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Die katastrophalen Folgen unseres Handelns für die Natur sind inzwischen bekannt. Doch die Emissionen steigen weiter. Gegen das Mantra vom wirtschaftlichen Wachstum wirken die Kassandrarufe junger Aktivist:innen oft ohnmächtig. Und während sich im Namen von Freiheit und Gleichheit einst Massen mobilisieren ließen, führt der Klimaschutz zu neuen Spaltungen. Man denke nur an die Gelbwestenproteste in Frankreich. Für Bruno Latour und Nikolaj Schultz ist klar: So wie einst die Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt erkämpfte, bedarf es heute einer ökologischen Klasse, um den Klimawandel…mehr

Produktbeschreibung
Die katastrophalen Folgen unseres Handelns für die Natur sind inzwischen bekannt. Doch die Emissionen steigen weiter. Gegen das Mantra vom wirtschaftlichen Wachstum wirken die Kassandrarufe junger Aktivist:innen oft ohnmächtig. Und während sich im Namen von Freiheit und Gleichheit einst Massen mobilisieren ließen, führt der Klimaschutz zu neuen Spaltungen. Man denke nur an die Gelbwestenproteste in Frankreich.
Für Bruno Latour und Nikolaj Schultz ist klar: So wie einst die Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt erkämpfte, bedarf es heute einer ökologischen Klasse, um den Klimawandel aufzuhalten. Wo Bewegungen wie Fridays For Future und lokale Organisationen oft getrennt agieren, plädieren die Soziologen für eine Politik, die den Schutz unserer Lebensgrundlagen ins Zentrum gemeinsamer Anstrengungen stellt. Die Geschichte der Menschen, hieß es bei Marx und Engels, sei die Geschichte von Klassenkämpfen. Kommt es nicht zur Entstehung einer ökologischen Klasse, so Latour und Schultz, wird die Menschheit keine Zukunft haben.

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Autorenporträt
Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour war Professor am Sciences Politiques Paris. Für sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis. Latour verstarb am 09. Oktober 2022 in Paris.

Nikolaj Schultz, geboren 1990 in Aarhus, ist Soziologe. Er forscht an der Universität Kopenhagen und war bis zu dessen Tod einer der engsten Mitarbeiter Bruno Latours. Gemeinsam publizierten sie in der edition suhrkamp Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum (2022).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Zunächst regt sich bei Rezensentin Annette Jensen Unverständnis darüber, dass Bruno Latour und Nikolaj Schultz in ihrem Buch so sehr am Begriff der 'Klasse' (und auch der 'Linken') festhalten - ist es doch gerade die heterogene Mischung sämtlicher Bevölkerungsgruppen, aus denen sich die sogenannte "ökologische Klasse" zusammensetzt, auf die die Autoren ihre Hoffnung auf die Rettung des Planeten setzen. Dann findet die Kritikerin aber doch interessante Gedanken in den Ausführungen des kürzlich verstorbenen Soziologen und Philosophen und seines Co-Autors: Ausgehend vom "Paradox", dass seit vielen Jahren die "Alarmglocken schrillen" und trotzdem kaum etwas passiere, denken die Autoren über eine Emanzipation im "Rahmen" des Planeten nach (im Gegensatz zu Rousseaus Idee der Einhegung, so Jensen), über das Hinterfragen von Machtansprüchen "per se", oder darüber, dass indigene Menschen viel besser wissen, wie in Zukunft zu leben sei, als die "modernen Ausbeutungskulturen". Nicht alle Thesen des Buchs scheinen der Kritikerin dabei gleich überzeugend; sie spricht aber trotzdem von einer sehr anregenden Lektüre.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2022

Die Natur wartet auf die Revolution
Warum handeln wir nicht im Angesicht der Klimakatastrophe? In seinem letzten Buch
ging es dem gefeierten französischen Soziologen Bruno Latour noch einmal um alles
Ein Gespenst geht um in Europa und dem Rest der Welt: der Ökologismus!“, heißt es in Bruno Latours neuem Memorandum „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“, das er mit dem dänischen Soziologen Nikolaj Schultz im Original Anfang dieses Jahres veröffentlichte und das nun, wenige Wochen nach Latours Tod, in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ausgangspunkt der Beobachtungen im Buch ist die Trägheit von Politik und Gesellschaft gegenüber der genau in diesem Augenblick bereits stattfindenden Klimakatastrophe. Der aktuelle Bericht des UN-Umweltprogramms kommt schließlich zu demselben katastrophalen Ergebnis wie der Weltklimarat: Bleibt es bei der derzeitigen Politik, bewegen wir uns auf einen Temperaturanstieg von 2,8 Grad zu.
Selbst wenn alle bisher verkündeten Klimaschutzmaßnahmen vollständig umgesetzt würden, wären es kaum weniger. Es drängt sich also die Frage auf, warum trotz aller Informationen, aller Berichte und Prognosen aus der Klimaforschung nicht mit der gebotenen Dringlichkeit gehandelt wird. Warum wir uns also zum Beispiel wegen Kartoffelbrei auf Schutzglasscheiben in Museen erregen, als könnte man durch das Schimpfen auf Aktivistinnen und Aktivisten etwas Sinnvolles gegen die bevorstehenden Ernteausfälle und Dürren tun, aber nicht mit derselben Leidenschaft gegen die Ernteausfälle und Dürren an sich vorgehen. Um die Gründe für diese Lethargie zu verstehen und die Weichen zu stellen für echtes umweltpolitisches Handeln, konzipierten die beiden ihre kleine, nur 76 Absätze oder kaum 90 Seiten lange, äußerst lesenswerte Schrift.
Die Frage, warum Menschen im Angesicht der Katastrophe nicht handeln, beantworten sie gleich selbst mit einer Klage darüber, dass sich die ökologische Bewegung im kulturellen wie politischen Kampf der Ideen nicht ausreichend engagiert hat. Wie kommt die politische Ökologie aus dem Dilemma heraus, entweder als pädagogisches Programm grüner Parteien, die sich bloß klientelpolitisch anbiedern wollen, oder als elitäres Projekt weltfremder Großstadtnarzissten mit Lastenrädern wahrgenommen zu werden? Wie kann die Ökologie zu einem politischen Feld werden, in dem man sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit mit der existenziellen Bedrohung und den sozialen Ungerechtigkeiten auseinandersetzt, zu denen es unausweichlich kommen wird, wenn es bei der derzeitigen Dominanz des Nichthandelns bleibt?
Der Ton des Textes ist dabei oft spitzzüngig, vor allem aber klagend und besorgt. Wie eine schriftliche Version der Aktionen der Klimaschutzaktivistinnen. Kritisiert wird nicht nur die Teilnahmslosigkeit der breiten Öffentlichkeit, sondern vor allem auch die Unfähigkeit der politischen Grünen, die enorme Aufmerksamkeit für die Klimafrage in echte politische Mobilisierung umzuwandeln.
„Im Moment gelingt es der politischen Ökologie, die Menschen in Panik zu versetzen und diese gleichzeitig aus Langeweile zum Gähnen zu bringen. (...) So erklärt sich die Handlungslähmung, die sie zu oft hervorruft“, schreiben Latour/Schultz. Ihre These: Das politische Umweltbewusstsein wird so lange als dröge und apokalyptisch beschimpft werden, solange es nicht in der Lage ist, die politischen Affekte neu auszurichten. Mit anderen Worten: Die politische Ökologie hat den Bürgerinnen und Bürgern noch keine Ideologie präsentiert, die erfolgreich mit dem Ozean an Ideen und Affekten wetteifern könnte, die zum Beispiel der Konservativismus, der Sozialismus oder der Liberalismus zu bieten haben. Die bittere Pointe dabei ist, dass die ökologische Bewegung genau die Grundwerte anderer politischer Richtungen vereint – Bewahrung, Gerechtigkeit, Freiheit – und diese leicht beschwören können müsste. Es gelinge dem grünen Projekt jedoch nicht, ein Momentum zu kreieren, das sich in entschlossenes Handeln übersetzen ließe. Stattdessen habe es sich auf das Ringen mit weniger attraktiven Erzählungen eingelassen: von der Entbehrung und der Einschränkung.
Der größte Triumph des antiökologischen Diskurses sei es dementsprechend, die große Verzichtserzählung so lanciert zu haben, dass vergessen werden konnte, dass das Verzichten, um das es geht, keine Strafe ist, sondern einer besseren Zukunft dienen soll.
Damit eine Affizierung und Mobilisierung gelingen kann, so Latour/Schultz, fehle dem Ökologismus nur noch, „dass er sich als die Mehrheit definiert“. Die ökologische Klasse sei „bereits so etwas wie der neue dritte Stand: ein Nichts mit dem Ehrgeiz, das Ganze zu sein“. Wie dem früheren dritten Stand mangele es ihr „nur am Stolz, von sich und ihrer Zukunft überzeugt zu sein – wie auch an einigen günstigen und völlig kontingenten Umständen, um die Macht zu erlangen“.
Nun kann man die Entstehung eines Klassenbewusstseins nicht beschleunigen. Zugleich bleibt keine Zeit für die Politisierung des Themas, die für die Entstehung eines kollektiven ökosozialen Denkens nötig wäre. Die Scheu der Ökologiebewegung vor politisierten Kulturkämpfen liegt Latour/Schultz zufolge aber auch in der Natur dessen, was sie ausmacht: Der Ökologiebewegung schwebt idealerweise eine Art distinguierter Rückzug auf eine empirisch begründete politische Vision vor, die Menschen allein mit der normativen Kraft wissenschaftlicher Fakten vereint und nicht durch diskursive Erregungsangebote. In einer idealen Welt würde der besonnene homo politicus auf die Klimagraphen blicken und vorausschauende Politik fordern, die sich an jahrzehntelang erforschten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichtet. Offensichtlich leben wir aber nicht in einer idealen Welt, sondern in einer, die unaufhörlich heißer wird. Es ist für Latour/Schultz also anders herum: Eben weil keine Zeit mehr ist, geht es nur mit einem starken ökologischen Klassenbewusstsein. Dafür braucht es allerdings etwas mehr als ein kollektives Interesse am Überleben, es braucht die konfrontative Auseinandersetzung auch auf kultureller Ebene. Der Dissens muss willkommener Teil der Öko-Erzählung werden.
Traditionell marxistisch werden Klassen nach den Produktionsverhältnissen definiert. Wer produziert? Und wer profitiert vom Produzierten? Je nach ideologischer Färbung fielen die Antworten unterschiedlich aus. Heutzutage zwingt uns jedoch beispielsweise die Erkenntnis über die materielle Abhängigkeit von Ressourcen wie Kohle oder Öl zu einer Reformulierung politischer Kategorien. Nach Ansicht der Autoren sollte sich die Aufmerksamkeit demnach nun nicht mehr nur auf die Produktion richten, sondern auch auf die Praktiken, welche „für die Wahrung der Lebensbedingungen notwendige Erzeugung begünstigen – oder aber vernichten“. Produzieren hieße demnach: zusammenstellen und kombinieren – nicht erzeugen.
Um diese gedankliche Verschiebung von der Entwicklung zur Erhaltung zu ermöglichen, empfehlen Latour/Schultz von „Einwicklung“ zu sprechen, da alle auf die Produktion bezogenen Fragen von Erzeugungspraktiken umgeben und in diese eingepackt seien. „Wir sind es gewohnt, Wachstum als einziges Mittel zu begreifen, um uns aus der Affäre zu ziehen, wobei wir vergessen, welche Zerstörungen es anrichtet.“ Wer sich nur auf die Produktion konzentriere, betrachte die Existenz und das Überleben als eine Frage von Ressourcen und die Welt als eine Art Allmende, deren Gaben uns zustehen. Das Manifest fordert dagegen einen Perspektivenwechsel: Im Zentrum aller gesellschaftlichen Verhandlungen soll fortan die Bewohnbarkeit unseres Planeten stehen. „Wenn ein Amazon-Lager in Quimper errichtet wird“, so Latour in einem Interview Anfang des Jahres, „welche Fragen stellen sich dann?“ Statt immer wieder zu sagen, dass das Arbeitsplätze schaffen werde, „was die ,ökonomisierte‘ Redeweise ist“, müsse man eher die Frage „nach der Bewohnbarkeit der von Amazon erträumten Welt“ stellen – und damit auch die Frage „nach der Art der angebotenen Arbeitsplätze.
In Begriffen von Werten zu denken, verändere den Blick, erklärte Latour in einem Interview Anfang des Jahres. Nicht wir besäßen die Ressourcen, die Ressourcen besäßen uns. In diesem Sinne ist der Kern des ökologischen Bewusstseins die Idee, dass die Welt, in der wir leben, und die Welt, von der wir leben, in Einklang gebracht werden müssen. Alles, was dieser Sache diene, ist in Latours und Schultz’ Logik fortschrittlich und emanzipatorisch. Alles andere reaktionär: „Auf einmal erscheinen die auf Modernisierung setzenden Klassen insgesamt als radikal veraltet.“
Kritisieren müsste man, dass die Idee einer ökologischen Klasse kaum im Kontext der realen Machtverhältnisse diskutiert wird. Dem würden die Autoren aber vermutlich die Idee der langfristigen Selbstermächtigung entgegenhalten. „Sich zu emanzipieren, gewinnt eine andere Bedeutung, wenn es darum geht, sich daran zu gewöhnen, dass man schließlich und endlich von dem abhängt, das uns leben lässt!“
In seiner feinen Grimmigkeit macht „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ so deutlich, was für eine intellektuelle Lücke nach dem Tod Bruno Latours am 9. Oktober bleiben wird. Der aktuelle Aktivismus in Museen und auf den Straßen hätte den begeisterten Fan des Films „Don’t look up!“ sicher gefreut. Über die zähe UN-Klimakonferenz in Ägypten hätte er sich dagegen wohl geärgert. Wenn sie schließlich eines zeigt, dann wie frustrierend zutreffend die zentrale Diagnose von Latour/Schultz ist: Das Gespenst des Ökologismus hat die politische Sphäre offensichtlich noch nicht genügend aufgeschreckt.
SAMIRA EL OUASSIL
Die Grünen konnten die
Klimafrage noch nicht in echte
Mobilisierung umwandeln
Gerne hätte man gehört,
was Latour zum aktuellen
Aktivismus gesagt hätte
Gegen die Lethargie: Studentenproteste für mehr Klimaschutz am Montag in Prag.
Foto: IMAGO/Katerina Sulova
Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, gilt als einer der bedeutendsten Soziologen der vergangenen Jahrzehnte. Er starb am 9. Oktober.
 Foto: JOEL SAGET/AFP
Bruno Latour, Nikolaj Schultz: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse – Ein Memorandum. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 93 Seiten, 14 Euro.
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»Das Büchlein ... ist ein durchaus inspirierender Beitrag zu den vielfältigen Suchbewegungen in Richtung Transformation. Die Thesen ... regen im Kopf der Leserin Auseinandersetzungen mit den eigenen Positionen an ...« Annette Jensen taz am wochenende 20230121