Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Ein Plädoyer für gesellschaftliches Zusammenleben ohne unnötige Grenzziehungen
Über das Thema Identität wurde in den letzten Jahren viel und hitzig diskutiert. Das hat mit Auseinandersetzungen rund über die sogenannte Identitätspolitik zu tun, aber auch mit Phänomenen wie Nationalismus und Globalisierung. Dazu ist in der Folge eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, die Bücher von Anthony Appiah, Francis Fukuyama und Marc Lilla haben dabei wohl am meisten Aufmerksamkeit erregt.
Ganz allgemein haben sich zwei Positionen herausgemendelt: Laut der eher konservativen existieren abgrenzbare Gruppen und kollektive Identitäten quasi von Natur aus. Laut der eher progressiven Lesart, für die beispielhaft der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson mit seinem im Original 1983 erschienenen Buch "Die Erfindung der Nation" stehen kann, sind Identitäten und Gruppen immer Konstrukte. Die Ethnologin Katja Johanna Eichler folgt dieser eher konstruktivistischen Spur und stellt sich dem Dilemma, dass wir einerseits Gruppen brauchen, Gruppen aber andererseits immer auch Probleme mit sich bringen: Konflikte nach außen, Konformitätsdruck im Innern. Eichler knüpft an wissenschaftliche Überlegungen an, richtet sich an ein breiteres Publikum und entwickelt verschiedene konkrete Empfehlungen.
Gruppen begleiten uns, so die Autorin, ein Leben lang - vom Kindergarten über den Sportverein und den Arbeitsplatz bis zur Nation. Der Begriff "Gruppe" ist bei ihr also ein weites Dach für ganz unterschiedliche Formationen. Das Streben nach Zugehörigkeit sei häufig ein "bislang ungebremst ausgelebter Drang". Von Kindesbeinen an werde es, so die Autorin, den Mitgliedern einer Gesellschaft "antrainiert". Menschen verorten sich, diese These steht im Mittelpunkt, über die Zugehörigkeit zu Gruppen in der Welt. Gruppen gäben Struktur und böten Orientierung. Das Problem seien dabei nicht gruppenhafte Strukturen an sich. Gerade in der Bildung und in der Arbeitswelt seien sie notwendig. Außerdem könnten sie beispielsweise Eigeninitiative und Selbstorganisation stärken. Die Schwierigkeiten begännen dort, wo es zu harten Abgrenzungen komme, wo Gruppen als "abgetrennte homogene Einheit" imaginiert würden, wo ein- und aussortiert werde.
Katja Johanna Eichler, die für die Europaabteilung des Bremer Senats arbeitet, versteht ihr in teils bemüht lässiger Sprache verfasstes Buch als Intervention. Sie wirbt für ein gesellschaftliches Zusammenleben, das nicht auf Grenzziehungen aufbaut. Das Buch ist wissenschaftlich informiert und richtet sich an eine breite Öffentlichkeit. Wichtige Bezugspunkte sind etwa Theodor W. Adorno, Zygmunt Bauman, Mary Douglas und Eva Illouz.
Die ersten Kapitel widmen sich den Themen Identität und soziale Ordnung. Zentral ist hier etwa die britische Anthropologin Douglas, die eine Verbindung von gesellschaftlichen Ordnungssystemen und Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen herstellt. Wie in den Sozialwissenschaften und anderen Fächern heute üblich, wirbt Eichler dafür, individuelle Identitäten prozesshaft zu denken. Das gelte auch für Gruppen, sie seien keine "feste Struktur".
Eichlers Buch ist ein Plädoyer für eine "Desintegration von in sich integrierten, nach außen abgegrenzten, starren Gruppen", Gruppenflexibilität solle an die Stelle von Gruppenidentitäten rücken. Drei Schlussfolgerungen werden formuliert: Eichler regt eine "kritische Haltung gegenüber dem Prinzip der Ordnung und den damit verbundenen subtilen Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen" an. Außerdem solle auf abgegrenzte Gruppen verzichtet werden, "wo immer sie für ein funktionierendes gesellschaftliches Leben nicht zwingend benötigt werden". Und drittens wäre es gut, "individuelle und gesellschaftliche Überidentifizierung mit Zugehörigkeiten" zu vermeiden. Darüber hinaus müsse die Gesellschaft Äquivalente für Funktionen schaffen, die bislang von Gruppen und Kollektiven übernommen werden, also etwa die "Verortung" der Individuen in der Welt.
Es ist ein zu leichtes und oft ungerechtes Spiel, Büchern vorzuwerfen, was alles sie nicht berücksichtigen. In diesem Fall soll aber angemerkt werden, dass ein systematischerer Blick in die Gruppenforschung und ihre Geschichte interessant gewesen wäre. Eine strengere und präzisere Abgrenzung unterschiedlicher Gruppengrößen, Gruppenarten und Kategorien hätte dem Buch ebenfalls gutgetan. Ob man hierbei die Belegschaft eines Krankenhauses, motivierte Fußballerinnen in einem Team oder aber chauvinistisch berauschte Bevölkerungen im Auge hat, kann schließlich einen Unterschied ums Ganze ausmachen. Das Anliegen der Autorin ist wichtig und sympathisch. Sprachlich wird sich bestimmt nicht jeder mit den Ausführungen anfreunden können. Sätze wie "Wir brauchen keine Gruppentherapie. Was wir brauchen, ist eine Gruppenentziehungskur" oder Formulierungen wie "ein Wattebausch für unser Ego" lassen ihren Text bisweilen wie ein Self-Help-Buch klingen. ISABELL TROMMER
Katja Johanna Eichler: Zusammenleben statt Zusammenrotten. Warum wir Gruppe und Identität neu denken sollten - eine Intervention.
Büchner Verlag, Marburg 2022. 188 S., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH