die Orte entleert.“
Extrem ist die Spannung zwischen dem lyrischen Ich und dem Dichter-Ich in „Pfingstrosen“. Wieder entzündet sich das poetische Interesse an einer kleinen Szene: „Es ist so still in der Wohnung, die Wände flimmern, / Die Stahlrohrmöbel brüten ein Geheimnis aus. / Verstummt sind im Regal die Bücher, sie hüten / Die Zeit der Toten, den Kontrapunkt zur Lebenszeit. / Es ist verteufelt still. Nur die Pfingstrosen schreien, / Ihre Blütenblätter – weit aufgerissene Kehlen.“ Ein paar Verse weiter: „Die SMS streicht durchs Haus, weckt Gespenster, / Tauscht sie mit den Lebenden aus, annulliert Ferne – / Macht jede Nähe im Raum virtuell. Es ist so still / In der Wohnung, während die Rosen verenden.“ Ein lyrisches Ich hat sich aufgebaut, es entwirft mit sicherem Griff poetische Bilder: die Bücher, welche die Zeit der Toten hüten, die schreienden Blüten, die geisterhafte SMS, die verendenden (Pfingst-) Rosen. Die Stimme, die hier spricht, ist elegisch und furchtsam.
Aber das ist nicht das ganze Gedicht. Mittendrin heißt es: „In ihrem Zimmer entdeckt die Teenager-Tochter / Gerade die Liebe. – Durex: Die leere Verpackung / Wird unters Bett gefegt. Sehnsucht, / Das sind im Augenblick ein paar schöne Worte / Wie hauchzart, gefühlsecht. / Knutschflecken / Markieren den Übergang ins Reale, vampirische Male.“
Der Dichter tritt aus seinem lyrischen Ich heraus, praktiziert seinen Übergang ins Reale. Er ist selber die Störung, bekommt biografische Realität, hat eine Teenager-Tochter, die auch schon in früheren Gedichten vorkam. Und der Dichter plaudert aus, was im Nebenzimmer mit der Durex-Packung geschieht. Abgesehen von der Verletzung einer Intimität, verübt er hier vor allem einen fast masochistischen Einbruch in sein Gedicht.
Es gibt andere Wege, dem Konflikt zwischen dem lyrischen und dem biografischen Ich einen Sinn und sogar ein Gedicht abzugewinnen. Durs Grünbein scheint sie fast systematisch auszuprobieren. Er tut es etwa im Gedicht „Sieben Pinien“, in dem er mit der konkreten Lyrik experimentiert. Er lässt sich vom Anlaut „P“ durch den Wortschatz führen. Er tut es auch in einem beinahe schon hermetischen Gedicht mit dem Titel „Kiosk am Meer“. Darin tritt ein Ich auf, das sich erinnert, aber fast absichtslos nicht alle Sätze, die es denkt, auch ausspricht. „Der Kiosk am Meer, das war sie“, und diese „sie“ ist das geheim bleibende Thema. Der Schluss imaginiert im „du“ vielleicht eine Person, gelesen wird er freilich vom „lyrischen Leser“ in uns: „Wenn du sie siehst, grüß sie von mir. Sag guten Tag.“
Es ist möglich, dass der Leser das Gedicht schöner findet als sein Autor, denn dieser kann nicht absehen von den Elementen, deren Fehlen hier ein poetisches Geheimnis schafft.
Das etwas längere Gedicht „Die Massive des Schlafs“ umkreist das Thema des traumlosen Tiefschlafs in reimlosen frei rhythmisierten Versen von vier bis sechs Hebungen. Es nimmt einen Gedanken auf, der schon in den Anfängen von Durs Grünbeins Dichten im Vordergrund stand, das Verhältnis von Körper und Bewusstsein. Reflexion und Imagination entfalten sich scheinbar spontan. Ein lyrisches „Wir“ macht die Leser zu Freunden dessen, der zu einer Meditation einlädt. Ohne selber Ich zu sagen, ist er immer ganz da. Nicht alles, was er meditiert, leuchtet ein. Aber man liest das Gedicht gern, und vom Konflikt zwischen lyrischem Ich und biografischem Ich ist hier fast nichts zu spüren.
Ein Dichter, der beim Dichten
immerzu neben sich tritt und
sich beim Dichten bedichtet
Manchmal werden die Verse
indiskret, manchmal scheinen sie
die Selbstbeschädigung zu wollen
Durs Grünbein beim Sommerfest des Literarischen Colloquiums Berlin Anfang September 2017.
Foto: imago/IPON
Durs Grünbein: Zündkerzen. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 152 S., 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
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»83 Gedichte enthält die Sammlung. Das Kalkül des Dichters ist ein Spiel mit Formeln, aus dem von Zeit zu Zeit ein vollkommenes Einzelstück entsteht. Mindestens zwei Gedichte des Bandes scheinen mir ziemlich perfekt.« Patrick Bahners Frankfurter Allgemeine Zeitung 20180412