"Die Krise des Südens, die auch eine Midlife-Krise der gesamten EU ist, muss zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Reform werden, die die Erweiterung und Vertiefung der Union in einem neuen, euro-mediterranen Regionenverbund betreibt." Gegen die vorherrschende Fatalität des Scheiterns setzt der Politik- und Kulturwissenschaftler Claus Leggewie einen realutopischen Gegenentwurf: eine neue Vision von Europa rund ums Mittelmeer. Eine neu verfasste EU hat das Potenzial, Alternativen für Energieversorgung und Finanzmärkte zu entwickeln, sich als Friedensstifterin in Nahost zu etablieren und nicht zuletzt: in aller Bescheidenheit ein demokratisches Modell für die Staaten anzubieten, die sich nach der arabischen Revolution zwischen laizistischen und islamistischen Regierungen entscheiden müssen. Zukunft im Süden führt zu den Ursprüngen der europäischen Zivilisation im Mittelmeerraum zurück, sucht aktuelle Schauplätze im Süden Europas auf, analysiert verpasste Chancen der Mittelmeerunion und formuliert konkrete Vorschläge für eine europäische Friedens- und Entwicklungspolitik an den Grenzen "unseres Meeres".
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als früheren Mitglied der EU-Kommission weiß Günter Verheugen, wovon er spricht, wenn er Claus Leggewies in diesem Buch versammelte Vorschläge zu einem von einer Mittelmeerunion belebten Europa auf ihre Tragfähigkeit überprüft. Überraschend scheint ihm Leggewies Ansatz, die südlichen EU-Staaten nicht nur als Problem zu betrachten nur auf den ersten Blick. Rasch wird ihm beim Lesen von Leggewies historischem Überblick klar, welch Potential, politisch und ökonomisch, in der Region angelegt ist. Allerdings macht ihm Leggewie auch deutlich, dass die Politik das Problem ist. Nahost- und Balkankonflikt, die arabische Welt - laut Verheugen bleibt der Autor die Darlegung der Problemzonen nicht schuldig. Dass er dennoch Hoffnung hegt, regionale Ansätze und das Konzept einer neuen EU aus dem Geiste einer europäischen Mittelmeerpolitik entwirft, rechnet Verheugen dem Autor hoch an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2013Totgesagte
leben länger
Claus Leggewie sucht die „Zukunft im Süden“
und entwirft eine neue Europa-Politik
VON GÜNTER VERHEUGEN
Es gehört Mut dazu, ausgerechnet die schwachbrüstige Union für das Mittelmeer als das europäische Projekt zu begreifen, das nicht nur den Weg aus der aktuellen Krise weisen kann, sondern am Ende einer natürlich recht langen Entwicklung eine neue Form der europäischen Integration überhaupt bedeuten könnte. „Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben könnte“, lautet der Untertitel der Studie von Claus Leggewie „Zukunft im Süden“ – was für eine auf den ersten Blick überraschende Perspektive! Claus Leggewie ist aber nicht irgendwer. Der Essener Politik- und Kulturwissenschaftler hat sich einen Namen gemacht als profunder Kenner der europäischen Integration und als Kenner (und Verehrer) der Regionen rund um das Mittelmeer.
Wir haben uns inzwischen angewöhnt, die südlichen EU-Staaten vor allem als Problem anzuschauen und die außereuropäischen Mittelmeerländer (MENA – Middle East, North Africa) vor allem als Gefahrenzone zu begreifen. Die instinktive Reaktion darauf lautet Abwehr und Abschottung – man denke nur an unsere Einwanderungspolitik. Eine strategische Vision oder auch nur ein mittelfristiges Handlungskonzept, wie wir mit diesen nachbarlichen Gebieten umgehen wollen, fehlt völlig – trotz klangvoller Namen.
Man muss nicht einmal das ganze Gebäude der europäischen Einigung neu errichten wollen, um zu begreifen, dass der Mittelmeerraum für Europas Zukunft wichtig ist. Leggewie ist daher in allem zuzustimmen, was er über die Ursachen des aktuellen Niedergangs im Süden Europas sagt. Natürlich waren da hausgemachte Fehler, zuhauf, auch in Griechenland, aber es ist auch unbestreitbar, dass Portugal, Italien, Spanien und Griechenland in erster Linie Opfer der entfesselten Finanzmärkte und des verfehlten Krisenmanagements der EU sind.
Ich würde aber noch weiter gehen: Es gibt eine massive Verwerfung innerhalb der EU. Haben doch die beiden großen ökonomischen Errungenschaften der Integration, der Binnenmarkt und der Euro, einigen Teilnehmern mehr genützt als anderen. Zwar ist das allgemeine Wohlstandsniveau in der EU gestiegen, aber die Disparitäten sind nicht geringer geworden (der deutsche Exportüberschuss trägt maßgeblich dazu bei). Die Wettbewerbsfähigkeit der südlichen EU-Staaten ist gesunken. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet die Hauptempfänger von europäischen Strukturhilfen am stärksten von der Krise betroffen sind. Erst ganz langsam wendet sich die Öffentlichkeit der Frage zu, wie diese Mittel eigentlich verwendet wurden und was dabei real herausgekommen ist.
Der Mittelmeerraum, das stellt Leggewie in einem großen historischen Überblick dar, war nicht nur eine Quelle unserer kulturellen und gesellschaftlichen Inspiration, hat er doch unter anderem die politische Idee Europas hervorgebracht, nein, er hat auch heute ein großes politisches und ökonomisches Potenzial. Die Region könnte, so Leggewie, die notwendige Energiewende für ganz Europa herbeiführen, wenn sie sich auf die Bereitstellung erneuerbarer Energien spezialisierte. Das ist ein naheliegender Gedanke: Windenergie dort zu produzieren, wo der Wind weht, und Sonnenenergie dort, wo die Sonne scheint – und an seiner Realisierung wird auch gearbeitet (gehen wir einmal davon aus, dass die technischen Probleme lösbar sind).
Für Leggewie ist die Politik das entscheidende Problem. Das stellt er am Beispiel von vier Städten dar: Haifa, Dubrovnik, Istanbul und Algier. Und damit haben wir den Nahostkonflikt, den Balkankonflikt, die ungeklärte Rolle der Türkei in Europa und die arabische Welt. Das muss man gelesen haben!
Aber wie soll es nun weitergehen? Es gibt die europäische Nachbarschaftspolitik, die den gesamten Raum abdeckt und jeden der Nachbarn so eng wie möglich an die EU binden möchte. So will es die Theorie. Praktisch jedoch ist sie kein Ruhmesblatt für die EU. Als mein damaliger Kollege Chris Patten und ich sie konzipiert haben, dachten wir unter anderem an die Herstellung eines großen europäischen Binnenmarktes, der den gesamten europäischen Kontinent und den Mittelmeerraum umfassen sollte. Für uns war das eine ganz entscheidende Weichenstellung für das
21. Jahrhundert. Wir hofften, dass die wirtschaftliche Integration unserer Nachbarn dort Wohlstand mehren und demokratische Prozesse anstoßen und vertiefen werde. Die Praxis aber erwies sich als extrem schwierig, denn natürlich funktioniert es nicht nach dem simplen Schema: Wir öffnen die Märkte – ihr respektiert nunmehr die Menschenrechte.
Immer wieder war es auch so, dass nicht alle mit allen an einem Tisch sitzen wollten. Die ursprüngliche Initiative des damaligen französischen Präsidenten Sarkozy zur Mittelmeerunion scheiterte am deutschen Widerstand. Zu Recht, hatte Sarkozy doch weniger das Mittelmeer als vielmehr die Machtbalance innerhalb der EU im Auge, die sich aus französischer Sicht nach der Osterweiterung zugunsten von Deutschland nach Osten verschoben hatte.
Auf typisch europäische Weise wurde schließlich der sogenannte Barcelona-Prozess zur Mittelmeerunion umfunktioniert, die kaum mehr als alten Wein in neuen Schläuchen anbietet. Das Grundproblem aber blieb: das mangelnde, echte Interesse der Europäer an den Nachbarn. Nur so ist zu erklären, warum durchaus sinnvolle Projekte niemals realisiert wurden und warum die südlichen Partner so frustriert sind von der EU.
Aber noch ist nicht alles verloren, so sieht es auch Leggewie. Immerhin stehen jetzt in der EU bessere Instrumente zur Verfügung – es gibt eine sich entwickelnde Außenpolitik, es gibt eine Meerespolitik und vieles mehr. Aber gibt es auch das entscheidende Zünglein an der Waage: Hat die EU den echten politischen Willen, sich mit diesem Raum wirklich einzulassen? Ernüchternd ist das Beispiel der Türkei. Leggewie hat die Idee auf einen EU-Beitritt der Türkei schon so gut wie aufgegeben, die Verantwortung dafür weist er mit Recht Frankreich und Deutschland zu. Der ökonomische Schwachsinn dieser Politik ist angesichts der Evolution der Türkei zum Tigerstaat evident, aber auch politisch hätte spätestens der arabische Frühling die EU zu der Erkenntnis bringen müssen, dass der Weg der Türkei, bei allem, was das Land noch zu leisten hat, ein Vorbild abgeben könnte für den schwierigen Weg der arabischen Welt. Und jenen Ablehnenden, die immer wieder auf die unsichere geografische Lage der Türkei hinweisen, sei gesagt: Auch deutsche Soldaten verteidigen neuerdings unsere gemeinsame Sicherheit vor Ort, in der Türkei.
Der arabische Frühling wird heute in der EU mehr als Risiko denn als Chance begriffen. Es ist Leggewie zuzustimmen, wenn er eine pauschale europäische Ablehnung des Islam gerade vor dem Hintergrund der Migrationsströme für einen Fehler hält. Ein politischer Islam muss nicht gefährlicher sein als ein politisches Christentum. Und dass wir unser europäisches Sozialmodell nur noch mithilfe von Einwanderung bewahren können, dürfte inzwischen den meisten völlig klar sein. Leggewie schlägt regionale Ansätze vor und entwirft in Umrissen das Konzept einer neuen EU, die sich als eine Art förderndes Dach über eng kooperierenden Regionen spannt. Dem liegt ein anderer, großräumiger Begriff von Region zugrunde, als wir ihn von den deutschen Ländern kennen.
Als Mitglied der EU-Kommission habe ich lange versucht, unter einem europäischen Dach ein sehr bescheidenes wirtschaftliches Projekt zwischen Israel, Jordanien und der palästinensischen Autonomiebehörde zu realisieren. Es hat am Ende nicht geklappt, aber das heißt nicht, dass so etwas niemals funktionieren würde. Man könnte an die gemeinsame Verwaltung von Ressourcen denken. Man könnte sich der kleinen und mittleren Unternehmen versichern, die überall die Lebensader sind. Man könnte den sanften Tourismus vorantreiben. Man könnte, man könnte . . .
Ja, eine europäische Mittelmeerpolitik, die diesen Namen verdient, würde die EU radikal verändern – oder wiederbeleben, wie Leggewie sagt. Diese Ansicht teile ich, vor allem, weil eine echte Mittelmeerpolitik ein radikales Umdenken in den europäischen Institutionen und in den Hauptstädten erfordern würde. Davon ist noch nichts zu spüren, aber die Zeit, die ein solches Umdenken verlangt, kann schneller kommen, als die meisten denken. Die Verantwortung für den Mittelmeerraum kann sehr schnell eine europäische werden. Noch sind wir darauf in keiner Weise vorbereitet. Aus Leggewies „Revolutopie“ eine handhabbare Politik zu machen: Das wäre eine gigantische, aber lohnende europäische Aufgabe. Weggeduckt haben wir uns schon zu lange.
Claus Leggewie: Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann. Edition Körber Stiftung, Hamburg 2012. 270 S., 16 Euro.
Günter Verheugen war von 2004 bis 2010 EU-Kommissar für Industrie und Unternehmenspolitik. Zuvor hatte er die Osterweiterung der EU mitgeplant.
Nicolas Sarkozys Initiative einer
Mittelmeerunion scheiterte am
deutschen Widerstand – zu Recht
Den Beitritt der Türkei zur
EU abzulehnen, das ist auch
ökonomisch schwachsinnig
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leben länger
Claus Leggewie sucht die „Zukunft im Süden“
und entwirft eine neue Europa-Politik
VON GÜNTER VERHEUGEN
Es gehört Mut dazu, ausgerechnet die schwachbrüstige Union für das Mittelmeer als das europäische Projekt zu begreifen, das nicht nur den Weg aus der aktuellen Krise weisen kann, sondern am Ende einer natürlich recht langen Entwicklung eine neue Form der europäischen Integration überhaupt bedeuten könnte. „Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben könnte“, lautet der Untertitel der Studie von Claus Leggewie „Zukunft im Süden“ – was für eine auf den ersten Blick überraschende Perspektive! Claus Leggewie ist aber nicht irgendwer. Der Essener Politik- und Kulturwissenschaftler hat sich einen Namen gemacht als profunder Kenner der europäischen Integration und als Kenner (und Verehrer) der Regionen rund um das Mittelmeer.
Wir haben uns inzwischen angewöhnt, die südlichen EU-Staaten vor allem als Problem anzuschauen und die außereuropäischen Mittelmeerländer (MENA – Middle East, North Africa) vor allem als Gefahrenzone zu begreifen. Die instinktive Reaktion darauf lautet Abwehr und Abschottung – man denke nur an unsere Einwanderungspolitik. Eine strategische Vision oder auch nur ein mittelfristiges Handlungskonzept, wie wir mit diesen nachbarlichen Gebieten umgehen wollen, fehlt völlig – trotz klangvoller Namen.
Man muss nicht einmal das ganze Gebäude der europäischen Einigung neu errichten wollen, um zu begreifen, dass der Mittelmeerraum für Europas Zukunft wichtig ist. Leggewie ist daher in allem zuzustimmen, was er über die Ursachen des aktuellen Niedergangs im Süden Europas sagt. Natürlich waren da hausgemachte Fehler, zuhauf, auch in Griechenland, aber es ist auch unbestreitbar, dass Portugal, Italien, Spanien und Griechenland in erster Linie Opfer der entfesselten Finanzmärkte und des verfehlten Krisenmanagements der EU sind.
Ich würde aber noch weiter gehen: Es gibt eine massive Verwerfung innerhalb der EU. Haben doch die beiden großen ökonomischen Errungenschaften der Integration, der Binnenmarkt und der Euro, einigen Teilnehmern mehr genützt als anderen. Zwar ist das allgemeine Wohlstandsniveau in der EU gestiegen, aber die Disparitäten sind nicht geringer geworden (der deutsche Exportüberschuss trägt maßgeblich dazu bei). Die Wettbewerbsfähigkeit der südlichen EU-Staaten ist gesunken. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet die Hauptempfänger von europäischen Strukturhilfen am stärksten von der Krise betroffen sind. Erst ganz langsam wendet sich die Öffentlichkeit der Frage zu, wie diese Mittel eigentlich verwendet wurden und was dabei real herausgekommen ist.
Der Mittelmeerraum, das stellt Leggewie in einem großen historischen Überblick dar, war nicht nur eine Quelle unserer kulturellen und gesellschaftlichen Inspiration, hat er doch unter anderem die politische Idee Europas hervorgebracht, nein, er hat auch heute ein großes politisches und ökonomisches Potenzial. Die Region könnte, so Leggewie, die notwendige Energiewende für ganz Europa herbeiführen, wenn sie sich auf die Bereitstellung erneuerbarer Energien spezialisierte. Das ist ein naheliegender Gedanke: Windenergie dort zu produzieren, wo der Wind weht, und Sonnenenergie dort, wo die Sonne scheint – und an seiner Realisierung wird auch gearbeitet (gehen wir einmal davon aus, dass die technischen Probleme lösbar sind).
Für Leggewie ist die Politik das entscheidende Problem. Das stellt er am Beispiel von vier Städten dar: Haifa, Dubrovnik, Istanbul und Algier. Und damit haben wir den Nahostkonflikt, den Balkankonflikt, die ungeklärte Rolle der Türkei in Europa und die arabische Welt. Das muss man gelesen haben!
Aber wie soll es nun weitergehen? Es gibt die europäische Nachbarschaftspolitik, die den gesamten Raum abdeckt und jeden der Nachbarn so eng wie möglich an die EU binden möchte. So will es die Theorie. Praktisch jedoch ist sie kein Ruhmesblatt für die EU. Als mein damaliger Kollege Chris Patten und ich sie konzipiert haben, dachten wir unter anderem an die Herstellung eines großen europäischen Binnenmarktes, der den gesamten europäischen Kontinent und den Mittelmeerraum umfassen sollte. Für uns war das eine ganz entscheidende Weichenstellung für das
21. Jahrhundert. Wir hofften, dass die wirtschaftliche Integration unserer Nachbarn dort Wohlstand mehren und demokratische Prozesse anstoßen und vertiefen werde. Die Praxis aber erwies sich als extrem schwierig, denn natürlich funktioniert es nicht nach dem simplen Schema: Wir öffnen die Märkte – ihr respektiert nunmehr die Menschenrechte.
Immer wieder war es auch so, dass nicht alle mit allen an einem Tisch sitzen wollten. Die ursprüngliche Initiative des damaligen französischen Präsidenten Sarkozy zur Mittelmeerunion scheiterte am deutschen Widerstand. Zu Recht, hatte Sarkozy doch weniger das Mittelmeer als vielmehr die Machtbalance innerhalb der EU im Auge, die sich aus französischer Sicht nach der Osterweiterung zugunsten von Deutschland nach Osten verschoben hatte.
Auf typisch europäische Weise wurde schließlich der sogenannte Barcelona-Prozess zur Mittelmeerunion umfunktioniert, die kaum mehr als alten Wein in neuen Schläuchen anbietet. Das Grundproblem aber blieb: das mangelnde, echte Interesse der Europäer an den Nachbarn. Nur so ist zu erklären, warum durchaus sinnvolle Projekte niemals realisiert wurden und warum die südlichen Partner so frustriert sind von der EU.
Aber noch ist nicht alles verloren, so sieht es auch Leggewie. Immerhin stehen jetzt in der EU bessere Instrumente zur Verfügung – es gibt eine sich entwickelnde Außenpolitik, es gibt eine Meerespolitik und vieles mehr. Aber gibt es auch das entscheidende Zünglein an der Waage: Hat die EU den echten politischen Willen, sich mit diesem Raum wirklich einzulassen? Ernüchternd ist das Beispiel der Türkei. Leggewie hat die Idee auf einen EU-Beitritt der Türkei schon so gut wie aufgegeben, die Verantwortung dafür weist er mit Recht Frankreich und Deutschland zu. Der ökonomische Schwachsinn dieser Politik ist angesichts der Evolution der Türkei zum Tigerstaat evident, aber auch politisch hätte spätestens der arabische Frühling die EU zu der Erkenntnis bringen müssen, dass der Weg der Türkei, bei allem, was das Land noch zu leisten hat, ein Vorbild abgeben könnte für den schwierigen Weg der arabischen Welt. Und jenen Ablehnenden, die immer wieder auf die unsichere geografische Lage der Türkei hinweisen, sei gesagt: Auch deutsche Soldaten verteidigen neuerdings unsere gemeinsame Sicherheit vor Ort, in der Türkei.
Der arabische Frühling wird heute in der EU mehr als Risiko denn als Chance begriffen. Es ist Leggewie zuzustimmen, wenn er eine pauschale europäische Ablehnung des Islam gerade vor dem Hintergrund der Migrationsströme für einen Fehler hält. Ein politischer Islam muss nicht gefährlicher sein als ein politisches Christentum. Und dass wir unser europäisches Sozialmodell nur noch mithilfe von Einwanderung bewahren können, dürfte inzwischen den meisten völlig klar sein. Leggewie schlägt regionale Ansätze vor und entwirft in Umrissen das Konzept einer neuen EU, die sich als eine Art förderndes Dach über eng kooperierenden Regionen spannt. Dem liegt ein anderer, großräumiger Begriff von Region zugrunde, als wir ihn von den deutschen Ländern kennen.
Als Mitglied der EU-Kommission habe ich lange versucht, unter einem europäischen Dach ein sehr bescheidenes wirtschaftliches Projekt zwischen Israel, Jordanien und der palästinensischen Autonomiebehörde zu realisieren. Es hat am Ende nicht geklappt, aber das heißt nicht, dass so etwas niemals funktionieren würde. Man könnte an die gemeinsame Verwaltung von Ressourcen denken. Man könnte sich der kleinen und mittleren Unternehmen versichern, die überall die Lebensader sind. Man könnte den sanften Tourismus vorantreiben. Man könnte, man könnte . . .
Ja, eine europäische Mittelmeerpolitik, die diesen Namen verdient, würde die EU radikal verändern – oder wiederbeleben, wie Leggewie sagt. Diese Ansicht teile ich, vor allem, weil eine echte Mittelmeerpolitik ein radikales Umdenken in den europäischen Institutionen und in den Hauptstädten erfordern würde. Davon ist noch nichts zu spüren, aber die Zeit, die ein solches Umdenken verlangt, kann schneller kommen, als die meisten denken. Die Verantwortung für den Mittelmeerraum kann sehr schnell eine europäische werden. Noch sind wir darauf in keiner Weise vorbereitet. Aus Leggewies „Revolutopie“ eine handhabbare Politik zu machen: Das wäre eine gigantische, aber lohnende europäische Aufgabe. Weggeduckt haben wir uns schon zu lange.
Claus Leggewie: Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann. Edition Körber Stiftung, Hamburg 2012. 270 S., 16 Euro.
Günter Verheugen war von 2004 bis 2010 EU-Kommissar für Industrie und Unternehmenspolitik. Zuvor hatte er die Osterweiterung der EU mitgeplant.
Nicolas Sarkozys Initiative einer
Mittelmeerunion scheiterte am
deutschen Widerstand – zu Recht
Den Beitritt der Türkei zur
EU abzulehnen, das ist auch
ökonomisch schwachsinnig
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