Zwischen Oktober 1941 und Februar 1942 brachte Ernst Jünger als Hauptmann die Denkschrift über die deutschen Geiselerschießungen in Frankreich heimlich zu Papier. Er sollte im Auftrag des Militärbefehlshabers Otto von Stülpnagel das Verhältnis von Paris zur Partei in Berlin dokumentieren. Zugleich gibt die der Denkschrift beigefügte Übersetzung Jüngers von Abschiedsbriefen zum Tode verurteilter Geiseln einen erschütternden Einblick in die Folgen von Repression und Gewalt für die französische Zivilbevölkerung. »Mit politischem Blick, souveräner Sachkenntnis und minuziöser Kleinarbeit« verfasst (Hans Speidel), führt die Schrift auf diese Weise ins Zentrum einer Situation, in der man - so Jünger rückblickend - »eigentlich nur Fehler machen kann, ob man handelt oder nicht handelt«.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2011Maske des Mitgefühls
Ernst Jüngers Denkschrift "Zur Geiselfrage", eine Verfilmung von Volker Schlöndorff und die Frage nach der Empathie
Der Regisseur Volker Schlöndorff habe Ernst Jünger "verfilmt", hieß es in der Mitteilung des Klett-Cotta-Verlags. "Das Meer am Morgen" lautet der Titel des Films, Ulrich Matthes spielt Ernst Jünger. Und am Freitag, auf der Buchmesse, wurde dieser Film nun erstmals gezeigt, in einer Voraufführung, bevor er im Frühjahr 2012 auf Arte laufen wird.
Das klang verwirrend. War es möglich, dass Schlöndorff, der Böll-, Grass- und Frisch-Filme gedreht hatte, "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", "Die Blechtrommel" oder "Homo Faber", mit 72 Jahren Ernst Jünger für sich entdeckt hatte? Nach Auskunft des Verlags sollte "Zur Geiselfrage" Grundlage des Films sein, eine Sammlung von Berichten, die Jünger als Hauptmann zwischen Oktober 1941 und Februar 1942 im Auftrag des Militärbefehlshabers von Paris, Otto von Stülpnagel, über die deutschen Geiselerschießungen in Frankreich verfasst hatte. Pünktlich zur Messe sind diese Berichte jetzt erstmals in Buchform erschienen - mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff: "Ohne den Text von Ernst Jünger hätte ich wohl meinen jüngsten Film ,Das Meer am Morgen' nie gedreht", schreibt er darin. Also tatsächlich ein Jünger-Film?
Gefasste Haltung
"Zur Geiselfrage" ist kein literarischer Text. Es ist eine im Amtsdeutsch verfasste Chronik jener Attentate, die sich ab Sommer 1941 in Paris, Nantes, Bordeaux oder Dijon ereigneten. Ermordet wurden, durch gezielte Schüsse oder Bombenanschläge auf Bars oder Restaurants, Angehörige der deutschen Armee. Der Militärbefehlshaber erklärte daraufhin alle Gefängnisinsassen zu Geiseln und kündigte an, im Fall weiterer Attentate eine bestimmte Anzahl von ihnen erschießen zu lassen. Die Attentate nahmen nicht ab. Massenerschießungen folgten. Und die bis dahin seltsam friedliche Phase der seit Juni 1940 andauernden deutschen Besatzung in Frankreich fand ihr Ende.
Ernst Jünger hat, ohne selbst Augenzeuge gewesen zu sein, die Fälle recherchiert und dokumentiert - auch die Hinrichtungen der Geiseln: "Wo Berichte vorliegen", heißt es an einer Stelle in seiner Schrift, "besagen sie, dass die Geiseln auch diesmal durch ihre ruhige und gefasste Haltung auffielen. So im Lager Châteaubriant, wo jeder Aufgerufene freiwillig vortrat, um sich die Handfesseln anlegen zu lassen. Beim Verlassen des Lagers wurde die Marseillaise gesungen, in die die zurückbleibenden Insassen des Lagers einstimmten. Auf dem Richtplatz baten alle, mit verbundenen Augen sterben zu dürfen, und riefen angesichts der auf sie starrenden Gewehrläufe ,Vive la France!'"
Darüber hinaus fügte Jünger seiner Schrift die Übersetzung von Abschiedsbriefen zum Tode verurteilter Geiseln bei, womit er Einblick in die Folgen von Repression und Gewalt für die französische Zivilbevölkerung während der deutschen Besatzung gewährte. Und er setzte, ohne es damals so recht ahnen zu können, einem französischen Helden ein Denkmal: Guy Môquet, jenem Jungen, der bei der Massenerschießung nach dem Attentat von Nantes, am 22. Oktober 1941, mit siebzehn die jüngste der achtundvierzig Geiseln war. In Frankreich gilt der kommunistische Widerstandskämpfer als Pendant zu Sophie Scholl. In einem Kino hatte er Flugblätter gegen die Besatzer vom Rang in den Saal geworfen. Louis Aragon widmete ihm 1944 sein Gedicht "La Rose et le Réséda". 1946 wurde eine Pariser Métro-Station nach ihm benannt. Und kaum im Amt, ordnete der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Mai 2007 an, jedes Jahr am 22. Oktober an allen französischen Schulen den Abschiedsbrief von Guy Môquet vorlesen zu lassen. Es ist der Brief, den Jünger, neben vielen anderen, ins Deutsche übersetzt hatte.
Spätestens da wird einem auch klar, was Schlöndorff an der "Geiselfrage" interessiert: "Erst die Entdeckung, dass Ernst Jünger sich mit dem Vorgang befasst hatte", schreibt er in seinem Vorwort, "weckte meine Neugierde an diesem Fall, der zeigt, wie man aus jugendlichem Überschwang ganz ungewollt zum Märtyrer werden kann." So ist "Das Meer am Morgen" kein Ernst-Jünger- und am Ende auch kein Guy-Môquet-Film. Es ist ein Film über die Besatzung, der zwei Sphären einander gegenüberstellt: Da sind zum einen die deutschen Militärs, Bildungsbürger in Uniform, mit ihren Bonmots und ihrer ganzen Offizierscasinohaftigkeit in Gestalt von Hauptmann Jünger, General Stülpnagel und General Speidel; da sind die Häftlinge mit ihrem Lagerleben, Kommunisten und Intellektuelle, unter ihnen der junge Guy Môquet; und dazwischen agieren, gerne mit Moustache und Brille, die Kollaborateure, die die zu erschießenden Geiseln auszuwählen haben und es dabei für ihre Pflicht halten, sich für jene zu entscheiden, die etwas gegen die Besatzer unternommen haben.
Im Gegensatz zur Serie von Attentaten und Hinrichtungen, die Jünger dokumentiert, erzählt Schlöndorff nur die eine Geschichte des Attentats von Nantes bis hin zur Exekution. Den Bericht "Zur Geiselfrage" und die Überlieferung seiner Entstehung macht er dabei zur Grundlage von Dialogen, die er, wie das gesamte Drehbuch, diesmal selber geschrieben hat: "Stülpnagel: ,Jünger, ich möchte Sie bitten, von jetzt an die Ereignisse Stunde für Stunde festzuhalten. Was geschieht, was gesagt wird. Keinen militärischen Bericht, eher etwas Literarisches.' - Jünger: ,So etwas wie Stendhals Tagebuch während der Feldzüge Napoleons?' - Stülpnagel: ,Ich weiß, dass Sie Hölderlin dem Stendhal vorziehen, aber genau so etwas ,Historiographisches' brauche ich. Geheim. Ohne Kopie.'"
Dass Ernst Jünger die Massenerschießungen der Geiseln verurteilt hat, steht in der Jünger-Forschung außer Frage. Auch Schlöndorff zieht es in seinem Film nicht in Zweifel: "Wenn Sie die Politik der Geiseln beenden könnten, wird Frankreich es Ihnen danken", lässt er Jünger im Gespräch mit dem Militärbefehlshaber sagen. Die Anordnung der Exekutionen führte zu einem Kompetenzgerangel zwischen Paris und Berlin mit entsetzlichen Folgen: Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht in Berlin forderten immer schärfere Maßnahmen. Stülpnagel dagegen lehnte "polnische Methoden" ab, da sie das französische Volk aufbringen und die Verwaltung des Landes erschweren würden. Anstelle von Massenerschießungen schlug er deshalb vor, eine größere Anzahl von Kommunisten und Juden in den Osten zu deportieren. So wurde Otto Edwin von Stülpnagel als Militärbefehlshaber zum Wegbereiter der Deportation französischer Juden in die Vernichtungslager.
Windige Argumente
Was Schlöndorff in "Das Meer am Morgen" dagegen nicht aufgreift, ist die Behauptung von Sven Olaf Berggötz, dem Herausgeber und Kommentator der Schrift "Zur Geiselfrage", Jünger sei in diesem Text "ein zutiefst mitfühlender Autor". Die Übersetzung der Abschiedsbriefe, so Berggötz, deute darauf hin. Den erschossenen Geiseln gebe er damit ihre Würde zurück. Überhaupt, argumentiert Berggötz ziemlich windig, hätte sich das Bild vom gefühllosen Ästheten überlebt, der das Leben im besetzten Paris genoss, auf dem Dach des Hotels "Raphael" Burgunder mit Erdbeeren trank, während die Bomben fielen. Oder der seine bekannte Darstellung der Hinrichtung eines Deserteurs am 29. Mai 1942 in den "Strahlungen" so erheblich ästhetisierte.
Wie man nun ausgerechnet die Schrift "Zur Geiselfrage" zum Anlass nehmen kann, Ernst Jünger zum mitfühlenden Autor machen zu wollen, versteht man beim Lesen nicht. Bei Schlöndorff spielt Ulrich Matthes die Rolle des Ernst Jünger denn auch mit dem Ausdruck provozierender Indifferenz, mit einer starren Maskenhaftigkeit: "Wie spielt man Distanz zu seiner Umgebung?", habe er sich gefragt, erzählt Matthes im Gespräch. Auf etwas Entpersönlichtes sei es ihm angekommen, das Fehlen von Empathie. "Und auf diese Art von Elitebewusstsein, das Jünger ausgestrahlt haben muss und das es in unseren bundesrepublikanischen Zeiten ja kaum noch gibt. Ein elitäres Grundgefühl, das noch jenseits von dem liegt, was man heutzutage als arrogant bezeichnet."
Starre Indifferenz
"Ernst, Sie sind und bleiben ein Snob", muss sich Jünger im Film in der Bar des Hotels "Raphael" von einer Freundin sagen lassen, die von der französischen Schauspielerin Arielle Dombasle gespielt wird, der Ehefrau des Philosophen Bernard-Henri Lévy, deren maskenhaftes Gesicht das von Matthes beinahe noch übertrifft. "Jedenfalls", entgegnet der Film-Jünger, "fühle ich mich nicht berufen, ins Räderwerk des Weltgeschehens einzugreifen." Er sei Beobachter, Voyeur und nicht zum Tyrannenmord berufen, wie er es mit Anspielung auf Hitler formuliert. Wie viel in solchen Szenen Ironie und wie viel Ernst ist, lässt Schlöndorff in der Schwebe. Die zur Schau gestellte Beflissenheit jedenfalls kann einem nur auf die Nerven gehen.
Volker Schlöndorff ist im Alter also nicht zum Ernst-Jünger-Fan geworden. Es hätte einen auch gewundert. Wenn er, ganz am Ende des Films, die Szene der Hinrichtung aus der Perspektive eines deutschen Soldaten zeigt, dann ist dieser nicht zufällig ein Gegentyp zum Beobachter-Soldaten Jünger, wie man ihn von der Erschießungsszene des Fahnenflüchtigen aus den "Strahlungen" kennt.
Es ist ein junger Soldat, der im Hinrichtungskommando landet, weil er seinen Tornister auf dem Fahrrad eines Kameraden transportieren ließ, statt ihn selber zu tragen. Er ist einer literarischen Figur aus der Erzählung "Vermächtnis" nachempfunden. Und die stammt von Heinrich Böll.
JULIA ENCKE
Ernst Jünger: "Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen". Hrsg. von Sven Olaf Berggötz. Mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff. Verlag Klett-Cotta, 160 Seiten, 19,95 Euro
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Ernst Jüngers Denkschrift "Zur Geiselfrage", eine Verfilmung von Volker Schlöndorff und die Frage nach der Empathie
Der Regisseur Volker Schlöndorff habe Ernst Jünger "verfilmt", hieß es in der Mitteilung des Klett-Cotta-Verlags. "Das Meer am Morgen" lautet der Titel des Films, Ulrich Matthes spielt Ernst Jünger. Und am Freitag, auf der Buchmesse, wurde dieser Film nun erstmals gezeigt, in einer Voraufführung, bevor er im Frühjahr 2012 auf Arte laufen wird.
Das klang verwirrend. War es möglich, dass Schlöndorff, der Böll-, Grass- und Frisch-Filme gedreht hatte, "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", "Die Blechtrommel" oder "Homo Faber", mit 72 Jahren Ernst Jünger für sich entdeckt hatte? Nach Auskunft des Verlags sollte "Zur Geiselfrage" Grundlage des Films sein, eine Sammlung von Berichten, die Jünger als Hauptmann zwischen Oktober 1941 und Februar 1942 im Auftrag des Militärbefehlshabers von Paris, Otto von Stülpnagel, über die deutschen Geiselerschießungen in Frankreich verfasst hatte. Pünktlich zur Messe sind diese Berichte jetzt erstmals in Buchform erschienen - mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff: "Ohne den Text von Ernst Jünger hätte ich wohl meinen jüngsten Film ,Das Meer am Morgen' nie gedreht", schreibt er darin. Also tatsächlich ein Jünger-Film?
Gefasste Haltung
"Zur Geiselfrage" ist kein literarischer Text. Es ist eine im Amtsdeutsch verfasste Chronik jener Attentate, die sich ab Sommer 1941 in Paris, Nantes, Bordeaux oder Dijon ereigneten. Ermordet wurden, durch gezielte Schüsse oder Bombenanschläge auf Bars oder Restaurants, Angehörige der deutschen Armee. Der Militärbefehlshaber erklärte daraufhin alle Gefängnisinsassen zu Geiseln und kündigte an, im Fall weiterer Attentate eine bestimmte Anzahl von ihnen erschießen zu lassen. Die Attentate nahmen nicht ab. Massenerschießungen folgten. Und die bis dahin seltsam friedliche Phase der seit Juni 1940 andauernden deutschen Besatzung in Frankreich fand ihr Ende.
Ernst Jünger hat, ohne selbst Augenzeuge gewesen zu sein, die Fälle recherchiert und dokumentiert - auch die Hinrichtungen der Geiseln: "Wo Berichte vorliegen", heißt es an einer Stelle in seiner Schrift, "besagen sie, dass die Geiseln auch diesmal durch ihre ruhige und gefasste Haltung auffielen. So im Lager Châteaubriant, wo jeder Aufgerufene freiwillig vortrat, um sich die Handfesseln anlegen zu lassen. Beim Verlassen des Lagers wurde die Marseillaise gesungen, in die die zurückbleibenden Insassen des Lagers einstimmten. Auf dem Richtplatz baten alle, mit verbundenen Augen sterben zu dürfen, und riefen angesichts der auf sie starrenden Gewehrläufe ,Vive la France!'"
Darüber hinaus fügte Jünger seiner Schrift die Übersetzung von Abschiedsbriefen zum Tode verurteilter Geiseln bei, womit er Einblick in die Folgen von Repression und Gewalt für die französische Zivilbevölkerung während der deutschen Besatzung gewährte. Und er setzte, ohne es damals so recht ahnen zu können, einem französischen Helden ein Denkmal: Guy Môquet, jenem Jungen, der bei der Massenerschießung nach dem Attentat von Nantes, am 22. Oktober 1941, mit siebzehn die jüngste der achtundvierzig Geiseln war. In Frankreich gilt der kommunistische Widerstandskämpfer als Pendant zu Sophie Scholl. In einem Kino hatte er Flugblätter gegen die Besatzer vom Rang in den Saal geworfen. Louis Aragon widmete ihm 1944 sein Gedicht "La Rose et le Réséda". 1946 wurde eine Pariser Métro-Station nach ihm benannt. Und kaum im Amt, ordnete der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Mai 2007 an, jedes Jahr am 22. Oktober an allen französischen Schulen den Abschiedsbrief von Guy Môquet vorlesen zu lassen. Es ist der Brief, den Jünger, neben vielen anderen, ins Deutsche übersetzt hatte.
Spätestens da wird einem auch klar, was Schlöndorff an der "Geiselfrage" interessiert: "Erst die Entdeckung, dass Ernst Jünger sich mit dem Vorgang befasst hatte", schreibt er in seinem Vorwort, "weckte meine Neugierde an diesem Fall, der zeigt, wie man aus jugendlichem Überschwang ganz ungewollt zum Märtyrer werden kann." So ist "Das Meer am Morgen" kein Ernst-Jünger- und am Ende auch kein Guy-Môquet-Film. Es ist ein Film über die Besatzung, der zwei Sphären einander gegenüberstellt: Da sind zum einen die deutschen Militärs, Bildungsbürger in Uniform, mit ihren Bonmots und ihrer ganzen Offizierscasinohaftigkeit in Gestalt von Hauptmann Jünger, General Stülpnagel und General Speidel; da sind die Häftlinge mit ihrem Lagerleben, Kommunisten und Intellektuelle, unter ihnen der junge Guy Môquet; und dazwischen agieren, gerne mit Moustache und Brille, die Kollaborateure, die die zu erschießenden Geiseln auszuwählen haben und es dabei für ihre Pflicht halten, sich für jene zu entscheiden, die etwas gegen die Besatzer unternommen haben.
Im Gegensatz zur Serie von Attentaten und Hinrichtungen, die Jünger dokumentiert, erzählt Schlöndorff nur die eine Geschichte des Attentats von Nantes bis hin zur Exekution. Den Bericht "Zur Geiselfrage" und die Überlieferung seiner Entstehung macht er dabei zur Grundlage von Dialogen, die er, wie das gesamte Drehbuch, diesmal selber geschrieben hat: "Stülpnagel: ,Jünger, ich möchte Sie bitten, von jetzt an die Ereignisse Stunde für Stunde festzuhalten. Was geschieht, was gesagt wird. Keinen militärischen Bericht, eher etwas Literarisches.' - Jünger: ,So etwas wie Stendhals Tagebuch während der Feldzüge Napoleons?' - Stülpnagel: ,Ich weiß, dass Sie Hölderlin dem Stendhal vorziehen, aber genau so etwas ,Historiographisches' brauche ich. Geheim. Ohne Kopie.'"
Dass Ernst Jünger die Massenerschießungen der Geiseln verurteilt hat, steht in der Jünger-Forschung außer Frage. Auch Schlöndorff zieht es in seinem Film nicht in Zweifel: "Wenn Sie die Politik der Geiseln beenden könnten, wird Frankreich es Ihnen danken", lässt er Jünger im Gespräch mit dem Militärbefehlshaber sagen. Die Anordnung der Exekutionen führte zu einem Kompetenzgerangel zwischen Paris und Berlin mit entsetzlichen Folgen: Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht in Berlin forderten immer schärfere Maßnahmen. Stülpnagel dagegen lehnte "polnische Methoden" ab, da sie das französische Volk aufbringen und die Verwaltung des Landes erschweren würden. Anstelle von Massenerschießungen schlug er deshalb vor, eine größere Anzahl von Kommunisten und Juden in den Osten zu deportieren. So wurde Otto Edwin von Stülpnagel als Militärbefehlshaber zum Wegbereiter der Deportation französischer Juden in die Vernichtungslager.
Windige Argumente
Was Schlöndorff in "Das Meer am Morgen" dagegen nicht aufgreift, ist die Behauptung von Sven Olaf Berggötz, dem Herausgeber und Kommentator der Schrift "Zur Geiselfrage", Jünger sei in diesem Text "ein zutiefst mitfühlender Autor". Die Übersetzung der Abschiedsbriefe, so Berggötz, deute darauf hin. Den erschossenen Geiseln gebe er damit ihre Würde zurück. Überhaupt, argumentiert Berggötz ziemlich windig, hätte sich das Bild vom gefühllosen Ästheten überlebt, der das Leben im besetzten Paris genoss, auf dem Dach des Hotels "Raphael" Burgunder mit Erdbeeren trank, während die Bomben fielen. Oder der seine bekannte Darstellung der Hinrichtung eines Deserteurs am 29. Mai 1942 in den "Strahlungen" so erheblich ästhetisierte.
Wie man nun ausgerechnet die Schrift "Zur Geiselfrage" zum Anlass nehmen kann, Ernst Jünger zum mitfühlenden Autor machen zu wollen, versteht man beim Lesen nicht. Bei Schlöndorff spielt Ulrich Matthes die Rolle des Ernst Jünger denn auch mit dem Ausdruck provozierender Indifferenz, mit einer starren Maskenhaftigkeit: "Wie spielt man Distanz zu seiner Umgebung?", habe er sich gefragt, erzählt Matthes im Gespräch. Auf etwas Entpersönlichtes sei es ihm angekommen, das Fehlen von Empathie. "Und auf diese Art von Elitebewusstsein, das Jünger ausgestrahlt haben muss und das es in unseren bundesrepublikanischen Zeiten ja kaum noch gibt. Ein elitäres Grundgefühl, das noch jenseits von dem liegt, was man heutzutage als arrogant bezeichnet."
Starre Indifferenz
"Ernst, Sie sind und bleiben ein Snob", muss sich Jünger im Film in der Bar des Hotels "Raphael" von einer Freundin sagen lassen, die von der französischen Schauspielerin Arielle Dombasle gespielt wird, der Ehefrau des Philosophen Bernard-Henri Lévy, deren maskenhaftes Gesicht das von Matthes beinahe noch übertrifft. "Jedenfalls", entgegnet der Film-Jünger, "fühle ich mich nicht berufen, ins Räderwerk des Weltgeschehens einzugreifen." Er sei Beobachter, Voyeur und nicht zum Tyrannenmord berufen, wie er es mit Anspielung auf Hitler formuliert. Wie viel in solchen Szenen Ironie und wie viel Ernst ist, lässt Schlöndorff in der Schwebe. Die zur Schau gestellte Beflissenheit jedenfalls kann einem nur auf die Nerven gehen.
Volker Schlöndorff ist im Alter also nicht zum Ernst-Jünger-Fan geworden. Es hätte einen auch gewundert. Wenn er, ganz am Ende des Films, die Szene der Hinrichtung aus der Perspektive eines deutschen Soldaten zeigt, dann ist dieser nicht zufällig ein Gegentyp zum Beobachter-Soldaten Jünger, wie man ihn von der Erschießungsszene des Fahnenflüchtigen aus den "Strahlungen" kennt.
Es ist ein junger Soldat, der im Hinrichtungskommando landet, weil er seinen Tornister auf dem Fahrrad eines Kameraden transportieren ließ, statt ihn selber zu tragen. Er ist einer literarischen Figur aus der Erzählung "Vermächtnis" nachempfunden. Und die stammt von Heinrich Böll.
JULIA ENCKE
Ernst Jünger: "Zur Geiselfrage. Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen". Hrsg. von Sven Olaf Berggötz. Mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff. Verlag Klett-Cotta, 160 Seiten, 19,95 Euro
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