Klug und mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Wandel einer Inselwelt, von alten Gesetzen, die ihre Gültigkeit verlieren, und von Aufbruch und Befreiung.
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Kann Dörte Hansen das Niveau ihres überragenden nordfriesischen Bestsellers "Mittagsstunde" halten? Diesmal geht es richtig zur See. Ein stürmisches Buch.
Beim ersten Durchgang ist man verwundert, vielleicht auch ein wenig enttäuscht: Was? Das soll jetzt der Nachfolger von "Mittagsstunde" sein, einem der besten, kürzlich auch noch verfilmten Romane der vergangenen zwanzig Jahre? Die Geschichte und der Ton, in dem sie vorgetragen wird, stammen eindeutig wieder von Dörte Hansen: das karge, insbesondere den Fährnissen des Trinkens, des Ertrinkens und des Frierens ausgesetzte Leben einer auf einer Nordseeinsel sesshaften Familie, in der Geschwätzigkeit nicht gerade Trumpf ist. Aber sonst? Etwas merkwürdig Rhapsodisches eignet "Zur See", zweifellos auch wieder ein Roman, dem aber die düster lastende Konzentration auf das Seelenleben der Protagonisten fehlt und an dessen Sprunghaftigkeit man sich erst gewöhnen muss.
Beim zweiten Durchgang merkt und bewundert man dann aber, wie genau auch dieses Buch gearbeitet ist, vom schlackenlos-knappen Stil über die subtilen, erst im Nachhinein in ihrer Bedrohlichkeit erkennbaren Vorausdeutungen auf kommendes Unglück bis hin zu den leitmotivisch wiederholten Alltagsbeschreibungen, wie sie eine maritime Existenz nahelegt. Mehrmals hebt die Erzählerin an und belässt das Geschehen doch im örtlich Ungefähren: "Auf einer Nordseeinsel irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland." Es ist müßig, hier lange zu rätseln. Zwischen Holland und Dänemark ist viel Wasser, aber die Nordseeinseln sind ja nicht die Philippinen. Die Intensität der Stürme lässt eher an die Hochsee denken und nicht an Norderney, wobei andererseits von einer kleinen Stadt auf der Insel die Rede ist. So verleiht die relative Unbestimmtheit dem Geschehen etwas Gleichnishaftes.
Die Sanders - Mutter Hanne, Vater Jens und die Kinder Ryckmer, Eske und Henrik - bewohnen dort das schönste Haus, niedrige Decken unterm Reetdach, "malerisch" ist gar kein Ausdruck; die, wie man damals sagte, "Badegäste", die seit den Siebzigerjahren den Lebensunterhalt sichern, kommen jedes Jahr wieder. Dörte Hansen hat ein scharfes Auge für Vorgänge, die man landläufig unter "Strukturwandel" verbucht. In "Mittagsstunde" war es die Flurbereinigung, hier ist es der Fremdenverkehr, der dem auch diesmal wieder zur Statik neigenden Geschehen Dynamik verleiht.
Dass Hanne Sander sich mit ihren Feriengästen, die sie zwischen Ostern und Sommerende bei sich einquartiert, mehr Mühe gibt als mit ihrer eigenen Familie, wird seine Gründe haben; dass die Familie ihrerseits Anstoß an dieser Katzenfreundlichkeit nimmt, ist genauso begreiflich. Die Matriarchin scheint moralisch Oberwasser zu haben - über ihren Mann Jens sowieso, der einst Knall auf Fall ausgezogen ist und sich als Eremit dem Vogelschutz widmet; aber auch über die Kinder. Ryckmer, der Älteste, bekommt als abgetakelter Kapitän auf einem Fährschiff sein Gnadenbrot, wohnt wieder zu Hause, die Mutter holt ihn jeden Abend wortlos vom Hafen ab und teilt ihm seine tägliche Ration zu: "Sechs Flaschen Bier sind ein Witz für einen Mann, der sich betrinken will. Sie reichen allenfalls für eine Halbbetäubung zwischen Feierabend und dem frühen Morgen." Das stimmt natürlich, aber mehr gibt es nun mal nicht, es reicht, wenn der Kapitän a. D. an den Wochenenden im Delirium vor dem Elternhaus liegt. Eske, die Zweite, ist als Altenpflegerin mit ganzem Herzen dabei, bei ihrer blauhaarigen Festlandsfreundin Freya, von der sie sich Tattoos stechen lässt, aber nur mit halbem. An ihr wird die Steigerung des erzählerischen Härtegrades im Vergleich zur "Mittagsstunde", die auch nicht gerade verzärtelt war, sinnfällig: Sie drängt Touristen von der Straße und gibt sich nicht mit Neil-Young-Folkrock zufrieden, sondern lässt den Kopf zu knüppelharter Musik kreisen. Henrik schließlich, der Jüngste, hat das Sammeln von Strandgut zum Beruf gemacht und genießt als Produzent einer "Arte povera der Nordsee" achselzuckend die Wertschätzung kunstsinniger Insel-Gäste, eine vergleichsweise unbeschwerte Existenz unter lauter von Wind und Wetter gegerbten - "Liebling der See".
Dörte Hansen ist auch deshalb ein erzählerisches Schwergewicht, weil ihr Blick grundsätzlich auf Desillusion aus ist. Unerbittlich, zuweilen nur stichwortartig protokolliert sie Lebensenttäuschungen und sieht hinter alle Fassaden. Es ist ein nicht nur von Wortkargheit geprägtes Dasein, in dem es wenig zu lachen gibt und dessen Vorstellungen und Gewohnheiten tief in die Grönlandfahrer- und Walfängervergangenheit der Vorfahren zurückreichen. Dass das Leben nicht immer so verläuft, wie man sich das vorstellt, ist freilich keine insulare Spezialität. Aber hier, in unaufhebbarer Einsamkeit, herrschen noch andere Fatalitäten. Der Schutz vor den Elementen kann genauso überlebenswichtig sein wie die Frage, ob man dableibt oder wegzieht und, wenn man dableibt, ob man auch zur See fährt. Letzteres war einstmals fast so riskant, wie wenn man in den Krieg zog, und das Bewusstsein davon steckt den Menschen immer noch in den Knochen.
"Moby-Dick"- und Storm-Anspielungen verdichten sich zu einem See- und Seelendrama, in dem die Inselbewohner gleichsam von langer Hand mit einer eigentümlichen Naturfrömmigkeit imprägniert wurden, die sich aus Sehnsucht und Angst speist und in der die Grenze zwischen dem Belebten und dem Unbelebten durchlässig wird. Die Nordsee türmt sich in immer neuen Anläufen auf zur Metapher des Lebens an sich und bleibt ungerührt und mitleidlos. Einmal zu weit rausgeschwommen, es ist nicht wieder gutzumachen. Man könnte fast an den Beach Boy Dennis Wilson denken, wenn ausgerechnet der beste Schwimmer unter den Sanders am Ende ertrinkt.
Vor diesem Hintergrund entfaltet die schon die "Mittagsstunde" prägende Zivilisationskritik oder wenigstens -skepsis ihre Wucht. Wenn Festlandsbewohner, die hier generell unter latentem Feigheitsverdacht stehen, auf die Idee kommen, auf der Insel könnte man während einer Stippvisite irgendwie zur Ruhe kommen, wird selbst Dörte Hansen spöttisch, die Einfühlung ins Allgemeinmenschliche bekommt einen Stich ins Sarkastische: "Alle Inseln ziehen Menschen an, die Wunden haben, Ausschläge auf Haut und Seele. Die nicht mehr richtig atmen können oder nicht mehr glauben, die verlassen wurden oder jemanden verlassen haben. Und die See soll es dann richten, und der Wind soll pusten, bis es nicht mehr wehtut." Pustekuchen, kann man da nur sagen, die See richtet vielmehr über die Lebendigen und die Toten. Einer aus der seltsamen Sander-Familie opfert sich und vollendet ein "Schimmelreiter"-Schicksal: "Herr Gott, nimm mich; verschon' die Andern!"
Thomas Mann hat einst zu bedenken gegeben, dass die Theodor-Storm-Gegend nur oberflächlich christianisiert wurde; das merkt man hier. Anhand der wichtigen Nebenfigur des heuchlerisch-haltlosen Pastors Lehmann tritt das Brüchige der Glaubenswelt zutage, wobei der sonst so sicheren Erzählerin offenbar ein logischer Fehler unterlaufen ist: Lehmann macht sich Vorwürfe, das Winken eines Ertrinkenden aus großer Entfernung nicht richtig gedeutet zu haben. Viel näher dran war aber eine Gruppe Weißgekleideter, die bemerkt haben müssten, wenn jemand in Not ist. Das Unglück muss sich also anders zugetragen haben.
Abermals ist das Geschehen vor der Folie eines echten, unverfälschten, "authentischen" Lebens angesiedelt, in dem Sprache und Gebräuche aufbewahrt sind. Man kann das "Heimatliteratur" nennen, aber das heißt nicht viel. Jede gelungene Literatur ist Heimatliteratur, indem sie von dem handelt, wo der Erzähler sich am besten auskennt. Ein ganz so großer Wurf wie "Mittagsstunde" ist "Zur See" nicht geworden; aber ein Wurf allemal. EDO REENTS
Dörte Hansen: "Zur See". Roman.
Penguin Verlag, München 2022. 255 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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