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Dass kollektive Identitäten Konstrukte sind, wurde oft beschrieben. Auch dass diese verheerende Auswirkungen haben können, ist allzu bekannt. Und dennoch sind es meist abgegrenzte Gruppen, die uns ein Leben lang begleiten - von der Kita bis zum Job. Wir lernen so, dass es gut und wichtig ist, dazuzugehören, und üben die ständige Unterscheidung zwischen >Wir Die …mehr

Produktbeschreibung
Dass kollektive Identitäten Konstrukte sind, wurde oft beschrieben. Auch dass diese verheerende Auswirkungen haben können, ist allzu bekannt. Und dennoch sind es meist abgegrenzte Gruppen, die uns ein Leben lang begleiten - von der Kita bis zum Job. Wir lernen so, dass es gut und wichtig ist, dazuzugehören, und üben die ständige Unterscheidung zwischen >Wir< und >Die< ein. Katja Johanna Eichlers Essay »Zusammenleben statt Zusammenrotten« ist die Einladung, ein zentrales Element sozialer Organisation kritisch zu betrachten und immer weiter »Warum?« zu fragen: Warum haben Gruppen eine so hohe Anziehungskraft? Warum identifizieren wir uns so gerne mit der Vorstellung homogener Kollektive? Als studierte Ethnologin macht sie sich auf die Suche danach, welche Kompetenzen wir heute fördern müssten, um morgen zu einer neuen Logik des Zusammenlebens in einer heterogenen Welt zu gelangen.

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Autorenporträt
Als studierte Ethnologin beobachtet Katja Johanna Eichler den Diskurs um Identität bzw. Fragen der sog. "Interkulturalität" schon sehr lange und kommt damit auch im Rahmen ihrer beruflichen Praxis der Europabildung immer wieder in Berührung. Neue Perspektiven zu entwickeln, findet sie wichtig. Dies war auch das Ziel ihrer Dissertation zum Thema Migration und Gesundheit, in der sie eine kompetenzorientierte Sichtweise vorschlägt. Die Autorin hat Ethnologie, Psychologie und Politik an der Universität Heidelberg studiert (Magister) mit Stationen an den Universitäten Lincoln/USA und Oslo. Promoviert hat sie nebenberuflich an der Universität Hamburg (Erziehungswissenschaft). Neben der Dissertationsschrift "Migration, Transnationale Lebenswelten und Gesundheit" (VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008) hat sie einzelne Texte veröffentlicht, z.B. auch Essays in den Literaturmagazinen Lichtungen (Heft 152/2017) und Schreibkraft (1/2017). 1999 erhielt sie den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung (bevor er ein Dissertationspreis wurde) für eine Arbeit zu Malaria aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet dort in der Europaabteilung des Senats.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2022

Streben nach Zugehörigkeit
Ein Plädoyer für gesellschaftliches Zusammenleben ohne unnötige Grenzziehungen

Über das Thema Identität wurde in den letzten Jahren viel und hitzig diskutiert. Das hat mit Auseinandersetzungen rund über die sogenannte Identitätspolitik zu tun, aber auch mit Phänomenen wie Nationalismus und Globalisierung. Dazu ist in der Folge eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, die Bücher von Anthony Appiah, Francis Fukuyama und Marc Lilla haben dabei wohl am meisten Aufmerksamkeit erregt.

Ganz allgemein haben sich zwei Positionen herausgemendelt: Laut der eher konservativen existieren abgrenzbare Gruppen und kollektive Identitäten quasi von Natur aus. Laut der eher progressiven Lesart, für die beispielhaft der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson mit seinem im Original 1983 erschienenen Buch "Die Erfindung der Nation" stehen kann, sind Identitäten und Gruppen immer Konstrukte. Die Ethnologin Katja Johanna Eichler folgt dieser eher konstruktivistischen Spur und stellt sich dem Dilemma, dass wir einerseits Gruppen brauchen, Gruppen aber andererseits immer auch Probleme mit sich bringen: Konflikte nach außen, Konformitätsdruck im Innern. Eichler knüpft an wissenschaftliche Überlegungen an, richtet sich an ein breiteres Publikum und entwickelt verschiedene konkrete Empfehlungen.

Gruppen begleiten uns, so die Autorin, ein Leben lang - vom Kindergarten über den Sportverein und den Arbeitsplatz bis zur Nation. Der Begriff "Gruppe" ist bei ihr also ein weites Dach für ganz unterschiedliche Formationen. Das Streben nach Zugehörigkeit sei häufig ein "bislang ungebremst ausgelebter Drang". Von Kindesbeinen an werde es, so die Autorin, den Mitgliedern einer Gesellschaft "antrainiert". Menschen verorten sich, diese These steht im Mittelpunkt, über die Zugehörigkeit zu Gruppen in der Welt. Gruppen gäben Struktur und böten Orientierung. Das Problem seien dabei nicht gruppenhafte Strukturen an sich. Gerade in der Bildung und in der Arbeitswelt seien sie notwendig. Außerdem könnten sie beispielsweise Eigeninitiative und Selbstorganisation stärken. Die Schwierigkeiten begännen dort, wo es zu harten Abgrenzungen komme, wo Gruppen als "abgetrennte homogene Einheit" imaginiert würden, wo ein- und aussortiert werde.

Katja Johanna Eichler, die für die Europaabteilung des Bremer Senats arbeitet, versteht ihr in teils bemüht lässiger Sprache verfasstes Buch als Intervention. Sie wirbt für ein gesellschaftliches Zusammenleben, das nicht auf Grenzziehungen aufbaut. Das Buch ist wissenschaftlich informiert und richtet sich an eine breite Öffentlichkeit. Wichtige Bezugspunkte sind etwa Theodor W. Adorno, Zygmunt Bauman, Mary Douglas und Eva Illouz.

Die ersten Kapitel widmen sich den Themen Identität und soziale Ordnung. Zentral ist hier etwa die britische Anthropologin Douglas, die eine Verbindung von gesellschaftlichen Ordnungssystemen und Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen herstellt. Wie in den Sozialwissenschaften und anderen Fächern heute üblich, wirbt Eichler dafür, individuelle Identitäten prozesshaft zu denken. Das gelte auch für Gruppen, sie seien keine "feste Struktur".

Eichlers Buch ist ein Plädoyer für eine "Desintegration von in sich integrierten, nach außen abgegrenzten, starren Gruppen", Gruppenflexibilität solle an die Stelle von Gruppenidentitäten rücken. Drei Schlussfolgerungen werden formuliert: Eichler regt eine "kritische Haltung gegenüber dem Prinzip der Ordnung und den damit verbundenen subtilen Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen" an. Außerdem solle auf abgegrenzte Gruppen verzichtet werden, "wo immer sie für ein funktionierendes gesellschaftliches Leben nicht zwingend benötigt werden". Und drittens wäre es gut, "individuelle und gesellschaftliche Überidentifizierung mit Zugehörigkeiten" zu vermeiden. Darüber hinaus müsse die Gesellschaft Äquivalente für Funktionen schaffen, die bislang von Gruppen und Kollektiven übernommen werden, also etwa die "Verortung" der Individuen in der Welt.

Es ist ein zu leichtes und oft ungerechtes Spiel, Büchern vorzuwerfen, was alles sie nicht berücksichtigen. In diesem Fall soll aber angemerkt werden, dass ein systematischerer Blick in die Gruppenforschung und ihre Geschichte interessant gewesen wäre. Eine strengere und präzisere Abgrenzung unterschiedlicher Gruppengrößen, Gruppenarten und Kategorien hätte dem Buch ebenfalls gutgetan. Ob man hierbei die Belegschaft eines Krankenhauses, motivierte Fußballerinnen in einem Team oder aber chauvinistisch berauschte Bevölkerungen im Auge hat, kann schließlich einen Unterschied ums Ganze ausmachen. Das Anliegen der Autorin ist wichtig und sympathisch. Sprachlich wird sich bestimmt nicht jeder mit den Ausführungen anfreunden können. Sätze wie "Wir brauchen keine Gruppentherapie. Was wir brauchen, ist eine Gruppenentziehungskur" oder Formulierungen wie "ein Wattebausch für unser Ego" lassen ihren Text bisweilen wie ein Self-Help-Buch klingen. ISABELL TROMMER

Katja Johanna Eichler: Zusammenleben statt Zusammenrotten. Warum wir Gruppe und Identität neu denken sollten - eine Intervention.

Büchner Verlag, Marburg 2022. 188 S., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Isabell Trommer begrüßt die wissenschaftliche Grundierung des Buches der Ethnologin Katja Johanna Eichler und seine zugleich publikumsfreundlichen Ansatz. Eichlers Definition der Gruppe, die Einordung als Orientierung und Struktur, aber auch als Abgrenzung, schließlich ihr Plädoyer für ein nicht auf Grenzziehung basierendes gesellschaftliches Miteinander, leuchten Trommer ein. Weniger gut gefallen ihr der betont lässige sprachliche Duktus des Buches und dass ein "systematischer Blick in die Gruppenforschung" und eine schärfere Abgrenzung von Gruppenarten fehlt. Sprachlich erscheint ihr der Band mitunter wie ein Exemplar aus der Ratgeber-Sparte.

© Perlentaucher Medien GmbH