Um den erfundenen Ort Gilead hat Marilynne Robinson eine Erzählwelt geschaffen, die Roman für Roman weiterwächst. Gilead ist keine Idylle, sondern eine Stadt, die für den Leser zum Mittelpunkt eines ganzen Kosmos wird. In »Zuhause« kehrt Glory Boughton nach Gilead zurück, um ihren sterbenden Vater zu pflegen. Kurz darauf findet auch ihr Bruder Jack nach 20 Jahren heim, der »Bad Boy« der Familie, der zu viel trinkt und zu wenig tut. Jack eckt bei allen an - und doch ist er der Liebling des Vaters. Allmählich knüpft er ein enges Band zu seiner Schwester, hütet aber weiter ein großes Geheimnis - einen Konflikt aus dem dunklen Amerika, in dem Hautfarbe und Leidenschaft Hass gebären. »Zuhause« ist ein auf leise, präzise Art schonungsloses Buch, in dem Marilynne Robinson die Kontraste ihrer Welt um den fiktiven Ort Gilead noch eindringlicher zeichnet. Sie erzählt mit großer Meisterschaft von Scham und Würde, von Gnade und Vergebung, und wieder gelingt es ihr, dem Trost ein Zuhause zu geben. »Eine unserer größten lebenden Romanautorinnen.« Bryan Appleyard, Sunday Times
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2018Niemand bleibt
„Zuhause“ heißt der letzte Band der großen Trilogie Marilynne Robinsons über den kleinen Ort
Gilead, Iowa. Auch hier entstammen alle Dämonen dem Inneren der Häuser und Familien
VON LOTHAR MÜLLER
Gern nistet sich in Romanen die Wirklichkeit in fiktiven Orten ein. Das wirkt auf den ersten Blick wie ein Trick, mit dem die Literatur sich den Freiraum verschafft zu erzählen, wovon sie will. Kann sie nicht ihren Erfindungen nirgends freieren Lauf lassen als an Orten, die auf keinem Atlas verzeichnet sind? Niemand kann ihr dorthin folgen, niemand überprüfen, ob die Tankstelle wirklich dort steht, wo sie sie ansiedelt, das Ortsschild tatsächlich so verblichen ist, wie sie behauptet.
Der realistische Roman des 19. Jahrhunderts hat die Erfindung fiktiver Ortschaften zu einem Kunstmittel gemacht, indem er die Freiheit des Erzählens durch seine eigenen Gesetze eingeschränkt hat. Flauberts Ehrgeiz war es, so zu erzählen, dass Tostes und Yonville, die Orte in der Provinz, in denen Madame Bovary lebt, auf einem Atlas der Normandie hätten eingezeichnet sein können.
Die amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson, die 1943 in Sandpoint, Idaho geboren wurde und in Iowa lebt, hat zwischen 2004 und 2014 eine Romantrilogie dem kleinen Ort Gilead, Iowa gewidmet, den es im Bundesstaat Iowa nicht gibt. Der Name entstammt der Bibel, dort trägt ihn ein steiniges, karges Berggebiet östlich des Jordan. Die Figuren der Romane entstammen den Familien eines alten Predigers der Presbyterianer und eines ebenso alten Predigers der Kongregationalisten. Auch wer in diese Familien einheiratet wie Lila, die Titelheldin des letzten Bandes, ist bald bibelfest. Man darf annehmen, die Figuren wissen, dass der Name des Ortes, an dem sie leben, keine Idylle verspricht.
Dieser Ort gab dem Auftaktband der Trilogie den Titel. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein, die Romane schreiten nicht chronologisch voran, sie fassen in den mittleren Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts Gilead und seine Bewohner immer neu ins Auge, leuchten die Innenwelten der Familien des Reverend John Ames und des Predigers Robert Boughton aus. Die beiden Patriarchen sind befreundet, und es kann schon einmal vorkommen, dass sie mindestens eine Seite lang über die Prädestinationslehre Calvins streiten und ob es sein kann, dass schon beim Eintritt ins Leben festgelegt ist, ob jemand dem ewigen Leben oder der Verdammnis entgegengeht. Marilynne Robinson gehört wie einer ihrer größten Bewunderer, der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der United Church of Christ an, in ihren Essays hat sie stets die calvinistische Tradition gegen ihre Ineinssetzung mit Intoleranz und Prüderie verteidigt.
Ihr Reverend Ames entstammt einer Familie von Abolitionisten, die für die Aufhebung der Sklaverei kämpften. Ihr Calvin ist ein Ahnherr der modernen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und der allgemeinen Bildungsansprüche. Im mittleren Band ihrer Gilead-Trilogie, „Home“, der nun unter dem Titel „Zuhause“ die deutsche Ausgabe der Trilogie abschließt, werden die Debatten über die Prädestinationslehre aufgegriffen, aber wie ein erschöpfter, nicht mehr ergiebiger Streit beigelegt.
Denn in Gilead herrschen nicht die Gesetze der Religion, sondern die der Literatur, nicht die des theologischen Disputs oder der Predigt, sondern die des realistischen Romans. Und das tritt um so deutlicher hervor, weil hier ein biblisches Erzählmodell zugrunde liegt, die Geschichte der Heimkehr des verlorenen Sohnes. Nach zwanzig Jahren kehrt der verschollene Jack Boughton alkoholkrank in sein Elternhaus zurück, der Vater steht kurz vor dem Ende seines Lebens, die Mutter ist vor zehn Jahren gestorben.
Jack war als junger Mann verschwunden, nachdem er ein Mädchen aus der Nachbarschaft geschwängert hatte, das Kind, das er mit der Mutter zurückließ, starb im Alter von drei Jahren. Es kommen mehr Jugendstreiche Jacks zur Sprache, die entschlossen ins Kriminelle reichen, als für die Umrisse eines gründlich verlorenen Sohns nötig sind, der von Beginn an für seine Familie ein Unglück war. Aber dieser Roman ist kein Melodram, sondern die vollkommen unsentimentale Erzählung gescheiterter Hoffnungen aller seiner Hauptfiguren.
Dafür sorgt die Erzählkunst Marilynne Robinsons, die den realistischen Roman in seiner anspruchsvollsten Form beerbt, dort, wo er die scheinbar kompakteste prosaische Wirklichkeit mit den Gespenstern und Dämonen bevölkert, die er nur der Legende nach in die fantastische Literatur und die Kolportage vertrieben hat. „Home“ ist ein Pathoswort der amerikanischen Kultur, ein Hoffnungszentrum, und eben deshalb prädestiniert zu einem Ort des höchsten Schreckens.
„Sie nennen es alle ihr Zuhause, aber niemand bleibt“, sagt der todgeweihte Vater am Ende über seine Kinder. Eines dieser Kinder ist die heimliche Hauptfigur des Romans, Glory, die fünf Jahre jüngere Schwester des verlorenen Sohnes. Auch sie ist ins Elternhaus zurückgekehrt, hat ihren Lehrerinnenberuf aufgegeben, um den Vater zu versorgen. Er bevölkert und beherrscht, wie es das biblische Modell will, die Vorderbühne und spielt mit Jack eine Version der Geschichte vom verlorenen Sohn, die das gute Ende ausschlägt. Für den Leser aber rückt mehr und mehr die Seitenbühne in den Vordergrund, die schon im ersten Satz des Romans aufgeschlagen wird: „,Zuhause, Glory! Auf Dauer! Ja!‘ sagte ihr Vater, und ihr wurde schwer ums Herz.“
Die anonyme Erzählerstimme nimmt die Perspektive der Tochter in sich auf, die wie ihre älteren Schwestern Hope, Faith und Grace eine christliche Allegorie im Namen trägt und an ihr verzweifelt. Sie ist die lebendig Begrabene des Romans, sanft wie die Sonja in Tschechows „Onkel Wanja“ müht sie sich um den Bruder mit den zitternden Händen und verborgenen Alkoholflaschen, der aussichtslose Briefe an eine verlorene Liebe schreibt.
Sie selbst ist von einem Verlobten lange hingehalten und dann verlassen worden. Sie macht die Grundstruktur sichtbar, die der Familienroman mit der Horrorliteratur teilt: Alle Dämonen und Gespenster entstammen dem Inneren der Häuser. Sie erträumt sich „ein bescheidenes, sonniges Haus, in dem alles schlicht und funktional wäre, luftig“. Und sie hat den klaren Blick für die Koketterien im religiösen Vater-Sohn-Melodram.
Kurz, sie ist eine Figur des literarisch avancierten Feminismus, der in die Erzähltechnik eingewandert ist, mit der er ein von Männern ruiniertes Leben in einem Haus darstellt, das von Bibelzitaten und geistlichen Liedern erfüllt ist, die der verlorene Sohn, an dem ein Barpianist verloren gegangen ist, am Klavier begleitet. Sie kann Vater und Sohn die Vorderbühne überlassen, weil sie sich mit der Erzählerstimme verbündet hat. Es ist nicht einfach, diese Doppelbödigkeit ins Deutsche zu holen. Uda Strätling ist es gelungen.
„Es gibt keine Farbigen in Gilead“, teilt die Erzählerstimme am Ende beiläufig mit. Wer „Gilead“ gelesen hat, weiß, dass das nicht immer so war. Die Schwarzen haben nach einem Brand in der „Negerkirche“ den Ort verlassen. Zur Geschichte des verlorenen Sohnes gehört, dass sie mit ihm zurückkehren könnten, wäre er nicht mit sich selbst zerfallen. Im Radio und im Fernsehen wird immer wieder von Montgomery berichtet, vom Protest der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassentrennung in den öffentlichen Bussen. Die alten Väter in Gilead winken müde ab. Der Roman nicht.
Marilynne Robinson: Zuhause. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 432 Seiten, 22 Euro.
Nach zwanzig Jahren kehrt Jack
in sein Elternhaus zurück –
ein verlorener Sohn
Glory erträumt ein „sonniges
Haus, in dem alles schlicht
und funktional wäre, luftig“
In der Provinz von Iowa, im Jahr 1958: Wenn in Marilynne Robinsons Roman der verlorene Sohn Jack in die Stadt geht, muss er sich Geld von der Schwester leihen. Und sie hat Angst, dass er sich wieder irgendwo Alkohol besorgt.
Foto: Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Zuhause“ heißt der letzte Band der großen Trilogie Marilynne Robinsons über den kleinen Ort
Gilead, Iowa. Auch hier entstammen alle Dämonen dem Inneren der Häuser und Familien
VON LOTHAR MÜLLER
Gern nistet sich in Romanen die Wirklichkeit in fiktiven Orten ein. Das wirkt auf den ersten Blick wie ein Trick, mit dem die Literatur sich den Freiraum verschafft zu erzählen, wovon sie will. Kann sie nicht ihren Erfindungen nirgends freieren Lauf lassen als an Orten, die auf keinem Atlas verzeichnet sind? Niemand kann ihr dorthin folgen, niemand überprüfen, ob die Tankstelle wirklich dort steht, wo sie sie ansiedelt, das Ortsschild tatsächlich so verblichen ist, wie sie behauptet.
Der realistische Roman des 19. Jahrhunderts hat die Erfindung fiktiver Ortschaften zu einem Kunstmittel gemacht, indem er die Freiheit des Erzählens durch seine eigenen Gesetze eingeschränkt hat. Flauberts Ehrgeiz war es, so zu erzählen, dass Tostes und Yonville, die Orte in der Provinz, in denen Madame Bovary lebt, auf einem Atlas der Normandie hätten eingezeichnet sein können.
Die amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson, die 1943 in Sandpoint, Idaho geboren wurde und in Iowa lebt, hat zwischen 2004 und 2014 eine Romantrilogie dem kleinen Ort Gilead, Iowa gewidmet, den es im Bundesstaat Iowa nicht gibt. Der Name entstammt der Bibel, dort trägt ihn ein steiniges, karges Berggebiet östlich des Jordan. Die Figuren der Romane entstammen den Familien eines alten Predigers der Presbyterianer und eines ebenso alten Predigers der Kongregationalisten. Auch wer in diese Familien einheiratet wie Lila, die Titelheldin des letzten Bandes, ist bald bibelfest. Man darf annehmen, die Figuren wissen, dass der Name des Ortes, an dem sie leben, keine Idylle verspricht.
Dieser Ort gab dem Auftaktband der Trilogie den Titel. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein, die Romane schreiten nicht chronologisch voran, sie fassen in den mittleren Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts Gilead und seine Bewohner immer neu ins Auge, leuchten die Innenwelten der Familien des Reverend John Ames und des Predigers Robert Boughton aus. Die beiden Patriarchen sind befreundet, und es kann schon einmal vorkommen, dass sie mindestens eine Seite lang über die Prädestinationslehre Calvins streiten und ob es sein kann, dass schon beim Eintritt ins Leben festgelegt ist, ob jemand dem ewigen Leben oder der Verdammnis entgegengeht. Marilynne Robinson gehört wie einer ihrer größten Bewunderer, der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der United Church of Christ an, in ihren Essays hat sie stets die calvinistische Tradition gegen ihre Ineinssetzung mit Intoleranz und Prüderie verteidigt.
Ihr Reverend Ames entstammt einer Familie von Abolitionisten, die für die Aufhebung der Sklaverei kämpften. Ihr Calvin ist ein Ahnherr der modernen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und der allgemeinen Bildungsansprüche. Im mittleren Band ihrer Gilead-Trilogie, „Home“, der nun unter dem Titel „Zuhause“ die deutsche Ausgabe der Trilogie abschließt, werden die Debatten über die Prädestinationslehre aufgegriffen, aber wie ein erschöpfter, nicht mehr ergiebiger Streit beigelegt.
Denn in Gilead herrschen nicht die Gesetze der Religion, sondern die der Literatur, nicht die des theologischen Disputs oder der Predigt, sondern die des realistischen Romans. Und das tritt um so deutlicher hervor, weil hier ein biblisches Erzählmodell zugrunde liegt, die Geschichte der Heimkehr des verlorenen Sohnes. Nach zwanzig Jahren kehrt der verschollene Jack Boughton alkoholkrank in sein Elternhaus zurück, der Vater steht kurz vor dem Ende seines Lebens, die Mutter ist vor zehn Jahren gestorben.
Jack war als junger Mann verschwunden, nachdem er ein Mädchen aus der Nachbarschaft geschwängert hatte, das Kind, das er mit der Mutter zurückließ, starb im Alter von drei Jahren. Es kommen mehr Jugendstreiche Jacks zur Sprache, die entschlossen ins Kriminelle reichen, als für die Umrisse eines gründlich verlorenen Sohns nötig sind, der von Beginn an für seine Familie ein Unglück war. Aber dieser Roman ist kein Melodram, sondern die vollkommen unsentimentale Erzählung gescheiterter Hoffnungen aller seiner Hauptfiguren.
Dafür sorgt die Erzählkunst Marilynne Robinsons, die den realistischen Roman in seiner anspruchsvollsten Form beerbt, dort, wo er die scheinbar kompakteste prosaische Wirklichkeit mit den Gespenstern und Dämonen bevölkert, die er nur der Legende nach in die fantastische Literatur und die Kolportage vertrieben hat. „Home“ ist ein Pathoswort der amerikanischen Kultur, ein Hoffnungszentrum, und eben deshalb prädestiniert zu einem Ort des höchsten Schreckens.
„Sie nennen es alle ihr Zuhause, aber niemand bleibt“, sagt der todgeweihte Vater am Ende über seine Kinder. Eines dieser Kinder ist die heimliche Hauptfigur des Romans, Glory, die fünf Jahre jüngere Schwester des verlorenen Sohnes. Auch sie ist ins Elternhaus zurückgekehrt, hat ihren Lehrerinnenberuf aufgegeben, um den Vater zu versorgen. Er bevölkert und beherrscht, wie es das biblische Modell will, die Vorderbühne und spielt mit Jack eine Version der Geschichte vom verlorenen Sohn, die das gute Ende ausschlägt. Für den Leser aber rückt mehr und mehr die Seitenbühne in den Vordergrund, die schon im ersten Satz des Romans aufgeschlagen wird: „,Zuhause, Glory! Auf Dauer! Ja!‘ sagte ihr Vater, und ihr wurde schwer ums Herz.“
Die anonyme Erzählerstimme nimmt die Perspektive der Tochter in sich auf, die wie ihre älteren Schwestern Hope, Faith und Grace eine christliche Allegorie im Namen trägt und an ihr verzweifelt. Sie ist die lebendig Begrabene des Romans, sanft wie die Sonja in Tschechows „Onkel Wanja“ müht sie sich um den Bruder mit den zitternden Händen und verborgenen Alkoholflaschen, der aussichtslose Briefe an eine verlorene Liebe schreibt.
Sie selbst ist von einem Verlobten lange hingehalten und dann verlassen worden. Sie macht die Grundstruktur sichtbar, die der Familienroman mit der Horrorliteratur teilt: Alle Dämonen und Gespenster entstammen dem Inneren der Häuser. Sie erträumt sich „ein bescheidenes, sonniges Haus, in dem alles schlicht und funktional wäre, luftig“. Und sie hat den klaren Blick für die Koketterien im religiösen Vater-Sohn-Melodram.
Kurz, sie ist eine Figur des literarisch avancierten Feminismus, der in die Erzähltechnik eingewandert ist, mit der er ein von Männern ruiniertes Leben in einem Haus darstellt, das von Bibelzitaten und geistlichen Liedern erfüllt ist, die der verlorene Sohn, an dem ein Barpianist verloren gegangen ist, am Klavier begleitet. Sie kann Vater und Sohn die Vorderbühne überlassen, weil sie sich mit der Erzählerstimme verbündet hat. Es ist nicht einfach, diese Doppelbödigkeit ins Deutsche zu holen. Uda Strätling ist es gelungen.
„Es gibt keine Farbigen in Gilead“, teilt die Erzählerstimme am Ende beiläufig mit. Wer „Gilead“ gelesen hat, weiß, dass das nicht immer so war. Die Schwarzen haben nach einem Brand in der „Negerkirche“ den Ort verlassen. Zur Geschichte des verlorenen Sohnes gehört, dass sie mit ihm zurückkehren könnten, wäre er nicht mit sich selbst zerfallen. Im Radio und im Fernsehen wird immer wieder von Montgomery berichtet, vom Protest der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassentrennung in den öffentlichen Bussen. Die alten Väter in Gilead winken müde ab. Der Roman nicht.
Marilynne Robinson: Zuhause. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 432 Seiten, 22 Euro.
Nach zwanzig Jahren kehrt Jack
in sein Elternhaus zurück –
ein verlorener Sohn
Glory erträumt ein „sonniges
Haus, in dem alles schlicht
und funktional wäre, luftig“
In der Provinz von Iowa, im Jahr 1958: Wenn in Marilynne Robinsons Roman der verlorene Sohn Jack in die Stadt geht, muss er sich Geld von der Schwester leihen. Und sie hat Angst, dass er sich wieder irgendwo Alkohol besorgt.
Foto: Getty Images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2019Alles in allem war es ein guter Tag
Religiös, aber nicht rührselig: Das Mittelstück von Marilynne Robinsons hochgelobter "Iowa"-Trilogie wird auf Deutsch nachgereicht.
Schuld und Scheitern, Demut und Gnade, Sühne und Fürsorge, Pietät und Moral. Groß sind die Schlagworte, auf denen Marilynne Robinson ihre Romane sät. Da ist es nicht verwunderlich, dass das größte Wort, um das herum in diesem Buch alles rankt, worauf es wurzelt und wächst, beginnt und endet, auch auf seinem Umschlag steht: "Zuhause".
"Home", 2008 veröffentlicht, ist der zweite Teil von Robinsons populärreligiöser Trilogie über zwei befreundete Pastorenfamilien im ländlichen Iowa, die in den Vereinigten Staaten längst gefeiert wurde, in Deutschland hingegen erst mit dem Erscheinen des dritten Teils, "Lila" (2014), adäquat Beachtung fand. 2016 wurde auch "Gilead", der mit dem Pulitzerpreis gekrönte Auftakt (2004), von Uda Strätling neu übersetzt. Doch nicht zuletzt, weil Ort (das fiktive Gilead), Zeitpunkt (die fünfziger Jahre) und der enge Kreis der Protagonisten dieselben bleiben, ist die Lesereihenfolge einerlei. Denn die Perspektive wechselt. Bestand "Gilead" aus den Erinnerungen des alten Reverend John Ames, einem Lebensresümee in Form eines langen Briefes an seinen kleinen Sohn, beleuchtete "Lila" schließlich den wunderlichen Weg der Titelheldin, Ames' zweiter Ehefrau: Ein Findelkind, das in die Prostitution geriet, findet an die Seite eines bedächtigen siebzig Jahre alten Geistlichen.
"Zuhause" widmete Robinson der kinderreichen Familie von Reverend Robert Boughton, Ames' "Alter Ego". Die Situation, kurz vor dessen Ableben, ist spannend gewählt: Glory, die fromme Jüngste von acht Geschwistern, kehrt achtundreißigjährig nach einer Trennung heim. Jack, schon aus "Gilead" als sündiger Außenseiter bekannt und heute 43 Jahre alt, hat die Familie seit zwanzig Jahren nicht zu Gesicht bekommen, nicht einmal zur Beerdigung der Mutter. Spät erfährt der Leser, was den damals gerade aus dem Gefängnis Entlassenen hinderte: die Last der Scham des Gescheiterten. Sie begleitet Jack durch den Roman, Hand in Hand mit der Furcht, Verworfenheit, Selbstverdruss und Schande seien seine Prädestination, und der Hoffnung auf Selbstvergebung und Segen.
"Es war womöglich der traurigste Tag in ihrem Leben, einer der traurigsten in seinem. Und doch war es, alles in allem, kein schlechter Tag." Wie Glory findet auch Jack vorübergehend einen täglich sich erneuernden Lebenssinn in der Pflege des sterbenden Vaters - und genau hier beginnt das, was Robinsons Erzählung zum Blühen bringt. Denn die vermeintliche Pflicht ist Selbstzweck: durch die Rückkehr der beiden einsamen Kinder in ihre Familie; durch die traurige, verzweifelte Sehnsucht beider Geschwister, im Haus ihrer Kindheit einen Neuanfang zu finden. Tatsächlich wird diese Erwartung von der grenzenlosen (aber nicht bedingungslosen) Güte ihres Vaters erfüllt: In der doppelten Funktion des irdischen wie himmlischen Vaters, aufgesucht in Zeiten von Kummer, Krankheit, Beschwernis und Erschöpfung, betont der Reverend die lebenslange elterliche Verantwortung. "Mein Leben wurde zu deinem Leben, als zündete man eine Kerze an der anderen an."
Sätze wie diese - rührend und von biblischer Tiefe - prägen Robinsons Sprache. Dass sie (bis auf das Ende) bei aller Religiosität nicht ins Rührselige abstürzen, verdankt die 1943 geborene Amerikanerin vor allem ihrem weltlichen Sujet: "Gilead als Stoff und Schauplatz nostalgischer Erinnerungen", die einerseits das Leben formen und in Vertrautheit immer eine Zuflucht als Ausflucht bilden, andererseits jedoch, sobald sie zu Gegenwart und Zukunft werden, auch die bedrohliche Gestalt des Stillstands annehmen können.
"Dann neigte er den Kopf zur Seite, Geste des Bedauerns und der Vergebung in einem." Marilynne Robinson ist eine sensibel beobachtende Erzählerin. Und sie verzichtet nicht auf Kommentare. Zum einen ist ihre weibliche Perspektive unüberlesbar, zum anderen verfügt ihr Roman zwischen Christlichkeit, Sklaverei und Marxismus über wohldosierten zeitpolitischen Diskussionsstoff und fein eingestreute distanzierende Ironie, die zu Ernüchterungen führt: "Sie nennen es alle ihr Zuhause, aber niemand bleibt."
Anders als Tracy Letts Theaterstück "August - Osage County" (deutsch "Eine Familie"), das 2007 individuelle Nöte im Familienkonflikt temperamentvoll eskalieren ließ, ist "Zuhause" ein introvertiert schwelender, leiser Roman. Um weiterlesen zu wollen, bedarf es keiner Sensationslust, aber einer Anteilnahme am melancholisch lächelnden Ringen um Lebensglück.
TERESA GRENZMANN
Marilynne Robinson: "Zuhause". Roman.
Aus dem Englischen von Uda Strätling. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Religiös, aber nicht rührselig: Das Mittelstück von Marilynne Robinsons hochgelobter "Iowa"-Trilogie wird auf Deutsch nachgereicht.
Schuld und Scheitern, Demut und Gnade, Sühne und Fürsorge, Pietät und Moral. Groß sind die Schlagworte, auf denen Marilynne Robinson ihre Romane sät. Da ist es nicht verwunderlich, dass das größte Wort, um das herum in diesem Buch alles rankt, worauf es wurzelt und wächst, beginnt und endet, auch auf seinem Umschlag steht: "Zuhause".
"Home", 2008 veröffentlicht, ist der zweite Teil von Robinsons populärreligiöser Trilogie über zwei befreundete Pastorenfamilien im ländlichen Iowa, die in den Vereinigten Staaten längst gefeiert wurde, in Deutschland hingegen erst mit dem Erscheinen des dritten Teils, "Lila" (2014), adäquat Beachtung fand. 2016 wurde auch "Gilead", der mit dem Pulitzerpreis gekrönte Auftakt (2004), von Uda Strätling neu übersetzt. Doch nicht zuletzt, weil Ort (das fiktive Gilead), Zeitpunkt (die fünfziger Jahre) und der enge Kreis der Protagonisten dieselben bleiben, ist die Lesereihenfolge einerlei. Denn die Perspektive wechselt. Bestand "Gilead" aus den Erinnerungen des alten Reverend John Ames, einem Lebensresümee in Form eines langen Briefes an seinen kleinen Sohn, beleuchtete "Lila" schließlich den wunderlichen Weg der Titelheldin, Ames' zweiter Ehefrau: Ein Findelkind, das in die Prostitution geriet, findet an die Seite eines bedächtigen siebzig Jahre alten Geistlichen.
"Zuhause" widmete Robinson der kinderreichen Familie von Reverend Robert Boughton, Ames' "Alter Ego". Die Situation, kurz vor dessen Ableben, ist spannend gewählt: Glory, die fromme Jüngste von acht Geschwistern, kehrt achtundreißigjährig nach einer Trennung heim. Jack, schon aus "Gilead" als sündiger Außenseiter bekannt und heute 43 Jahre alt, hat die Familie seit zwanzig Jahren nicht zu Gesicht bekommen, nicht einmal zur Beerdigung der Mutter. Spät erfährt der Leser, was den damals gerade aus dem Gefängnis Entlassenen hinderte: die Last der Scham des Gescheiterten. Sie begleitet Jack durch den Roman, Hand in Hand mit der Furcht, Verworfenheit, Selbstverdruss und Schande seien seine Prädestination, und der Hoffnung auf Selbstvergebung und Segen.
"Es war womöglich der traurigste Tag in ihrem Leben, einer der traurigsten in seinem. Und doch war es, alles in allem, kein schlechter Tag." Wie Glory findet auch Jack vorübergehend einen täglich sich erneuernden Lebenssinn in der Pflege des sterbenden Vaters - und genau hier beginnt das, was Robinsons Erzählung zum Blühen bringt. Denn die vermeintliche Pflicht ist Selbstzweck: durch die Rückkehr der beiden einsamen Kinder in ihre Familie; durch die traurige, verzweifelte Sehnsucht beider Geschwister, im Haus ihrer Kindheit einen Neuanfang zu finden. Tatsächlich wird diese Erwartung von der grenzenlosen (aber nicht bedingungslosen) Güte ihres Vaters erfüllt: In der doppelten Funktion des irdischen wie himmlischen Vaters, aufgesucht in Zeiten von Kummer, Krankheit, Beschwernis und Erschöpfung, betont der Reverend die lebenslange elterliche Verantwortung. "Mein Leben wurde zu deinem Leben, als zündete man eine Kerze an der anderen an."
Sätze wie diese - rührend und von biblischer Tiefe - prägen Robinsons Sprache. Dass sie (bis auf das Ende) bei aller Religiosität nicht ins Rührselige abstürzen, verdankt die 1943 geborene Amerikanerin vor allem ihrem weltlichen Sujet: "Gilead als Stoff und Schauplatz nostalgischer Erinnerungen", die einerseits das Leben formen und in Vertrautheit immer eine Zuflucht als Ausflucht bilden, andererseits jedoch, sobald sie zu Gegenwart und Zukunft werden, auch die bedrohliche Gestalt des Stillstands annehmen können.
"Dann neigte er den Kopf zur Seite, Geste des Bedauerns und der Vergebung in einem." Marilynne Robinson ist eine sensibel beobachtende Erzählerin. Und sie verzichtet nicht auf Kommentare. Zum einen ist ihre weibliche Perspektive unüberlesbar, zum anderen verfügt ihr Roman zwischen Christlichkeit, Sklaverei und Marxismus über wohldosierten zeitpolitischen Diskussionsstoff und fein eingestreute distanzierende Ironie, die zu Ernüchterungen führt: "Sie nennen es alle ihr Zuhause, aber niemand bleibt."
Anders als Tracy Letts Theaterstück "August - Osage County" (deutsch "Eine Familie"), das 2007 individuelle Nöte im Familienkonflikt temperamentvoll eskalieren ließ, ist "Zuhause" ein introvertiert schwelender, leiser Roman. Um weiterlesen zu wollen, bedarf es keiner Sensationslust, aber einer Anteilnahme am melancholisch lächelnden Ringen um Lebensglück.
TERESA GRENZMANN
Marilynne Robinson: "Zuhause". Roman.
Aus dem Englischen von Uda Strätling. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 432 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
eine sensibel beobachtende Erzählerin [...] ein introvertiert schwelender, leiser Roman. Teresa Grenzmann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20190109