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Das gedruckte Buch galt lange Zeit unangefochten als das wichtigste Organ geisteswissenschaftlicher Forschung. Doch in den letzten Jahren ist ein ganzes Gefüge von Medien, Werten und Praktiken in Bewegung geraten. Mit den Möglichkeiten digitaler Forschung und Kommunikation sowie Forderungen nach einer Standardisierung von Publikationen wirkt das Schreiben und Drucken von Büchern bisweilen fast wie ein Anachronismus mit begrenzter Lebensdauer. Die Kritik am gedruckten Buch offenbart ein Stück Kulturkritik, die ihr Unbehagen an der Gegenwart mit einer übertriebenen Erwartung an die technischen…mehr

Produktbeschreibung
Das gedruckte Buch galt lange Zeit unangefochten als das wichtigste Organ geisteswissenschaftlicher Forschung. Doch in den letzten Jahren ist ein ganzes Gefüge von Medien, Werten und Praktiken in Bewegung geraten. Mit den Möglichkeiten digitaler Forschung und Kommunikation sowie Forderungen nach einer Standardisierung von Publikationen wirkt das Schreiben und Drucken von Büchern bisweilen fast wie ein Anachronismus mit begrenzter Lebensdauer. Die Kritik am gedruckten Buch offenbart ein Stück Kulturkritik, die ihr Unbehagen an der Gegenwart mit einer übertriebenen Erwartung an die technischen Möglichkeiten des Digitalen verbindet. Anstatt die unterschiedlichen Stärken von Papier und Digitalisat hervorzuheben und zu fragen, wo mögliche Synergien liegen könnten, wird ein rivalisierender Gegensatz zwischen beiden postuliert, der eine Entscheidung verlangt. In seinem neuen Buch verbindet Michael Hagner seine Analyse der digitalen Kulturkritik am Buch mit einer gründlichen Betrachtung von Open Access. Dabei durchleuchtet er auch jenes Phänomen, das für die gegenwärtige Krise des Buches mit verantwortlich ist: das unübersehbare Angebot an wissenschaftlicher Literatur.
Autorenporträt
Michael Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Zuvor arbeitete er am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und war Gastprofessor in Salzburg, Tel Aviv und Frankfurt a. M.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

In Michael Hagners "Zur Sache des Buches" geht es um die Szene einer Erbschaft, berichtet Hans von Trotha. Wie der Rezensent erklärt, könnte die zentrale Frage des Buches ungefähr so lauten: Was kann die ältere Generation von Verlegern und Autoren geisteswissenschaftlicher Publikationen, die "Generation Suhrkamp", ihren Nachfolgern, der "Generation Facebook", über den besonderen Wert des Buches beibringen, damit dem von Marshall MacLuhan prophezeiten "Ende der Gutenberg-Galaxis" ein konservierendes Korrektiv entgegen gehalten werden kann? Die Frage wird allerdings nicht beantwortet, verrät von Trotha, aber dafür gibt es eine schöne, übersichtliche Zusammenfassung der Verlagspraxis der letzten Jahrzehnte in den Geisteswissenschaften, lobt der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.07.2015

Im Auf und Ab
der Formate
Kodex und Cortex: Michael Hagner verteidigt
das gedruckte Sachbuch aus der Autorenperspektive
VON LOTHAR MÜLLER
Ein nicht zuletzt für Zeitungsleser bedenkenswerter Satz ist der folgende: „Aus neurowissenschaftlicher Perspektive ist die Lesefähigkeit faszinierend, weil das Gehirn von der Evolution nicht für diese Tätigkeit gemacht wurde.“ Jetzt bitte nicht weiterblättern oder nach unten zu den Anzeigen schweifen, sondern die naheliegende Frage ins Auge fassen, wofür eigentlich die Areale, die im Gehirn für das Lesen unverzichtbar sind, gemacht waren, bevor vor ungefähr 6 000 Jahren das Lesen begann. Spurenlesen? Womöglich, aber bestimmt nicht mit dieser Metapher.
  Denn die gehört zu den Zeiten, als die Kulturtechnik des Lesens schon längst begonnen hatte, das Gehirn nachhaltig zu verändern. Das war nur möglich, weil das Gehirn plastisch ist, vielfältig veränderbar, und die Schriftrolle wie später der Kodex haben die Areale, in die sie sich einnisteten und in denen sie sich entfalteten, nicht unberührt gelassen: „denn zwar gab es vor der Erfindung der Schriftsprache die einzelnen Areale, nicht aber die über den Cortex verteilten Funktionsnetzwerke, die beim Lesen aktiviert werden.“
  Im neuen Buch des in Zürich lehrenden Mediziners und Wissenschaftshistorikers Michael Hagner findet sich der Abschnitt „Lesen ist eine Kulturtechnik“ an ziemlich später Stelle, aber an einer strategischen Position. Denn das Verhältnis von Kodex und Cortex ist eines der Lebensthemen dieses Autors, der seit der Studie „Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn“ (2000) immer wieder die Wissenschaftsgeschichte der Hirnforschung in Beziehung zur Kulturgeschichte der Wissensformen und ihrer Infrastrukturen gestellt hat. Hier aber spricht er nur am Rande über seine Forschungsgebiete, hier spricht er als Autor der Bücher, die aus seiner Forschung hervorgegangen sind, als Mitglied der „scientific community“.
  Er hat diesem Buch einen denkbar lapidaren Titel gegeben: „Zur Sache des Buches“, aber es ist eine Streitschrift geworden. Sie handelt nicht vom Buch überhaupt, sondern von dem Buchtyp, mit dem der Titel spielt, vom geisteswissenschaftlichen Sachbuch der Art, wie Michael Hagner sie schreibt. Und, vor allem, weiterhin schreiben will, in dem Format, das ihm für seine Zwecke als das geeignetste erscheint: auf Papier gedruckt. Es ist das Format, dem er seine Reputation verdankt: „Die relevanten, neuartigen provozierenden oder einfach nur soliden Texte von der Länge eines Buches sind in den mir bekannten Wissensfeldern auf Papier erschienen und nicht auf persönlichen bzw. institutionellen Websites oder Repositorien.“
  Eine Streitschrift ist das Buch geworden, weil Hagner dieses Format immer stärker durch die Vorstellung unter Legitimationsdruck gerät, die Fortentwicklung der wissenschaftliche Kommunikation sei notwendig mit ihrer möglichst restlosen Verlagerung in digitale Infrastrukturen und Formate verbunden: „das gedruckte Buch ist ein Störfaktor bei der reibungslosen Durchsetzung des neuen digitalen Publikationsregimes.“
  Hagner verbindet sein Plädoyer für die Fortführung der Symbiose von Cortex und Kodex mit einer Musterung der Buchkritik seit der Frühen Neuzeit, blickt auf Nietzsches Unbehagen an den immer kleineren Eiern, die in immer dickeren Büchern gelegt werden, auf die Prophezeiungen vom Untergang des Buches von Theodor Lessing bis zu Herbert Marshall McLuhan, auf die aktuellen Visionen einer ständigen, umfassenden, frei zugänglichen und interaktiven Repräsentation des menschlichen Wissens im Netz. Dabei entsteht en passant ein Selbstporträt des Autors. Er profitiert von den immens gewachsenen Forschungsressourcen im Netz, er schätzt die Blogs seiner Kollegen, aber auch die von Literaten wie Wolfgang Herrndorf und Kathrin Passig, aber er erhebt überall dort Einspruch, wo seine Freiheit als Autor beschnitten wird, das Publikationsformat selbst zu bestimmen.
   Kurz, Michael Hagner schreibt aus der Autorenperspektive. Daraus resultiert, wie in Valentin Groebners Bändchen „Wissenschaftssprache digital. Die Zukunft von gestern“ (2014) die Skepsis gegenüber den aus der User-Perspektive formulierten Lobliedern auf das unablässige, barrierefreie Zirkulieren des Wissens in den neuen digitalen Formaten. Diese Skepsis mündet bei Hagner in einen gründlichen Streifzug durch die Welt des „Open Access“.
  Sein Reisegepäck ist schlicht, er hat Messinstrumente in Gestalt von Studien, Statistiken und Bilanzen dabei und hebt gegenüber den Idealen der nutzerzentrierten Offenheit und ungehinderten Zirkulation, die sich scheinbar zwanglos aus der aktuellen Medienrevolution ergeben, das Agieren und die Interessen der klassischen Akteure hervor: der großen Wissenschaftsverlage und des Staates. „Open Access“ ist in diesem Buch ein Dickicht, in dem die Ausweitung von Zirkulation und Speicherung des Wissens in rabiat durchgesetzte Geschäftsmodelle, das „Data Mining“ global agierender ökonomischer Interessen und das Regelwerk staatlicher Bürokratien, übergeht.
  Hagner vertritt die Sache des geisteswissenschaftlichen Buches, aber er ist Mediziner und nah an der Forschungspraxis der sciences. Das gibt seiner dichten Beschreibung ihren Detailreichtum und dem Buch eine Hauptlinie: das gedruckte geisteswissenschaftliche Buch eines einzelnen Autors als Medium eigenen Rechtes gegen das Schlüsselmedium der Naturwissenschaften abzusetzen, den häufig im Team erstellten, in einer führenden Zeitschrift publizierten Aufsatz.
  Es gibt für den Wissenschaftshistoriker Hagner keinen Mediendeterminismus. Aber das Auf und Ab von Formaten im Wechselspiel mit historischen und innerwissenschaftlichen Konstellationen. Das macht die Abschnitte zum „Goldenen Zeitalter“ des Sachbuchs in den USA und in Frankreich lesenswert, vor allem aber die Passagen zur Symbiose von Sachbuch und Taschenbuch in Deutschland seit den Fünfzigerjahren, seit S. Fischers „Büchern des Wissens“ und Rowohlts Enzyklopädie. Was Theodor W. Adorno und der frühe Enzensberger als Ausverkauf des Wissens beargwöhnten, erwies sich als ideales Medium der Entgrenzung des Wissens und Brandbeschleuniger der Politisierung schon vor 1968.
  Weil die Medientechnologien in diesem Buch keine Generalursache sind, treten die aus den Wissenschaften selbst entspringenden Probleme hervor, für Deutschland vor allem: die Inflation des Sammelbandes, des „Packesels der Überforschung“, auf Kosten der Monographie, das Publizieren nach Maßgabe der einander jagenden Projekte und Forschungscluster. Die Kritik am überhastet Publizierten ist Teil dieses Plädoyers für das gedruckte Buch. Nicht jede Monographie ist ein edles Rennpferd, aber wenn sie es ist, dann deshalb, weil sie ihr Format verstanden hat, in ihm eingewohnt ist.
  Und der Leser? Er honoriert dieses Verstehen durch seine Verweildauer.
Hagner schreibt über das
Dickicht der „Open Access“-Welt
und deren Geschäftsmodelle
Das Taschenbuch war ein
ideales Medium der
Entgrenzung von Wissen
  
  
  
  
  
Michael Hagner: Zur Sache des Buches. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 280 Seiten, 17,90 Euro. E-Book: 13,99 Euro.
Auch wer mit dem Rücken zur Literatur steht, entkommt den Bücherstapeln nicht. Michael Hagner mistet im Sachbuch-Sortiment aus.
Foto: imago/Gerhard Leber
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»Wer sich mit welcher Form von Publikation auch immer befasst (...), sollte sich diese Hommage an das Buch, besonders an das geisteswissenschaftliche, zu Gemüte führen.« (Urs Hafner, Neue Zürcher Zeitung, 18.03.2015) »Hagner (...) hat für sein leicht lesbares und zugleich tiefgründiges Buch eine beeindruckende Fülle von Fachliteratur studiert« (Thomas Posch, WBG - Mitteilungsbaltt der Wiener Bibliophilen-Gesellschaft, 10.11.2016) »Es wäre zu wünschen, wenn sich seine Untersuchung als die Streitschrift erwiese, die zu weiteren fruchtbaren Diskussionen herausfordert.« (Prof. Dr. Peter Vodosek, Bibliothek - Forschung und Praxis 2016, 40(1))