Studienarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1 (sehr gut), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Deutsches Seminar), Veranstaltung: Hauptseminar über Heinrich von Kleist, Sprache: Deutsch, Abstract: Wenn man die Novelle „Der Findling“ von Heinrich von Kleist zum ersten Mal liest, erschrickt man über die Bösartigkeit des jungen Nicolo. Anstatt sich seinen Ziehfamilie und ganz besonders seinem Stiefvater gegenüber liebevoll zu zeigen, verursacht der „Findling“ einen Tod nach dem anderen, bis schließlich fast die gesamte Familie Piachi ausgestorben ist - bis auf den alten Piachi. Es scheint nachvollziehbar, daß der Mann, der dem jungen Nicolo einst das Leben rettete und dabei sein eigen Fleisch und Blut opferte, nun zum Sohnesmörder wird und sich obendrein verbittert der Kirche verweigert. Das ist zumindest die Meinung, die der Erzähler vertritt, der eine bürgerlich-sittliche Perspektive vertritt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dem kritischen Leser jedoch bald, daß eine derartige Beurteilung nicht ganz angemessen ist. Zu sehr gerät die gesamte Novelle zunehmend in ein moralisches Zwielicht und damit auch sämtliche Figuren und Aussagen, einschließlich der auktorialen Wertung. Ist Nicolo wirklich so bösartig? Und wie verhält es sich mit Piachi? Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte in der Literaturforschung die Meinung, daß es sich bei diesem (1811 verfasstem) Stück um ein noch nicht ausgereiftes Erstlingswerk handelt. Begründet wurde dies vor allem mit der uneinheitlichen Erzählperspektive, dem ungeschickten Übertreibungsstil oder auch der nur fragmentarischen Psychologisierung. Zudem wurde die Sicht des Erzählers recht unkritisch übernommen, so daß die Handlung der Novelle oft als Bewährungsprobe der guten Charaktere vor der Verkörperung des absolut Bösen interpretiert wurde. Nicht berücksichtigt wurde dabei, daß die Erzählperspektive mit der Perspektive des Autors nicht identisch sein muß. Erst in den siebziger Jahren wurde die eigentliche Struktur des „Findling“ wahrgenommen, nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnis über die „Uneigentlichkeit des Kleistschen Erzählers“ sowie über die wahre Entstehungszeit der Novelle (nämlich im Todesjahr Kleists). Wenn Nicolo böse ist, wie böse ist dann Piachi? Schließlich wird auch er zum Mörder, zum Mörder eines „Findlings“, welcher nicht als Ersatz fungierte, wie Piachi es erwartet hatte...