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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Amartya Sens reichhaltige Lebenserinnerungen
Der indische Ökonom Amartya Sen ist eine einzigartige Figur in den Wirtschaftswissenschaften. Gleichzeitig Volkswirt und Philosoph, mathematischer Strukturalist und Verfasser langer Argumentationsbögen, linken Idealen nahestehend, aber mit Vertrauen in den Marktmechanismus, Cambridge und MIT, Kenner der wichtigsten Schriften des südasiatischen und des anglo-amerikanisch-europäischen Kulturraums sowie: Träger von mehr als 90 Ehrendoktortiteln, des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften 1998 und des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2020. Wirtschaftsteil und Feuilleton.
Die Lektüre seiner akademischen Schriften ist bisweilen mühsam, die Herleitung seines Ansatzes in der Sozialwahltheorie fußt auf mathematischer Logik. Seine fürs breitere Publikum geschriebenen Werke dagegen bestechen durch eine Breite der Perspektive, die in der Ökonomik rar ist. Diese Disziplin hat er immer aus einem Interesse an strittigen Themen betrieben, und damit mehr zu sagen gehabt als viele andere: Identität und Gewalt zwischen Gruppen, Hunger, Freiheit, Ungleichheit, Gerechtigkeit. Es sind Themen seiner Kindheit und Jugend, wie in seiner faszinierenden Autobiografie deutlich wird, die jetzt auch auf Deutsch erhältlich ist.
Mindestens drei Heimaten habe er, antwortete er Ende der Neunzigerjahre auf die Frage eines Journalisten. Sen will nicht einleuchten, warum nicht alle Orte, die für ihn wichtig waren, auch seine Identität bestimmen sollten. Verfolgt man seinen Lebensweg von Dhaka im heutigen Bangladesch über Burma, Kalkutta und Cambridge nach Boston, wird deutlich, dass er seine Erkenntnisse dem Leben und erst danach den Büchern abgerungen hat - ähnlich einem intellektuellen "Slumdog Millionaire". Über seinen Aufenthalt in Burma als Kind schreibt er: "Unsere Wanderungen an den Flussufern entlang lehrten mich, das Land und seine Bewohner besser zu verstehen." Statt über seine Befindlichkeiten zu schreiben, ist das Buch über große Teile eine gut lesbare Kulturgeschichte seiner Aufenthaltsorte.
Sen erzählt anders als andere Autobiografen. Auf den 460 Seiten bringt er eigentlich nur die Zeit zwischen seiner Geburt 1933 und den ersten akademischen Meriten dreißig Jahre später unter, der Nobelpreis wird am Rande erwähnt, seine Defizite im Kricket und im Singen belächelt er. Bewundernd erzählt er über Begleiter - und seien es Randfiguren wie seine Hauswirtin in Cambridge, die ihn anfangs mit ihren Fragen irritiert: "Geht Ihre Farbe beim Waschen ab?", die dann aber zur Verfechterin der Rassengleichheit wird.
Schon in der Jugend hat sich Sen tiefgründig mit Fragen der Ausgrenzung und Ungleichheit beschäftigt, er erlebte die große indische Hungersnot vor der Teilung des Landes und die Gewalt religiöser Gruppen nach 1947. Zu seinen wichtigsten Einflüssen gehören der indische Dichter Rabindranath Tagore, Mahatma Gandhi und Buddha. Später sind es die Ökonomen Kenneth Arrow, Karl Marx und Piero Sraffa. Einem Lager lässt er sich nicht zuordnen. Mitgefühl und egalitäres Engagement der politischen Linken hätten ihm zugesagt, in den Fünfzigerjahren habe ihn aber deren freiheitsverachtender Pluralismus abgeschreckt, der Toleranz als Willensschwäche ausgelegt habe.
Früh wird Sen von einem lebensbedrohenden Plattenepithelkarzinom geheilt. Danach zieht er nach England. Reisen durch Deutschland und Italien erweitern seinen Horizont. Die intellektuelle Brillanz der britischen Eliteuniversität prägt ihn, doch die ideologischen Scheuklappen selbst so hervorragender Ökonominnen wie Joan Robinson limitieren ihn. Er merkt, wie viel mehr akademisch zu erreichen ist, wenn es "absolut keine Grabenkämpfe" gibt - wie am MIT in der Zeit, als Paul Samuelson und Robert Solow den Ton angaben.
Früh wendet er sich der Philosophie zu: "Ich war frustriert darüber, dass die Ökonomie konstant auf eine begrenzte Anzahl von Themen zusteuerte, die sich primär darauf konzentrierten, wie leicht bestimmte, nicht immer besonders wichtige ökonomische Größen vorhergesagt werden können", schreibt Sen. Exemplarisch für die Flügelstreitigkeiten in Cambridge merkt er an, der Niedergang des Kapitalismus werde kaum "durch irgendeinen ausgeklügelten Fehler in der Kapitaltheorie einsetzen", sondern an der "abscheulichen Art und Weise, auf die der Kapitalismus mit den Menschen umspringt".
Geleitet von der Idee, dass gesellschaftliches Wohlergehen in Beziehung zum Wohlergehen der Individuen gesetzt werden müsse, werden der Utilitarist Jeremy Bentham, Kenneth Arrow und der Sozialphilosoph John Rawls, mit denen er auch unterrichtet, zu Bezugsgrößen. All das erzählt er nicht in angeberischer Mission, sondern als große Erzählung eines Lebens, aus dem viel mehr Ertrag hervorgegangen ist, als er das zumindest nach außen hin selbst einschätzt.
Sens Urteilskraft ist bemerkenswert. Beeindruckend ist der kritische Umgang mit langjährigen Freunden wie dem zwischenzeitlichen indischen Ministerpräsidenten Manmohan Singh oder der zeitweiligen burmesischen Regierungschefin Aung San Suu Kyi, die er für die Rückkehr zur Gewalt in ihrem Land mitverantwortlich macht, weil es ihr an Empathie für die unterdrückten Rohingyas gefehlt habe. Nachdem er in diesen Memoiren ein Drittel seines Weges untergebracht hat, fehlt eigentlich noch viel Leben. Aber wahrscheinlich würde der Autor sagen, dass das Wichtigste gesagt ist: Wie er das wurde, was er ist. PHILIPP KROHN
Amartya Sen: Zuhause in der Welt - Erinnerungen. C.H.Beck, München 2022, 479 Seiten, 34 Euro.
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NZZ am Sonntag, Michael Holmes
"Ein intellektuelles Panorama Englands im 20. Jahrhundert."
taz, Rudolf Walther
"In seinen Schriften nimmt Sen oft Bezug auf Ereignisse aus seiner Jugend und verknüpft sie mit seiner wissenschaftlichen Arbeit. Mit Home in the World, seinen soeben erschienenen Erinnerungen, erweitert er dieses wiederkehrende Thema zu einem bewegenden und faszinierenden Bericht über seine kosmopolitische Kindheit in verschiedenen Ländern, seinen schulischen Werdegang und seine frühe akademische Karriere."
Merkur, Fara Dabhoiwala
"Sen beherrscht den selbstverständlichen Umgang mit den klassischen philosophischen Denkern, er nimmt Stellung zu den großen wirtschaftswissenschaftlichen Debatten der Gegenwart. Gleichzeitig schöpft er aus dem großen kulturellen und wissenschaftlichen Erbe Indiens."
Der Falter, Alfred Pfoser
"Sen ist einfach hinreißend, so voller Charme, und er hat eine außergewöhnliche Gabe für elegante Sätze. Ein schlichtweg wunderbares Buch, das Porträt eines Weltbürgers."
The Spectator, Philip Hensher
"Eine bewegende, herzergreifende Erinnerung an sein frühes Leben vor und nach der Teilung Bengalens... Erhellend und wunderbar zugänglich, als intime Coming-of-Age-Geschichte gleichermaßen wie als Crashkurs in Ökonomie."
Kirkus Reviews
"Sen ist mehr als ein Wirtschaftswissenschaftler, ein Moralphilosoph oder bloß ein Akademiker. Er ist ein lebenslanger Vorkämpfer - als Wissenschaftler und Aktivist, in Freundschaften und gegenüber gelegentlichen Gegnern - für eine bessere Vorstellung von Heimat, und damit von der Welt."
Financial Times Edward Luce
"Für westliche Leser ist es ein Bildungserlebnis eigener Art, Wittgenstein und Gandhi, das Hindu-Epos Rigveda und den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm in ein und demselben Diskursraum vorzufinden."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Mark Siemons
"Identität und Gewalt zwischen Gruppen, Hunger, Freiheit, Ungleichheit, Gerechtigkeit. Es sind Themen seiner Kindheit und Jugend, wie in seiner faszinierenden Autobiografie deutlich wird, die jetzt auch auf Deutsch erhältlich ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Philipp Krohn
"Eine hinreißende Verteidigung des Kosmopolitismus, der in den letzten Jahren angesichts nationalistischer und protektionistischer Strömungen in Bedrängnis geraten ist."
NZZ am Sonntag, Die 100 besten Bücher des 21. Jahrhunderts, Tobias Lentzler