»Tiefgründig, sensibel, spannend.« Juli Zeh, Börsenblatt Drei Jahrhunderte, drei Versionen des amerikanischen Experiments: In ihrem kühnen neuen Roman - dem ersten seit Ein wenig Leben - erzählt Hanya Yanagihara von Liebenden, von Familie, vom Verlust und den trügerischen Versprechen gesellschaftlicher Utopien. 1893, in einem Amerika, das anders ist, als wir es aus den Geschichtsbüchern kennen: New York gehört zu den Free States, in denen die Menschen so leben und so lieben, wie sie es möchten - so jedenfalls scheint es. Ein junger Mann, Spross einer der angesehensten und wohlhabendsten Familien, entzieht sich der Verlobung mit einem standesgemäßen Verehrer und folgt einem charmanten, mittellosen Musiklehrer. 1993, in einem Manhattan im Bann der AIDS-Epidemie: Ein junger Hawaiianer teilt sein Leben mit einem deutlich älteren, reichen Mann, doch er verschweigt ihm die Erschütterungen seiner Kindheit und das Schicksal seines Vaters. 2093, in einer von Seuchen zerrissenen, autoritär kontrollierten Welt: Die durch eine Medikation versehrte Enkelin eines mächtigen Wissenschaftlers versucht ohne ihn ihr Leben zu bewältigen - und herauszufinden, wohin ihr Ehemann regelmäßig an einem Abend in jeder Woche verschwindet. Drei Teile, die sich zu einer aufwühlenden, einzigartigen Symphonie verbinden, deren Themen und Motive wiederkehren, nachhallen, einander vertiefen und verdeutlichen: Ein Town House am Washington Square. Krankheiten, Therapien und deren Kosten. Reichtum und Elend. Schwache und starke Menschen. Die gefährliche Selbstgerechtigkeit von Mächtigen und von Revolutionären. Die Sehnsucht nach dem irdischen Paradies - und die Erkenntnis, dass es nicht existiert. Und all das, was uns zu Menschen macht: Angst. Liebe. Scham. Bedürfnis. Einsamkeit. Zum Paradies ist ein Wunderwerk literarischer Erfindungskraft und ein Kunstwerk menschlicher Gefühle. Seine außergewöhnliche Wirkung gründet in seinem Wissen um den Wunsch, jene zu beschützen, die wir lieben: Partner, Liebhaber, Kinder, Freunde - unsere Mitmenschen. Und den Schmerz, der nach uns greift, wenn wir das nicht können.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Cornelia Geißler beginnt ihre Lektüre erwartungsvoll, beendet sie jedoch enttäuscht. Der erste der drei Teile dieses Romans beginnt Ende des 19. Jahrhunderts im New Yorker Viertel Greenwich. Aufbau und Handlung erinnern an einen klassischen Gesellschaftsroman, mit cleverem Twist: die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Yanagiharas Welt eine Selbstverständlichkeit, lesen wir. Die psychologische Stimmigkeit und Sensibilität, mit der Yanagihara über Beziehungen, Heimlichkeiten und Familienehre schreibt, machen den Reiz dieses Abschnitts aus, so Geißler. Bis hier hin besteht ihr Figurenensemble ausschließlich aus Männern, deren Namens-, teils auch tatsächlichen Vettern hundert Jahre später im zweiten Teil erneut auftauchen. Diesmal ist es vor allem die Krankheit AIDS, die für jene Unsicherheit sorgt, welche das verbindende Glied zwischen den drei Teilen sowie den Männer verschiedener Generationen bildet, erklärt die Rezensentin, die zwar einige Redundanzen bemerkt, der Handlung jedoch weiterhin gerne folgt. Dies ändert sich mit dem dritten Teil, in dem eine von verschiedensten Pandemien gebeutelte Gesellschaft geschildert wird. Umso so bedauerlicher ist das, da entgegengesetzt zum sinkendem Lesevergnügen nicht nur der Umfang ansteigt, sondern auch der Aufwand, den die Leserin aufbringen muss, um zwischen zahlreichen Zeitsprüngen, und einem aufwendigen, dennoch nicht sonderlich einfallsreichen Science-Fiction-Vokabular nicht den Faden zu verlieren. Die ermüdend hohe Katastrophen-Dichte sowie die Tatsache, dass man sich beim Lesen immer wieder an allzu bekannte Verschwörungsmythen erinnert fühlt, laugen die Rezensentin vollends aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2022Das Paradies ist anderswo
Vor fünf Jahren machte sie mit "Ein wenig Leben" international Furore. Der Roman spaltete wegen seiner Drastik das Publikum. Jetzt spannt Hanya Yanagihara mit ihrem neuen Amerika-Roman auf wieder fast neunhundert Seiten einen Bogen über drei Jahrhunderte - und uns auf die Folter.
Was hat dieses neunhundertseitige Buch, das den Titel "Zum Paradies" trägt, damit zu tun? Ein Leseparadies ist es schon mal nicht, eher eine bisweilen endlos scheinende Textsteppe gewundener Sätze mit verschachtelten Untergliederungen, die einen oft den Faden verlieren lassen. Eine Parodie des psychologischen Romans, wie bereits vermutet wurde? Auch das würde die Lektüre nicht angenehmer machen.
Oder soll der Ort, an dem die drei Romane spielen, die unter dem Dach dieses Buches zusammengezimmert sind, paradiesisch sein? Sie spielen alle am Washington Square in New York, mithin an einem Ort mit Symbolgeschichte. Hier haben die Vereinigten Staaten zur Selbstfeier ihre Version des Triumphbogens gebaut, hier versammelte sich einst die progressive Folkszene und fand so manche bedeutende Kundgebung oder Protestaktion statt. Zudem gab der Washington Square einem Roman von Henry James seinen Titel und einigen Filmen den Schauplatz, an dem sich etwa Jane Fonda und Robert Redford neckten oder Marvel-Comic-Helden prügelten. Aber im Jahr 2077, so erfahren wir im letzten Teil des Buches von Hanya Yanagihara, kommen Bulldozer und machen die Reste der Bebauung des Washington Square platt, reißen die letzten Bäume aus, und "im übrigen Park gießen Arbeiter den ganzen Tag Bereiche mit Zement aus, die einmal mit Gras bewachsen waren". Kein Paradies also.
Und doch endet jeder der drei Teile programmatisch mit den Worten "Zum Paradies". Dieses Strukturelement unterstreicht, dass Yanagihara drei Varianten einer Geschichte erzählt - nur zu verschiedenen Zeiten: am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im ersten Teil, am Ende des zwanzigsten im zweiten und am Ende des einundzwanzigsten im dritten. Auf ihre Weise sind diese Geschichten Märchen, wenn auch sehr lang geratene.
Das erste Märchen, mit dem Titel "Washington Square", ist eines der Liebe und spielt um 1893 in einem New York der kontrafaktischen Geschichtsfiktion: In den sogenannten "Free States" sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt und ganz normal. Diese Normalität tritt in Kontrast zur ansonsten konventionellen, ja fast überkandidelt antiquierten Erzählung, in der es "nach Möbelwachs und Lilien" duftet, "nach Earl Grey und Feuer". Aber das Feuer der Liebe lodert dennoch zwischen den Falschen: Denn der wohlhabende Jüngling David Bingham möchte nicht den ihm zugedachten Edelmann Charles heiraten, sondern einen armen Einwanderer namens Edward. Das gefällt dem Großvater nicht, der David zu enterben droht. Am Ende steht der mit gepackten Koffern vor dem "ersten Schritt in ein neues Leben": Er wird mit Edward nach Kalifornien ausbüxen.
Das zweite Märchen, mit dem Titel "Lipo-Wao-Nahele", ist eines der Herkunft und handelt auch von einem David, aber diesmal ist er mit Charles zusammen, dem älteren, reiferen Mann, der 1993 einen Butler hat und mit HIV infiziert ist. Sie leben in einem Männerzirkel voller Luxus und mit einem echten Jasper Johns über dem Sofa, aber das erfüllt David dann doch nicht, der sich immer mehr für seine Vorfahren auf Hawaii interessiert. Dann erzählt über eine sehr lange Strecke Davids im Koma liegender Großvater, den die Romanfiguren nicht hören können, dem die Leser aber zuhören müssen, ein eigenes Märchen von Hawaii.
Erst danach beginnt das dritte Märchen, mit dem Titel "Zone Acht". Es ist das des Abstiegs und noch einmal doppelt so lang wie die beiden davor. In wilden Zeitsprüngen und teils in Form seitenlanger Briefe der Figuren durchmisst es ein weiteres Jahrhundert bis 2094. Dieses Säkulum ist voller Pandemien, voll schlimmer Folgen des Klimawandels, die Welt ist unterteilt in Zonen für Privilegierte und Internierungslager für Kranke und Schwache. Bürger werden überwacht und drangsaliert, alle Grünlandschaft ist Nutzfläche, und die Idee eines "Parks", der zur Erholung dient, in dieser Zukunft gar nicht mehr nachvollziehbar. Die Eichhörnchen hat es schon dahingerafft, die Menschen strampeln noch: Sie geraten hier in die Zwickmühle zwischen Wissenschaft und Humanismus, zwischen Nächstenliebe und Selbsterhaltungstrieb. Das Märchen endet mit dem Brief eines zum Tode Verurteilten, der sich wegwünscht aus einem "verrotteten" New York in ein Paradies namens Neu-Britannien.
Das Paradies ist also immer anderswo: Hanya Yanagihara, die 1974 als Tochter eines Hawaiianers und einer Südkoreanerin in Los Angeles geboren wurde und heute Magazinredakteurin der "New York Times" ist, zielt mit dieser wenig überraschenden Erkenntnis offenbar dezidiert auf die amerikanischen Versprechen, die für viele unverwirklicht geblieben sind. Das ist bei den beschriebenen Einzelthemen ihres Romans durchaus interessant, aber wie sie hier alle zusammengeführt werden, hat doch etwas arg Willkürliches.
Es gibt an Yanagiharas Erzählmittelpunkt auch ein aufschlussreiches Moment der Selbstreferenzialität: In der düsteren Zukunft treten am Washington Square "Geschichtenerzähler" auf, die für Geld unterhalten und belehren sollen. "Verschiedene Geschichtenerzähler erzählten verschiedene Arten von Geschichten. Man ging zu einem, wenn man Liebesgeschichten mochte, und zu einem anderen, wenn man Märchen mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man Tiergeschichten mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man sich für Geschichte interessierte." Hanya Yanagiharas Anspruch ist offenbar, all dies auf einmal zu leisten. Aber mit ihrer Multifunktionserzählung über Queerness, Kolonialismus und Gesundheitsdiktatur übernimmt sie sich.
Stilistisch ist der Roman wenig reizvoll, es mangelt an sprachlicher Präzision. Ständig werden rhetorische Fragen beantwortet, werden Dinge wiederholt, wird Belangloses episch ausgebreitet. Dann wieder gibt es, wie der folgende Mammutsatz illustrieren mag, auch einen Überschuss an Stil, bei dem man sich aber fragt, zu welchem Zweck eigentlich. Bitte anschnallen: "Und so begann er, Edward mit aufrichtiger Sehnsucht zu befragen, danach, wer er war und wie er dazu gekommen war, dieses Leben zu leben, und als Edward sprach, so natürlich und fließend, als hätte er Jahre darauf gewartet, dass David in sein Leben trat und ihn befragte, wurde David sich, noch während er Edward interessiert zuhörte, bewusst, dass er einen neuen und unangenehmen Stolz empfand - darauf, dass er an diesem unwahrscheinlichen Ort war und dass er mit einem fremden und unwahrscheinlichen Mann sprach und dass er, auch wenn er sehen konnte, dass hinter dem nebelverschmierten Fenster der Himmel schwarz wurde, und auch wenn sein Großvater sich daher zum Abendessen niederlassen und sich fragen würde, wo er war, keine Anstalten machte, sich zu empfehlen, keine Anstalten zu gehen."
Ein interpretatorischer Reiz mag allenfalls darin bestehen, herauszufinden, wer gerade spricht (was oft maximal verunklart wird) oder ob und wie die Figuren der verschiedenen Romanteile miteinander verwandt sind - aber was das eigentlich Literarische angeht, also emotionale Schattierungen, Ambivalenzen oder gar Ironie, ist diese Prosa erstaunlich arm. Von Humor ganz zu schweigen.
Bei Yanagiharas viel gepriesenem und umstrittenem Roman "Ein wenig Leben" (F.A.Z. vom 28. Januar 2017), der ausführlichst vom körperlichen und seelischen Missbrauch an seinem Protagonisten erzählt, hat die Autorin, wie etwa im "Guardian" berichtet wurde, Debatten mit ihrem Lektor darüber geführt, "wie viel ein Leser ertragen kann". Die Frage stellt sich auch angesichts des neuen Buches - hier jedoch nicht in Bezug auf Drastik, sondern nur auf die schiere Länge und frappierende Umständlichkeit der Erzählung. JAN WIELE
Hanya Yanagihara: "Zum Paradies". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Claassen Verlag, Berlin 2022. 896 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor fünf Jahren machte sie mit "Ein wenig Leben" international Furore. Der Roman spaltete wegen seiner Drastik das Publikum. Jetzt spannt Hanya Yanagihara mit ihrem neuen Amerika-Roman auf wieder fast neunhundert Seiten einen Bogen über drei Jahrhunderte - und uns auf die Folter.
Was hat dieses neunhundertseitige Buch, das den Titel "Zum Paradies" trägt, damit zu tun? Ein Leseparadies ist es schon mal nicht, eher eine bisweilen endlos scheinende Textsteppe gewundener Sätze mit verschachtelten Untergliederungen, die einen oft den Faden verlieren lassen. Eine Parodie des psychologischen Romans, wie bereits vermutet wurde? Auch das würde die Lektüre nicht angenehmer machen.
Oder soll der Ort, an dem die drei Romane spielen, die unter dem Dach dieses Buches zusammengezimmert sind, paradiesisch sein? Sie spielen alle am Washington Square in New York, mithin an einem Ort mit Symbolgeschichte. Hier haben die Vereinigten Staaten zur Selbstfeier ihre Version des Triumphbogens gebaut, hier versammelte sich einst die progressive Folkszene und fand so manche bedeutende Kundgebung oder Protestaktion statt. Zudem gab der Washington Square einem Roman von Henry James seinen Titel und einigen Filmen den Schauplatz, an dem sich etwa Jane Fonda und Robert Redford neckten oder Marvel-Comic-Helden prügelten. Aber im Jahr 2077, so erfahren wir im letzten Teil des Buches von Hanya Yanagihara, kommen Bulldozer und machen die Reste der Bebauung des Washington Square platt, reißen die letzten Bäume aus, und "im übrigen Park gießen Arbeiter den ganzen Tag Bereiche mit Zement aus, die einmal mit Gras bewachsen waren". Kein Paradies also.
Und doch endet jeder der drei Teile programmatisch mit den Worten "Zum Paradies". Dieses Strukturelement unterstreicht, dass Yanagihara drei Varianten einer Geschichte erzählt - nur zu verschiedenen Zeiten: am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im ersten Teil, am Ende des zwanzigsten im zweiten und am Ende des einundzwanzigsten im dritten. Auf ihre Weise sind diese Geschichten Märchen, wenn auch sehr lang geratene.
Das erste Märchen, mit dem Titel "Washington Square", ist eines der Liebe und spielt um 1893 in einem New York der kontrafaktischen Geschichtsfiktion: In den sogenannten "Free States" sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt und ganz normal. Diese Normalität tritt in Kontrast zur ansonsten konventionellen, ja fast überkandidelt antiquierten Erzählung, in der es "nach Möbelwachs und Lilien" duftet, "nach Earl Grey und Feuer". Aber das Feuer der Liebe lodert dennoch zwischen den Falschen: Denn der wohlhabende Jüngling David Bingham möchte nicht den ihm zugedachten Edelmann Charles heiraten, sondern einen armen Einwanderer namens Edward. Das gefällt dem Großvater nicht, der David zu enterben droht. Am Ende steht der mit gepackten Koffern vor dem "ersten Schritt in ein neues Leben": Er wird mit Edward nach Kalifornien ausbüxen.
Das zweite Märchen, mit dem Titel "Lipo-Wao-Nahele", ist eines der Herkunft und handelt auch von einem David, aber diesmal ist er mit Charles zusammen, dem älteren, reiferen Mann, der 1993 einen Butler hat und mit HIV infiziert ist. Sie leben in einem Männerzirkel voller Luxus und mit einem echten Jasper Johns über dem Sofa, aber das erfüllt David dann doch nicht, der sich immer mehr für seine Vorfahren auf Hawaii interessiert. Dann erzählt über eine sehr lange Strecke Davids im Koma liegender Großvater, den die Romanfiguren nicht hören können, dem die Leser aber zuhören müssen, ein eigenes Märchen von Hawaii.
Erst danach beginnt das dritte Märchen, mit dem Titel "Zone Acht". Es ist das des Abstiegs und noch einmal doppelt so lang wie die beiden davor. In wilden Zeitsprüngen und teils in Form seitenlanger Briefe der Figuren durchmisst es ein weiteres Jahrhundert bis 2094. Dieses Säkulum ist voller Pandemien, voll schlimmer Folgen des Klimawandels, die Welt ist unterteilt in Zonen für Privilegierte und Internierungslager für Kranke und Schwache. Bürger werden überwacht und drangsaliert, alle Grünlandschaft ist Nutzfläche, und die Idee eines "Parks", der zur Erholung dient, in dieser Zukunft gar nicht mehr nachvollziehbar. Die Eichhörnchen hat es schon dahingerafft, die Menschen strampeln noch: Sie geraten hier in die Zwickmühle zwischen Wissenschaft und Humanismus, zwischen Nächstenliebe und Selbsterhaltungstrieb. Das Märchen endet mit dem Brief eines zum Tode Verurteilten, der sich wegwünscht aus einem "verrotteten" New York in ein Paradies namens Neu-Britannien.
Das Paradies ist also immer anderswo: Hanya Yanagihara, die 1974 als Tochter eines Hawaiianers und einer Südkoreanerin in Los Angeles geboren wurde und heute Magazinredakteurin der "New York Times" ist, zielt mit dieser wenig überraschenden Erkenntnis offenbar dezidiert auf die amerikanischen Versprechen, die für viele unverwirklicht geblieben sind. Das ist bei den beschriebenen Einzelthemen ihres Romans durchaus interessant, aber wie sie hier alle zusammengeführt werden, hat doch etwas arg Willkürliches.
Es gibt an Yanagiharas Erzählmittelpunkt auch ein aufschlussreiches Moment der Selbstreferenzialität: In der düsteren Zukunft treten am Washington Square "Geschichtenerzähler" auf, die für Geld unterhalten und belehren sollen. "Verschiedene Geschichtenerzähler erzählten verschiedene Arten von Geschichten. Man ging zu einem, wenn man Liebesgeschichten mochte, und zu einem anderen, wenn man Märchen mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man Tiergeschichten mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man sich für Geschichte interessierte." Hanya Yanagiharas Anspruch ist offenbar, all dies auf einmal zu leisten. Aber mit ihrer Multifunktionserzählung über Queerness, Kolonialismus und Gesundheitsdiktatur übernimmt sie sich.
Stilistisch ist der Roman wenig reizvoll, es mangelt an sprachlicher Präzision. Ständig werden rhetorische Fragen beantwortet, werden Dinge wiederholt, wird Belangloses episch ausgebreitet. Dann wieder gibt es, wie der folgende Mammutsatz illustrieren mag, auch einen Überschuss an Stil, bei dem man sich aber fragt, zu welchem Zweck eigentlich. Bitte anschnallen: "Und so begann er, Edward mit aufrichtiger Sehnsucht zu befragen, danach, wer er war und wie er dazu gekommen war, dieses Leben zu leben, und als Edward sprach, so natürlich und fließend, als hätte er Jahre darauf gewartet, dass David in sein Leben trat und ihn befragte, wurde David sich, noch während er Edward interessiert zuhörte, bewusst, dass er einen neuen und unangenehmen Stolz empfand - darauf, dass er an diesem unwahrscheinlichen Ort war und dass er mit einem fremden und unwahrscheinlichen Mann sprach und dass er, auch wenn er sehen konnte, dass hinter dem nebelverschmierten Fenster der Himmel schwarz wurde, und auch wenn sein Großvater sich daher zum Abendessen niederlassen und sich fragen würde, wo er war, keine Anstalten machte, sich zu empfehlen, keine Anstalten zu gehen."
Ein interpretatorischer Reiz mag allenfalls darin bestehen, herauszufinden, wer gerade spricht (was oft maximal verunklart wird) oder ob und wie die Figuren der verschiedenen Romanteile miteinander verwandt sind - aber was das eigentlich Literarische angeht, also emotionale Schattierungen, Ambivalenzen oder gar Ironie, ist diese Prosa erstaunlich arm. Von Humor ganz zu schweigen.
Bei Yanagiharas viel gepriesenem und umstrittenem Roman "Ein wenig Leben" (F.A.Z. vom 28. Januar 2017), der ausführlichst vom körperlichen und seelischen Missbrauch an seinem Protagonisten erzählt, hat die Autorin, wie etwa im "Guardian" berichtet wurde, Debatten mit ihrem Lektor darüber geführt, "wie viel ein Leser ertragen kann". Die Frage stellt sich auch angesichts des neuen Buches - hier jedoch nicht in Bezug auf Drastik, sondern nur auf die schiere Länge und frappierende Umständlichkeit der Erzählung. JAN WIELE
Hanya Yanagihara: "Zum Paradies". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Claassen Verlag, Berlin 2022. 896 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2022Einwohner im
Land der Kranken
Mit ihrem dritten Roman „Zum Paradies“
manipuliert Hanya Yanagiharas die
Emotionen ihres Publikums wieder meisterlich.
Wie macht sie das eigentlich?
VON MIRYAM SCHELLBACH
Es ist das Jahr 1893, und David Bingham, schwerreicher Erbe einer Banker-Dynastie, dreht eine nachmittägliche Runde am Washington Square, bevor er sich zum Tee mit seinem Großvater ins heimische Townhouse begibt. Ohnehin spielt alles, was in Hanya Yanagiharas mit großer Spannung erwartetem Roman „Zum Paradies“ geschieht, in und um diesen feinen New Yorker Park.
Es ist keine schlechte Idee, einen solchen Ort in den Mittelpunkt eines Buches zu stellen, dessen Handlung sich durch drei Jahrhunderte zieht und das ein Figurenarsenal hat, größer als eine Fußballmannschaft. Denn Plätze sind geografische Glutzentren, sie verraten, wie es um das Schicksal einer Stadt bestellt ist: Revolutionen beginnen, manche enden dort, Dissidenten werden hingerichtet und Schmugglerware angeboten. Ungefähr all das passiert in diesem als Triptychon angelegten Roman, dessen drei „Bücher“ in die Jahre 1893, 1993 und 2094 führen. Aber abgesehen davon, dass es sowohl in der Literatur als auch im Geschichtsbewusstsein im Allgemeinen geradeaus geht, ein Jahrhundert auf das andere folgt, wird man bis zum Ende des Buches keine eindeutige Antwort darauf finden, wie die drei Teile zusammenhängen.
Hanya Yanagihara hat schon einen extrem erfolgreichen Roman geschrieben. „Ein wenig Leben“ war 2015 als „the great gay novel“ des 21. Jahrhunderts bezeichnet worden, weil in ihren Geschichten Homosexualität die Norm bildet und Freundschaft ein höherer Wert ist als amouröse Liebe. Auch jetzt, im nächsten Roman, wird beiläufig eingestreut, dass David, ebenso wie sein Großvater, Männer liebt. „Arrangierte Ehen erforderten zwangsläufig eine Beschleunigung von Vertraulichkeiten und folglich ein Wegfallen der üblichen Schicklichkeiten“, kommentiert der Erzähler, denn David, den eine kränkliche Konstitution schwer vermittelbar macht, soll verheiratet werden. Was wie eine Henry-James-Kulisse von Ehearrangement, aristokratischer Autorität und heimlicher Leidenschaft wirkt, entpuppt sich als Episode aus einer alternativen Historie. Auch arrangiert wird unter gleichgeschlechtlichen Partnern, im Freistaat New York ist homosexuelle Liebe die Norm, Adoptionen sind die Regel und Blutsbande bedeutungslos. Und der Schauplatz ist keine Stadt mehr, sondern ein unabhängiger Staat, eine der letzten Bastionen freiheitlichen Denkens inmitten repressiver, durch Kriege zerrütteter Nachbarländer.
Hanya Yanagihara trifft stilistisch fast den Ton des klassischen amerikanischen Realismus. Wie aus einer zeitgenössischen Innensicht des späten 19. Jahrhunderts ergießt sie sich seitenlang in Schilderungen der sozialen Etikette und kontrastiert sie mit der „Wildheit der Gefühle“, wie es einmal manieriert heißt. Es wird dann doch noch etwas Henry-James-haft, wenn David statt des ihm zugedachten Geschäftsmanns einen heiratsschwindelnden Musiklehrer liebt, der ihn in Lebensgefahr bringt. Dies vorweg: Mit keiner der Figuren in diesem Buch geht es gut aus.
Noch für etwas anderes war Yanagiharas letzter Roman in Erinnerung geblieben. Sie hat Maßstäbe gesetzt für etwas, das in der Literaturwissenschaft der „rezeptive Affekt“ genannt wird. Wer über Yanagihara sprach, redete über Trauma und Trauer, Emotionen beim Lesen und einen abhängig machenden Erzählsog. Ungewohnt einstimmig streckte die Literaturkritik ihre Waffen. In einer Fernsehrunde gab ein bekannter Kritiker zu, er habe bei der Lektüre unendlich viel geweint. Da mag der Einwand, dass die Anzahl der geweinten Tränen ein schlechter Gradmesser für literarische Qualität ist, snobistisch wirken. Was aber macht Hanya Yanagihara zu einer so meisterlichen Herrscherin über ihre Leserinnen und Leser?
Die Antwort wird nicht gefallen. Es ist ein fein gesteuerter Zwang zum Affekt. Ausgeübt zunächst durch Überwältigung. Die wuchtige Konstruktion des Großromans, seine drei Teile, mehr als ein Dutzend Charaktere in verschiedenen historischen Formationen, die andeutungsreich immer wieder dieselben Namen tragen, verleihen ihm eine fast biblische Anmutung von Tiefe. Alle diese Figuren bekommen es mit wiederkehrenden Problemen zu tun: (un-)erfüllte Liebe, ein zu großes materielles oder ideelles Erbe, staatliche und gesellschaftliche Sanktion, Krankheit. Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Lebensentscheidungen der Menschen münden in verblüffend ähnliche Katastrophen.
Auf die Überwältigung folgt die Zerstörung, sie liegt in der Lebensbahn aller Charaktere Yanagiharas. Da ist im zweiten Buch etwa ein anderer David, Abkömmling der verarmten hawaiianischen Aristokratie. Er lebt bei seinem deutlich älteren Lebensgefährten in ebenjenem Townhouse am Washington Square. Nur hängt jetzt, es ist 1993, Pop-Art an den Wänden, und die Teetassen sind Champagnerflöten gewichen. Die Aidskrise hat New York erfasst, und der Freundeskreis findet sich zusammen, um einem Todkranken das letzte Mahl zu bereiten. Es ist eine Zeit, über die David sagen wird: „Wir funktionierten alle; das mussten wir. Wir gingen zu Beerdigungen und in Krankenhäuser, aber wir gingen auch zur Arbeit und auf Partys und besuchten Ausstellungen und machten Besorgungen und hatten Sex und Dates und waren jung und dumm.“ In dieser Abschiedsszene, der tiefsten des ganzen Buchs, herrscht ein Gefühl von Beklemmung inmitten von gespielter Fröhlichkeit. Es geht darum, einen Freund würdig in den Tod zu begleiten.
Als würde Yanagihara Schicht um Schicht einer fauligen Zwiebel entblättern, legt sie die Logik eines mehrfach gefährdeten Lebens frei. „Intersektionalität“, das sperrige Lieblingswort der kritischen Sozialwissenschaftler, könnte kaum erfassen, wie sich Herkunft, Alter, Hautfarbe, Bildung, Vermögen und Gesundheit, all diese uneigentlichen Begriffe, um das Leben dieses David schließen. Yanagihara wirkt als erzählerische Dirigentin, ihre auktoriale Erzählerin ist die Herrscherin über alle Binnengeschichten und das Wissen des Personals aus drei Jahrhunderten. Sie nutzt Einschübe, Rückblicke und Vorausdeutungen, montiert seitenlange Briefe in die Geschichte, sodass sich um diesen abschiedstraurigen New Yorker Moment ein ganzes Leben ansammelt.
Von Davids Vater, dem Kronprinzen, ist in einem Brief zu lesen, der seiner Mutter nicht auf den Thron folgen konnte, weil die Monarchie des Inselstaats Hawaii schon 1893 zerbrochen ist. Als sein Land dann zum 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika erklärt wird, schließt er sich einer ethnonationalistischen Befreiungsbewegung an. David, sein Sohn, bricht mit der Familie, geht nach New York und nimmt für die Freiheit von der kolonial zerfressenen Geschichte seines Landes den sozialen Abstieg im Ausland in Kauf, wo er, wie es eine Freundin einmal formuliert, kein Königsenkel, sondern ein „braunhäutiger Niemand“ ist. Lange nachdem er erst den Freund, dann seinen Geliebten in den Tod verabschiedet hat, wird sich auch David mit HIV infizieren.
Es heißt ja, Autorinnen müssten ihre Figuren lieben, auch die unsympathischen. Wenn Hanya Yanagihara liebt, zerstört sie. Nach und nach entfaltet sie vor allem den Selbsthass, den jede einzelne Figur gegen sich hegt, befeuert von einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder nach ethnischen, nach sexuellen und nach ökonomischen Kriterien sortiert. Die Davids in diesem Buch sind alle „Einwohner im Land der Kranken“, wie es einmal heißt.
Besonders im dritten, ausufernden Teil des Romans wird deutlich, dass sich seine Wucht der allmählichen, drastisch gezeichneten Zerstörung seines Personenarsenals verdankt. Es ist das Jahr 2094, am Ende eines Jahrhunderts der Pandemien. Das Townhouse am Washington Square ist staatlicher Besitz geworden, eine Sammelunterkunft für diejenigen, deren Beruf der nationalen Sicherheit dient: Wissenschaftler, Virologen, Epidemiologen.
Charlie, die einzige weibliche Hauptfigur in diesem Roman, lebt mit ihrem Mann, auch dies ist eine arrangierte Ehe, in einer dieser Parzellen. Um sie herum zeichnet Yanagihara ein dystopisches Bild eines erschöpften Jahrhunderts. Eine Pandemie nach der anderen hat die Stadt durchpeitscht. Die von 2020, heißt es einmal, sei noch die am wenigsten desaströse gewesen. Die sterile Gesellschaft in ihrer Vollendung: keine Berührungen, Dekontaminationskammern an allen Eingangstüren, Vitamin-D-Lampen für die Langzeitisolation, lagerartige Auffangstationen für die Kranken außerhalb der Stadt. Das Internet ist wegen der vielen Fehlinformationen längst verboten, Bücher sind Schmuggelware. Auf dem Rücken der Wissenschaft, die staatlich gelenkt wird, ist ein totalitäres System entstanden, seine immerwährende Daseinsberechtigung ist die Gesundheit der Nation.
Charlie ist von einer der vergangenen Pandemien gezeichnet. Für kurze Zeit mit einem schweren Medikament behandelt, ist sie seitdem nicht mehr in der Lage, Emotionen zu formulieren. Weil Yanagiharas Erzählstimme sich an der Perspektive ihrer Figuren orientiert, kippt der Stil ins mechanisch Repetitive, wie man es auch aus den Dystopien eines Kazuo Ishiguro kennt.
Neu ist an Yanagiharas Konstruktion überhaupt wenig. Von Alternativvergangenheiten zu erzählen, ist ein beliebtes Mittel populärer Serien. Wie etwa in „Bridgerton“ auf Netflix eine schwarze Königsfamilie in die britische Aristokratie hineinimaginiert wird. Auch Jahrhunderte umfassende Großromane mitsamt der stilistischen Varianz von historischen bis zu Science-Fiction-Elementen hat es schon gegeben. Der Brite David Mitchell beispielsweise hat in „Der Wolkenatlas“ erzählerisch Anspruch gleich auf ganze Jahrtausende erhoben.
Im Vergleich dazu hat Yanagihara eine der fantasieärmeren Dystopien geschrieben, denn die literarische Projektion unserer pandemischen Gegenwart auf diese New Yorker Zukunft ist ihr fast zu überraschungsfrei geraten. Wer in einem Roman oder in einer Serie nur wenige Bauteile ändert und zu sehr am Bekannten festhält, verdoppelt es nur, die Angelegenheit kippt ins Revisionistische. In schwachen Momenten wirkt „Zum Paradies“ wie die literarische Version der Fantasien der Covid-Leugner-Bewegung. Das Reizvolle an realer oder erdachter Historie als Stoff wäre aber, dass sie kontingent ist, alternative Vergangenheiten und Zukünfte dürfen reich und fremd sein. Die Gegenwartsähnlichkeit von Yanagiharas Zukunftsversion beschwert ihren Roman mit Gewichten, so wie sie ihren Figuren schwere Schicksale umhängt.
Ihre poetische Strategie dabei ist die Überwältigung. Und den Zustand höchster psychophysischer Erregung beim Lesen dieses Romans nennt man Spannung. Diesen Effekt erzielt sie so meisterlich wie wenige andere Schriftstellerinnen der Gegenwart. Daran ist nichts verwerflich. Aber Spannung ist das Gegenteil von Neugier. Und Neugier, also intellektuelle Hingabe, ist die Bedingung dafür, dass eine Geschichte im Gedächtnis wachsen kann.
Die Lebensentscheidungen der
Menschen münden in verblüffend
ähnlichen Katastrophen
Der dritte Teil spielt im
Jahr 2094, am Ende eines
Jahrhunderts der Pandemien
An Spannung ist nichts
verwerflich, aber sie ist das
Gegenteil von Neugier
Hanya Yanagihara:
Zum Paradies. Roman.
Aus dem Englischen
von Stephan Kleiner.
Claassen, Berlin 2021.
896 Seiten, 30 Euro.
Hanya Yanagiharas Roman „Zum Paradies“ spielt in drei Jahrhunderten, aber immer an diesem Ort: der Washington Square in Manhattan.
Foto: Sabrina Wassef/EyeEm/mauritius
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Land der Kranken
Mit ihrem dritten Roman „Zum Paradies“
manipuliert Hanya Yanagiharas die
Emotionen ihres Publikums wieder meisterlich.
Wie macht sie das eigentlich?
VON MIRYAM SCHELLBACH
Es ist das Jahr 1893, und David Bingham, schwerreicher Erbe einer Banker-Dynastie, dreht eine nachmittägliche Runde am Washington Square, bevor er sich zum Tee mit seinem Großvater ins heimische Townhouse begibt. Ohnehin spielt alles, was in Hanya Yanagiharas mit großer Spannung erwartetem Roman „Zum Paradies“ geschieht, in und um diesen feinen New Yorker Park.
Es ist keine schlechte Idee, einen solchen Ort in den Mittelpunkt eines Buches zu stellen, dessen Handlung sich durch drei Jahrhunderte zieht und das ein Figurenarsenal hat, größer als eine Fußballmannschaft. Denn Plätze sind geografische Glutzentren, sie verraten, wie es um das Schicksal einer Stadt bestellt ist: Revolutionen beginnen, manche enden dort, Dissidenten werden hingerichtet und Schmugglerware angeboten. Ungefähr all das passiert in diesem als Triptychon angelegten Roman, dessen drei „Bücher“ in die Jahre 1893, 1993 und 2094 führen. Aber abgesehen davon, dass es sowohl in der Literatur als auch im Geschichtsbewusstsein im Allgemeinen geradeaus geht, ein Jahrhundert auf das andere folgt, wird man bis zum Ende des Buches keine eindeutige Antwort darauf finden, wie die drei Teile zusammenhängen.
Hanya Yanagihara hat schon einen extrem erfolgreichen Roman geschrieben. „Ein wenig Leben“ war 2015 als „the great gay novel“ des 21. Jahrhunderts bezeichnet worden, weil in ihren Geschichten Homosexualität die Norm bildet und Freundschaft ein höherer Wert ist als amouröse Liebe. Auch jetzt, im nächsten Roman, wird beiläufig eingestreut, dass David, ebenso wie sein Großvater, Männer liebt. „Arrangierte Ehen erforderten zwangsläufig eine Beschleunigung von Vertraulichkeiten und folglich ein Wegfallen der üblichen Schicklichkeiten“, kommentiert der Erzähler, denn David, den eine kränkliche Konstitution schwer vermittelbar macht, soll verheiratet werden. Was wie eine Henry-James-Kulisse von Ehearrangement, aristokratischer Autorität und heimlicher Leidenschaft wirkt, entpuppt sich als Episode aus einer alternativen Historie. Auch arrangiert wird unter gleichgeschlechtlichen Partnern, im Freistaat New York ist homosexuelle Liebe die Norm, Adoptionen sind die Regel und Blutsbande bedeutungslos. Und der Schauplatz ist keine Stadt mehr, sondern ein unabhängiger Staat, eine der letzten Bastionen freiheitlichen Denkens inmitten repressiver, durch Kriege zerrütteter Nachbarländer.
Hanya Yanagihara trifft stilistisch fast den Ton des klassischen amerikanischen Realismus. Wie aus einer zeitgenössischen Innensicht des späten 19. Jahrhunderts ergießt sie sich seitenlang in Schilderungen der sozialen Etikette und kontrastiert sie mit der „Wildheit der Gefühle“, wie es einmal manieriert heißt. Es wird dann doch noch etwas Henry-James-haft, wenn David statt des ihm zugedachten Geschäftsmanns einen heiratsschwindelnden Musiklehrer liebt, der ihn in Lebensgefahr bringt. Dies vorweg: Mit keiner der Figuren in diesem Buch geht es gut aus.
Noch für etwas anderes war Yanagiharas letzter Roman in Erinnerung geblieben. Sie hat Maßstäbe gesetzt für etwas, das in der Literaturwissenschaft der „rezeptive Affekt“ genannt wird. Wer über Yanagihara sprach, redete über Trauma und Trauer, Emotionen beim Lesen und einen abhängig machenden Erzählsog. Ungewohnt einstimmig streckte die Literaturkritik ihre Waffen. In einer Fernsehrunde gab ein bekannter Kritiker zu, er habe bei der Lektüre unendlich viel geweint. Da mag der Einwand, dass die Anzahl der geweinten Tränen ein schlechter Gradmesser für literarische Qualität ist, snobistisch wirken. Was aber macht Hanya Yanagihara zu einer so meisterlichen Herrscherin über ihre Leserinnen und Leser?
Die Antwort wird nicht gefallen. Es ist ein fein gesteuerter Zwang zum Affekt. Ausgeübt zunächst durch Überwältigung. Die wuchtige Konstruktion des Großromans, seine drei Teile, mehr als ein Dutzend Charaktere in verschiedenen historischen Formationen, die andeutungsreich immer wieder dieselben Namen tragen, verleihen ihm eine fast biblische Anmutung von Tiefe. Alle diese Figuren bekommen es mit wiederkehrenden Problemen zu tun: (un-)erfüllte Liebe, ein zu großes materielles oder ideelles Erbe, staatliche und gesellschaftliche Sanktion, Krankheit. Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Lebensentscheidungen der Menschen münden in verblüffend ähnliche Katastrophen.
Auf die Überwältigung folgt die Zerstörung, sie liegt in der Lebensbahn aller Charaktere Yanagiharas. Da ist im zweiten Buch etwa ein anderer David, Abkömmling der verarmten hawaiianischen Aristokratie. Er lebt bei seinem deutlich älteren Lebensgefährten in ebenjenem Townhouse am Washington Square. Nur hängt jetzt, es ist 1993, Pop-Art an den Wänden, und die Teetassen sind Champagnerflöten gewichen. Die Aidskrise hat New York erfasst, und der Freundeskreis findet sich zusammen, um einem Todkranken das letzte Mahl zu bereiten. Es ist eine Zeit, über die David sagen wird: „Wir funktionierten alle; das mussten wir. Wir gingen zu Beerdigungen und in Krankenhäuser, aber wir gingen auch zur Arbeit und auf Partys und besuchten Ausstellungen und machten Besorgungen und hatten Sex und Dates und waren jung und dumm.“ In dieser Abschiedsszene, der tiefsten des ganzen Buchs, herrscht ein Gefühl von Beklemmung inmitten von gespielter Fröhlichkeit. Es geht darum, einen Freund würdig in den Tod zu begleiten.
Als würde Yanagihara Schicht um Schicht einer fauligen Zwiebel entblättern, legt sie die Logik eines mehrfach gefährdeten Lebens frei. „Intersektionalität“, das sperrige Lieblingswort der kritischen Sozialwissenschaftler, könnte kaum erfassen, wie sich Herkunft, Alter, Hautfarbe, Bildung, Vermögen und Gesundheit, all diese uneigentlichen Begriffe, um das Leben dieses David schließen. Yanagihara wirkt als erzählerische Dirigentin, ihre auktoriale Erzählerin ist die Herrscherin über alle Binnengeschichten und das Wissen des Personals aus drei Jahrhunderten. Sie nutzt Einschübe, Rückblicke und Vorausdeutungen, montiert seitenlange Briefe in die Geschichte, sodass sich um diesen abschiedstraurigen New Yorker Moment ein ganzes Leben ansammelt.
Von Davids Vater, dem Kronprinzen, ist in einem Brief zu lesen, der seiner Mutter nicht auf den Thron folgen konnte, weil die Monarchie des Inselstaats Hawaii schon 1893 zerbrochen ist. Als sein Land dann zum 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika erklärt wird, schließt er sich einer ethnonationalistischen Befreiungsbewegung an. David, sein Sohn, bricht mit der Familie, geht nach New York und nimmt für die Freiheit von der kolonial zerfressenen Geschichte seines Landes den sozialen Abstieg im Ausland in Kauf, wo er, wie es eine Freundin einmal formuliert, kein Königsenkel, sondern ein „braunhäutiger Niemand“ ist. Lange nachdem er erst den Freund, dann seinen Geliebten in den Tod verabschiedet hat, wird sich auch David mit HIV infizieren.
Es heißt ja, Autorinnen müssten ihre Figuren lieben, auch die unsympathischen. Wenn Hanya Yanagihara liebt, zerstört sie. Nach und nach entfaltet sie vor allem den Selbsthass, den jede einzelne Figur gegen sich hegt, befeuert von einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder nach ethnischen, nach sexuellen und nach ökonomischen Kriterien sortiert. Die Davids in diesem Buch sind alle „Einwohner im Land der Kranken“, wie es einmal heißt.
Besonders im dritten, ausufernden Teil des Romans wird deutlich, dass sich seine Wucht der allmählichen, drastisch gezeichneten Zerstörung seines Personenarsenals verdankt. Es ist das Jahr 2094, am Ende eines Jahrhunderts der Pandemien. Das Townhouse am Washington Square ist staatlicher Besitz geworden, eine Sammelunterkunft für diejenigen, deren Beruf der nationalen Sicherheit dient: Wissenschaftler, Virologen, Epidemiologen.
Charlie, die einzige weibliche Hauptfigur in diesem Roman, lebt mit ihrem Mann, auch dies ist eine arrangierte Ehe, in einer dieser Parzellen. Um sie herum zeichnet Yanagihara ein dystopisches Bild eines erschöpften Jahrhunderts. Eine Pandemie nach der anderen hat die Stadt durchpeitscht. Die von 2020, heißt es einmal, sei noch die am wenigsten desaströse gewesen. Die sterile Gesellschaft in ihrer Vollendung: keine Berührungen, Dekontaminationskammern an allen Eingangstüren, Vitamin-D-Lampen für die Langzeitisolation, lagerartige Auffangstationen für die Kranken außerhalb der Stadt. Das Internet ist wegen der vielen Fehlinformationen längst verboten, Bücher sind Schmuggelware. Auf dem Rücken der Wissenschaft, die staatlich gelenkt wird, ist ein totalitäres System entstanden, seine immerwährende Daseinsberechtigung ist die Gesundheit der Nation.
Charlie ist von einer der vergangenen Pandemien gezeichnet. Für kurze Zeit mit einem schweren Medikament behandelt, ist sie seitdem nicht mehr in der Lage, Emotionen zu formulieren. Weil Yanagiharas Erzählstimme sich an der Perspektive ihrer Figuren orientiert, kippt der Stil ins mechanisch Repetitive, wie man es auch aus den Dystopien eines Kazuo Ishiguro kennt.
Neu ist an Yanagiharas Konstruktion überhaupt wenig. Von Alternativvergangenheiten zu erzählen, ist ein beliebtes Mittel populärer Serien. Wie etwa in „Bridgerton“ auf Netflix eine schwarze Königsfamilie in die britische Aristokratie hineinimaginiert wird. Auch Jahrhunderte umfassende Großromane mitsamt der stilistischen Varianz von historischen bis zu Science-Fiction-Elementen hat es schon gegeben. Der Brite David Mitchell beispielsweise hat in „Der Wolkenatlas“ erzählerisch Anspruch gleich auf ganze Jahrtausende erhoben.
Im Vergleich dazu hat Yanagihara eine der fantasieärmeren Dystopien geschrieben, denn die literarische Projektion unserer pandemischen Gegenwart auf diese New Yorker Zukunft ist ihr fast zu überraschungsfrei geraten. Wer in einem Roman oder in einer Serie nur wenige Bauteile ändert und zu sehr am Bekannten festhält, verdoppelt es nur, die Angelegenheit kippt ins Revisionistische. In schwachen Momenten wirkt „Zum Paradies“ wie die literarische Version der Fantasien der Covid-Leugner-Bewegung. Das Reizvolle an realer oder erdachter Historie als Stoff wäre aber, dass sie kontingent ist, alternative Vergangenheiten und Zukünfte dürfen reich und fremd sein. Die Gegenwartsähnlichkeit von Yanagiharas Zukunftsversion beschwert ihren Roman mit Gewichten, so wie sie ihren Figuren schwere Schicksale umhängt.
Ihre poetische Strategie dabei ist die Überwältigung. Und den Zustand höchster psychophysischer Erregung beim Lesen dieses Romans nennt man Spannung. Diesen Effekt erzielt sie so meisterlich wie wenige andere Schriftstellerinnen der Gegenwart. Daran ist nichts verwerflich. Aber Spannung ist das Gegenteil von Neugier. Und Neugier, also intellektuelle Hingabe, ist die Bedingung dafür, dass eine Geschichte im Gedächtnis wachsen kann.
Die Lebensentscheidungen der
Menschen münden in verblüffend
ähnlichen Katastrophen
Der dritte Teil spielt im
Jahr 2094, am Ende eines
Jahrhunderts der Pandemien
An Spannung ist nichts
verwerflich, aber sie ist das
Gegenteil von Neugier
Hanya Yanagihara:
Zum Paradies. Roman.
Aus dem Englischen
von Stephan Kleiner.
Claassen, Berlin 2021.
896 Seiten, 30 Euro.
Hanya Yanagiharas Roman „Zum Paradies“ spielt in drei Jahrhunderten, aber immer an diesem Ort: der Washington Square in Manhattan.
Foto: Sabrina Wassef/EyeEm/mauritius
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»Ein verstörend großartiges Buch - bedingungslos klug und bestechend unausweichlich.« Jutta Duhm-Heitzmann WDR3 Lesestoff 20220112
Das Paradies ist anderswo
Vor fünf Jahren machte sie mit "Ein wenig Leben" international Furore. Der Roman spaltete wegen seiner Drastik das Publikum. Jetzt spannt Hanya Yanagihara mit ihrem neuen Amerika-Roman auf wieder fast neunhundert Seiten einen Bogen über drei Jahrhunderte - und uns auf die Folter.
Was hat dieses neunhundertseitige Buch, das den Titel "Zum Paradies" trägt, damit zu tun? Ein Leseparadies ist es schon mal nicht, eher eine bisweilen endlos scheinende Textsteppe gewundener Sätze mit verschachtelten Untergliederungen, die einen oft den Faden verlieren lassen. Eine Parodie des psychologischen Romans, wie bereits vermutet wurde? Auch das würde die Lektüre nicht angenehmer machen.
Oder soll der Ort, an dem die drei Romane spielen, die unter dem Dach dieses Buches zusammengezimmert sind, paradiesisch sein? Sie spielen alle am Washington Square in New York, mithin an einem Ort mit Symbolgeschichte. Hier haben die Vereinigten Staaten zur Selbstfeier ihre Version des Triumphbogens gebaut, hier versammelte sich einst die progressive Folkszene und fand so manche bedeutende Kundgebung oder Protestaktion statt. Zudem gab der Washington Square einem Roman von Henry James seinen Titel und einigen Filmen den Schauplatz, an dem sich etwa Jane Fonda und Robert Redford neckten oder Marvel-Comic-Helden prügelten. Aber im Jahr 2077, so erfahren wir im letzten Teil des Buches von Hanya Yanagihara, kommen Bulldozer und machen die Reste der Bebauung des Washington Square platt, reißen die letzten Bäume aus, und "im übrigen Park gießen Arbeiter den ganzen Tag Bereiche mit Zement aus, die einmal mit Gras bewachsen waren". Kein Paradies also.
Und doch endet jeder der drei Teile programmatisch mit den Worten "Zum Paradies". Dieses Strukturelement unterstreicht, dass Yanagihara drei Varianten einer Geschichte erzählt - nur zu verschiedenen Zeiten: am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im ersten Teil, am Ende des zwanzigsten im zweiten und am Ende des einundzwanzigsten im dritten. Auf ihre Weise sind diese Geschichten Märchen, wenn auch sehr lang geratene.
Das erste Märchen, mit dem Titel "Washington Square", ist eines der Liebe und spielt um 1893 in einem New York der kontrafaktischen Geschichtsfiktion: In den sogenannten "Free States" sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt und ganz normal. Diese Normalität tritt in Kontrast zur ansonsten konventionellen, ja fast überkandidelt antiquierten Erzählung, in der es "nach Möbelwachs und Lilien" duftet, "nach Earl Grey und Feuer". Aber das Feuer der Liebe lodert dennoch zwischen den Falschen: Denn der wohlhabende Jüngling David Bingham möchte nicht den ihm zugedachten Edelmann Charles heiraten, sondern einen armen Einwanderer namens Edward. Das gefällt dem Großvater nicht, der David zu enterben droht. Am Ende steht der mit gepackten Koffern vor dem "ersten Schritt in ein neues Leben": Er wird mit Edward nach Kalifornien ausbüxen.
Das zweite Märchen, mit dem Titel "Lipo-Wao-Nahele", ist eines der Herkunft und handelt auch von einem David, aber diesmal ist er mit Charles zusammen, dem älteren, reiferen Mann, der 1993 einen Butler hat und mit HIV infiziert ist. Sie leben in einem Männerzirkel voller Luxus und mit einem echten Jasper Johns über dem Sofa, aber das erfüllt David dann doch nicht, der sich immer mehr für seine Vorfahren auf Hawaii interessiert. Dann erzählt über eine sehr lange Strecke Davids im Koma liegender Großvater, den die Romanfiguren nicht hören können, dem die Leser aber zuhören müssen, ein eigenes Märchen von Hawaii.
Erst danach beginnt das dritte Märchen, mit dem Titel "Zone Acht". Es ist das des Abstiegs und noch einmal doppelt so lang wie die beiden davor. In wilden Zeitsprüngen und teils in Form seitenlanger Briefe der Figuren durchmisst es ein weiteres Jahrhundert bis 2094. Dieses Säkulum ist voller Pandemien, voll schlimmer Folgen des Klimawandels, die Welt ist unterteilt in Zonen für Privilegierte und Internierungslager für Kranke und Schwache. Bürger werden überwacht und drangsaliert, alle Grünlandschaft ist Nutzfläche, und die Idee eines "Parks", der zur Erholung dient, in dieser Zukunft gar nicht mehr nachvollziehbar. Die Eichhörnchen hat es schon dahingerafft, die Menschen strampeln noch: Sie geraten hier in die Zwickmühle zwischen Wissenschaft und Humanismus, zwischen Nächstenliebe und Selbsterhaltungstrieb. Das Märchen endet mit dem Brief eines zum Tode Verurteilten, der sich wegwünscht aus einem "verrotteten" New York in ein Paradies namens Neu-Britannien.
Das Paradies ist also immer anderswo: Hanya Yanagihara, die 1974 als Tochter eines Hawaiianers und einer Südkoreanerin in Los Angeles geboren wurde und heute Magazinredakteurin der "New York Times" ist, zielt mit dieser wenig überraschenden Erkenntnis offenbar dezidiert auf die amerikanischen Versprechen, die für viele unverwirklicht geblieben sind. Das ist bei den beschriebenen Einzelthemen ihres Romans durchaus interessant, aber wie sie hier alle zusammengeführt werden, hat doch etwas arg Willkürliches.
Es gibt an Yanagiharas Erzählmittelpunkt auch ein aufschlussreiches Moment der Selbstreferenzialität: In der düsteren Zukunft treten am Washington Square "Geschichtenerzähler" auf, die für Geld unterhalten und belehren sollen. "Verschiedene Geschichtenerzähler erzählten verschiedene Arten von Geschichten. Man ging zu einem, wenn man Liebesgeschichten mochte, und zu einem anderen, wenn man Märchen mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man Tiergeschichten mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man sich für Geschichte interessierte." Hanya Yanagiharas Anspruch ist offenbar, all dies auf einmal zu leisten. Aber mit ihrer Multifunktionserzählung über Queerness, Kolonialismus und Gesundheitsdiktatur übernimmt sie sich.
Stilistisch ist der Roman wenig reizvoll, es mangelt an sprachlicher Präzision. Ständig werden rhetorische Fragen beantwortet, werden Dinge wiederholt, wird Belangloses episch ausgebreitet. Dann wieder gibt es, wie der folgende Mammutsatz illustrieren mag, auch einen Überschuss an Stil, bei dem man sich aber fragt, zu welchem Zweck eigentlich. Bitte anschnallen: "Und so begann er, Edward mit aufrichtiger Sehnsucht zu befragen, danach, wer er war und wie er dazu gekommen war, dieses Leben zu leben, und als Edward sprach, so natürlich und fließend, als hätte er Jahre darauf gewartet, dass David in sein Leben trat und ihn befragte, wurde David sich, noch während er Edward interessiert zuhörte, bewusst, dass er einen neuen und unangenehmen Stolz empfand - darauf, dass er an diesem unwahrscheinlichen Ort war und dass er mit einem fremden und unwahrscheinlichen Mann sprach und dass er, auch wenn er sehen konnte, dass hinter dem nebelverschmierten Fenster der Himmel schwarz wurde, und auch wenn sein Großvater sich daher zum Abendessen niederlassen und sich fragen würde, wo er war, keine Anstalten machte, sich zu empfehlen, keine Anstalten zu gehen."
Ein interpretatorischer Reiz mag allenfalls darin bestehen, herauszufinden, wer gerade spricht (was oft maximal verunklart wird) oder ob und wie die Figuren der verschiedenen Romanteile miteinander verwandt sind - aber was das eigentlich Literarische angeht, also emotionale Schattierungen, Ambivalenzen oder gar Ironie, ist diese Prosa erstaunlich arm. Von Humor ganz zu schweigen.
Bei Yanagiharas viel gepriesenem und umstrittenem Roman "Ein wenig Leben" (F.A.Z. vom 28. Januar 2017), der ausführlichst vom körperlichen und seelischen Missbrauch an seinem Protagonisten erzählt, hat die Autorin, wie etwa im "Guardian" berichtet wurde, Debatten mit ihrem Lektor darüber geführt, "wie viel ein Leser ertragen kann". Die Frage stellt sich auch angesichts des neuen Buches - hier jedoch nicht in Bezug auf Drastik, sondern nur auf die schiere Länge und frappierende Umständlichkeit der Erzählung. JAN WIELE
Hanya Yanagihara: "Zum Paradies". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Claassen Verlag, Berlin 2022. 896 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor fünf Jahren machte sie mit "Ein wenig Leben" international Furore. Der Roman spaltete wegen seiner Drastik das Publikum. Jetzt spannt Hanya Yanagihara mit ihrem neuen Amerika-Roman auf wieder fast neunhundert Seiten einen Bogen über drei Jahrhunderte - und uns auf die Folter.
Was hat dieses neunhundertseitige Buch, das den Titel "Zum Paradies" trägt, damit zu tun? Ein Leseparadies ist es schon mal nicht, eher eine bisweilen endlos scheinende Textsteppe gewundener Sätze mit verschachtelten Untergliederungen, die einen oft den Faden verlieren lassen. Eine Parodie des psychologischen Romans, wie bereits vermutet wurde? Auch das würde die Lektüre nicht angenehmer machen.
Oder soll der Ort, an dem die drei Romane spielen, die unter dem Dach dieses Buches zusammengezimmert sind, paradiesisch sein? Sie spielen alle am Washington Square in New York, mithin an einem Ort mit Symbolgeschichte. Hier haben die Vereinigten Staaten zur Selbstfeier ihre Version des Triumphbogens gebaut, hier versammelte sich einst die progressive Folkszene und fand so manche bedeutende Kundgebung oder Protestaktion statt. Zudem gab der Washington Square einem Roman von Henry James seinen Titel und einigen Filmen den Schauplatz, an dem sich etwa Jane Fonda und Robert Redford neckten oder Marvel-Comic-Helden prügelten. Aber im Jahr 2077, so erfahren wir im letzten Teil des Buches von Hanya Yanagihara, kommen Bulldozer und machen die Reste der Bebauung des Washington Square platt, reißen die letzten Bäume aus, und "im übrigen Park gießen Arbeiter den ganzen Tag Bereiche mit Zement aus, die einmal mit Gras bewachsen waren". Kein Paradies also.
Und doch endet jeder der drei Teile programmatisch mit den Worten "Zum Paradies". Dieses Strukturelement unterstreicht, dass Yanagihara drei Varianten einer Geschichte erzählt - nur zu verschiedenen Zeiten: am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im ersten Teil, am Ende des zwanzigsten im zweiten und am Ende des einundzwanzigsten im dritten. Auf ihre Weise sind diese Geschichten Märchen, wenn auch sehr lang geratene.
Das erste Märchen, mit dem Titel "Washington Square", ist eines der Liebe und spielt um 1893 in einem New York der kontrafaktischen Geschichtsfiktion: In den sogenannten "Free States" sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt und ganz normal. Diese Normalität tritt in Kontrast zur ansonsten konventionellen, ja fast überkandidelt antiquierten Erzählung, in der es "nach Möbelwachs und Lilien" duftet, "nach Earl Grey und Feuer". Aber das Feuer der Liebe lodert dennoch zwischen den Falschen: Denn der wohlhabende Jüngling David Bingham möchte nicht den ihm zugedachten Edelmann Charles heiraten, sondern einen armen Einwanderer namens Edward. Das gefällt dem Großvater nicht, der David zu enterben droht. Am Ende steht der mit gepackten Koffern vor dem "ersten Schritt in ein neues Leben": Er wird mit Edward nach Kalifornien ausbüxen.
Das zweite Märchen, mit dem Titel "Lipo-Wao-Nahele", ist eines der Herkunft und handelt auch von einem David, aber diesmal ist er mit Charles zusammen, dem älteren, reiferen Mann, der 1993 einen Butler hat und mit HIV infiziert ist. Sie leben in einem Männerzirkel voller Luxus und mit einem echten Jasper Johns über dem Sofa, aber das erfüllt David dann doch nicht, der sich immer mehr für seine Vorfahren auf Hawaii interessiert. Dann erzählt über eine sehr lange Strecke Davids im Koma liegender Großvater, den die Romanfiguren nicht hören können, dem die Leser aber zuhören müssen, ein eigenes Märchen von Hawaii.
Erst danach beginnt das dritte Märchen, mit dem Titel "Zone Acht". Es ist das des Abstiegs und noch einmal doppelt so lang wie die beiden davor. In wilden Zeitsprüngen und teils in Form seitenlanger Briefe der Figuren durchmisst es ein weiteres Jahrhundert bis 2094. Dieses Säkulum ist voller Pandemien, voll schlimmer Folgen des Klimawandels, die Welt ist unterteilt in Zonen für Privilegierte und Internierungslager für Kranke und Schwache. Bürger werden überwacht und drangsaliert, alle Grünlandschaft ist Nutzfläche, und die Idee eines "Parks", der zur Erholung dient, in dieser Zukunft gar nicht mehr nachvollziehbar. Die Eichhörnchen hat es schon dahingerafft, die Menschen strampeln noch: Sie geraten hier in die Zwickmühle zwischen Wissenschaft und Humanismus, zwischen Nächstenliebe und Selbsterhaltungstrieb. Das Märchen endet mit dem Brief eines zum Tode Verurteilten, der sich wegwünscht aus einem "verrotteten" New York in ein Paradies namens Neu-Britannien.
Das Paradies ist also immer anderswo: Hanya Yanagihara, die 1974 als Tochter eines Hawaiianers und einer Südkoreanerin in Los Angeles geboren wurde und heute Magazinredakteurin der "New York Times" ist, zielt mit dieser wenig überraschenden Erkenntnis offenbar dezidiert auf die amerikanischen Versprechen, die für viele unverwirklicht geblieben sind. Das ist bei den beschriebenen Einzelthemen ihres Romans durchaus interessant, aber wie sie hier alle zusammengeführt werden, hat doch etwas arg Willkürliches.
Es gibt an Yanagiharas Erzählmittelpunkt auch ein aufschlussreiches Moment der Selbstreferenzialität: In der düsteren Zukunft treten am Washington Square "Geschichtenerzähler" auf, die für Geld unterhalten und belehren sollen. "Verschiedene Geschichtenerzähler erzählten verschiedene Arten von Geschichten. Man ging zu einem, wenn man Liebesgeschichten mochte, und zu einem anderen, wenn man Märchen mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man Tiergeschichten mochte, und wieder zu einem anderen, wenn man sich für Geschichte interessierte." Hanya Yanagiharas Anspruch ist offenbar, all dies auf einmal zu leisten. Aber mit ihrer Multifunktionserzählung über Queerness, Kolonialismus und Gesundheitsdiktatur übernimmt sie sich.
Stilistisch ist der Roman wenig reizvoll, es mangelt an sprachlicher Präzision. Ständig werden rhetorische Fragen beantwortet, werden Dinge wiederholt, wird Belangloses episch ausgebreitet. Dann wieder gibt es, wie der folgende Mammutsatz illustrieren mag, auch einen Überschuss an Stil, bei dem man sich aber fragt, zu welchem Zweck eigentlich. Bitte anschnallen: "Und so begann er, Edward mit aufrichtiger Sehnsucht zu befragen, danach, wer er war und wie er dazu gekommen war, dieses Leben zu leben, und als Edward sprach, so natürlich und fließend, als hätte er Jahre darauf gewartet, dass David in sein Leben trat und ihn befragte, wurde David sich, noch während er Edward interessiert zuhörte, bewusst, dass er einen neuen und unangenehmen Stolz empfand - darauf, dass er an diesem unwahrscheinlichen Ort war und dass er mit einem fremden und unwahrscheinlichen Mann sprach und dass er, auch wenn er sehen konnte, dass hinter dem nebelverschmierten Fenster der Himmel schwarz wurde, und auch wenn sein Großvater sich daher zum Abendessen niederlassen und sich fragen würde, wo er war, keine Anstalten machte, sich zu empfehlen, keine Anstalten zu gehen."
Ein interpretatorischer Reiz mag allenfalls darin bestehen, herauszufinden, wer gerade spricht (was oft maximal verunklart wird) oder ob und wie die Figuren der verschiedenen Romanteile miteinander verwandt sind - aber was das eigentlich Literarische angeht, also emotionale Schattierungen, Ambivalenzen oder gar Ironie, ist diese Prosa erstaunlich arm. Von Humor ganz zu schweigen.
Bei Yanagiharas viel gepriesenem und umstrittenem Roman "Ein wenig Leben" (F.A.Z. vom 28. Januar 2017), der ausführlichst vom körperlichen und seelischen Missbrauch an seinem Protagonisten erzählt, hat die Autorin, wie etwa im "Guardian" berichtet wurde, Debatten mit ihrem Lektor darüber geführt, "wie viel ein Leser ertragen kann". Die Frage stellt sich auch angesichts des neuen Buches - hier jedoch nicht in Bezug auf Drastik, sondern nur auf die schiere Länge und frappierende Umständlichkeit der Erzählung. JAN WIELE
Hanya Yanagihara: "Zum Paradies". Roman.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Claassen Verlag, Berlin 2022. 896 S., geb., 30,- Euro.
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