Zwei ethische Systeme prägen die Diskussion um Zuwanderung und Flüchtlinge: die Gesinnungsethik, die von unumstößlichen, allgemeingültigen Regeln ausgeht, und die Verantwortungsethik, die die Folgen des kollektiven Handelns bedenkt. Gesinnungsethiker neigen zu absoluten Forderungen ("Jeder Bedrohte muss aufgenommen werden!"), Verantwortungsethiker zu übertriebenem Realismus ("Und wie sollen wir mehr als 1 Million Flüchtlinge bewältigen?"). Konrad Ott hat in seinem Essay beide Ansätze miteinander verglichen und sie an der aktuellen Situation überprüft. Er bietet damit eine ethische Orientierung für jeden an dieser Debatte Beteiligten an - und das sind wir alle!
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Gustav Seibt liest Konrad Otts Band "Zuwanderung und Moral" als Drehbuch zur aktuellen Flüchtlingsdebatte. Der Umweltethiker ordnet die jeweiligen Argumente übersichtlich den Kategorien "Verantwortungsethik" und "Gesinnungsethik" zu und zeigt anhand einer Literatur von Kant über Alain Badiou bis Slavoj Zizek, dass bedingungslose Hilfe zu einer "herrschaftsfreien" Menschheit führt. Daher plädiert er für Abwägungen im Sinne der Verantwortungsethik, die auch die Folgen ihres Tun berücksichtigt, fasst der Kritiker zusammen. Ott erscheint ihm hier als "konservativer Sozialdemokrat", der mit satirischen, aber sympathischen Seitenhieben auf Gesinnungsethiker unter anderem eine Neuformulierung des Asylparagrafen 16a fordert und dabei stets wendig und klug argumentiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2016Klüger streiten
Konrad Ott über Moral
in der Zuwanderungsfrage
Im vergangenen halben Jahr dürfte überall in Deutschland, nicht nur in Medien und sozialen Medien, sondern auch an Küchentischen und Arbeitsbänken so heftig gestritten worden sein wie schon seit Langem nicht mehr. Die Flüchtlingskrise hat eine Streitleidenschaft erzeugt, die alle Behauptungen von Alternativlosigkeit, gar vom Ende der Geschichte Lügen straft. Gut so. Wer nun ein kompaktes Drehbuch lesen möchte, welches das Stimmengewirr ordnet, alle wichtigen Gesichtspunkte in eine klare Abfolge bringt, der kann auf ein hübsches Bändchen der neuen Reclam-Reihe „Was bedeutet das alles?“ aus der Feder des Umweltethikers Konrad Ott zurückgreifen. Sein Traktat „Zuwanderung und Moral“ sortiert die Argumente unter den zwei Hauptrubriken „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“, um dann jeweils ihre innere Logik Schritt für Schritt zu entwickeln.
Ein Schulbeispiel philosophischer Ethik also, und ein großer Spaß. Man könnte das Büchlein mühelos in ein komödiantisches Duodrama zum lauten Aufführen umschreiben – ambitionierte Leistungskurse sollten sich dieser Aufgabe annehmen.
Zur Erinnerung: Gesinnungsethik folgt dem moralischen Gebot bedingungslos, unbekümmert um reale Folgen – die werden Gott oder der Menschheit insgesamt anheimgestellt, denn wenn alle Menschen richtig handeln, wird alles gut. Verantwortungsethiker, so hat es Max Weber entwickelt, bedenken „voraussehbare“ Folgen unter unvollkommenen Umständen, wobei das Wörtlein „voraussehbar“ natürlich ein Meer von Zweideutigkeiten umfasst. Was also bedeutet das alles in der Flüchtlingsfrage?
Gesinnungsethik hat einen starken, einfachen Konsequenzzug: Jeder Mensch verdient gleichermaßen Hilfe, ohne Bedingungen. Schritt für Schritt zeigt Ott, wie daraus eine „schiefe Ebene“, ein „slippery slope“ zu einer entgrenzten Welt mit einer nomadischen, tendenziell sogar herrschaftsfreien Menschheit als Ziel wird. Ott entwickelt das im beständigen Kontakt mit einer reichen Literatur, die von Kant bis Alain Badiou und Slavoj Žižek reicht.
Weniger straff können Verantwortungsethiker argumentieren. Sie müssen zwischen Menschen- und Bürgerrechten unterscheiden, bestehen auf den gewachsenen Rechten politischer Gemeinschaften, die ihre gemeinsamen Güter nicht bedingungslos an eine grenzenlose Zahl von Mitgliedern abgeben können – ein prägnanter Vergleich dafür: Akademische Seminare werden jenseits einer Teilnehmerzahl von achtzig sinnlos. Hilfe beruht nicht auf Rechten, sondern Abwägungen, sie darf auf Mitwirkung der Hilfesuchenden rechnen, und was der Gesichtspunkte mehr sind.
Konrad Ott ist zweifellos der „konservative Sozialdemokrat“, für den sich Peter Sloterdijk erklärte, erfreulicherweise ohne überflüssige Islam-Verachtung. Gelegentliche satirische Lichter auf die Gesinnungsethik verraten das: So empfiehlt er, die Lasten grenzenloser Hilfsbereitschaft verstärkt auf gesinnungsethische Milieus wie die Kirchen zu verteilen. Er macht einen radikalen Vorschlag zur Neuformulierung des Asylparagrafen 16a des Grundgesetzes, die Asylsorge im Sinne internationaler Maßnahmenpolitik zur einer auch außenpolitischen Staatsaufgabe erklärt. Und er verlangt, dass die Flüchtlingspolitik unbedingt zum Gegenstand eines Bundestagswahlkampfs werden solle. All das wendet Ott aber so gelenkig hin und her, dass auch Gesinnungsethiker ihm nicht ernstlich böse sein können.
Max Weber hatte auch gesagt, „im Letzten“ seien die beiden Ethiken gar nicht unvereinbar, sie würden sich immer wieder treffen. Wo liegt hier dieser „Treffpunkt im Endlichen“, um einen Romantitel abzuwandeln? Der Rezensent vermutet: Im überwiegenden Interesse der gesamten Menschheit am Funktionieren einzelner Staaten. Anders gesagt: Wenn grenzenlose Hilfsbereitschaft zu globaler Anarchie führt, ist niemandem geholfen.
So hätte es vermutlich auch Kant gesehen, der Kant des Traktats „Vom ewigen Frieden“. Allerdings liegt dieser Gesichtspunkt so weit entfernt am Horizont, dass ein sehr weites Feld für konkreten Streit bleibt. Just do it!
GUSTAV SEIBT
Konrad Ott: Zuwanderung und Moral. Reclam Verlag, Stuttgart 2016. 95 Seiten, 6 Euro.
Wo aber liegt der Punkt,
an dem sich die Gesinnungs- und
Verantwortungsethiker treffen?
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Konrad Ott über Moral
in der Zuwanderungsfrage
Im vergangenen halben Jahr dürfte überall in Deutschland, nicht nur in Medien und sozialen Medien, sondern auch an Küchentischen und Arbeitsbänken so heftig gestritten worden sein wie schon seit Langem nicht mehr. Die Flüchtlingskrise hat eine Streitleidenschaft erzeugt, die alle Behauptungen von Alternativlosigkeit, gar vom Ende der Geschichte Lügen straft. Gut so. Wer nun ein kompaktes Drehbuch lesen möchte, welches das Stimmengewirr ordnet, alle wichtigen Gesichtspunkte in eine klare Abfolge bringt, der kann auf ein hübsches Bändchen der neuen Reclam-Reihe „Was bedeutet das alles?“ aus der Feder des Umweltethikers Konrad Ott zurückgreifen. Sein Traktat „Zuwanderung und Moral“ sortiert die Argumente unter den zwei Hauptrubriken „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“, um dann jeweils ihre innere Logik Schritt für Schritt zu entwickeln.
Ein Schulbeispiel philosophischer Ethik also, und ein großer Spaß. Man könnte das Büchlein mühelos in ein komödiantisches Duodrama zum lauten Aufführen umschreiben – ambitionierte Leistungskurse sollten sich dieser Aufgabe annehmen.
Zur Erinnerung: Gesinnungsethik folgt dem moralischen Gebot bedingungslos, unbekümmert um reale Folgen – die werden Gott oder der Menschheit insgesamt anheimgestellt, denn wenn alle Menschen richtig handeln, wird alles gut. Verantwortungsethiker, so hat es Max Weber entwickelt, bedenken „voraussehbare“ Folgen unter unvollkommenen Umständen, wobei das Wörtlein „voraussehbar“ natürlich ein Meer von Zweideutigkeiten umfasst. Was also bedeutet das alles in der Flüchtlingsfrage?
Gesinnungsethik hat einen starken, einfachen Konsequenzzug: Jeder Mensch verdient gleichermaßen Hilfe, ohne Bedingungen. Schritt für Schritt zeigt Ott, wie daraus eine „schiefe Ebene“, ein „slippery slope“ zu einer entgrenzten Welt mit einer nomadischen, tendenziell sogar herrschaftsfreien Menschheit als Ziel wird. Ott entwickelt das im beständigen Kontakt mit einer reichen Literatur, die von Kant bis Alain Badiou und Slavoj Žižek reicht.
Weniger straff können Verantwortungsethiker argumentieren. Sie müssen zwischen Menschen- und Bürgerrechten unterscheiden, bestehen auf den gewachsenen Rechten politischer Gemeinschaften, die ihre gemeinsamen Güter nicht bedingungslos an eine grenzenlose Zahl von Mitgliedern abgeben können – ein prägnanter Vergleich dafür: Akademische Seminare werden jenseits einer Teilnehmerzahl von achtzig sinnlos. Hilfe beruht nicht auf Rechten, sondern Abwägungen, sie darf auf Mitwirkung der Hilfesuchenden rechnen, und was der Gesichtspunkte mehr sind.
Konrad Ott ist zweifellos der „konservative Sozialdemokrat“, für den sich Peter Sloterdijk erklärte, erfreulicherweise ohne überflüssige Islam-Verachtung. Gelegentliche satirische Lichter auf die Gesinnungsethik verraten das: So empfiehlt er, die Lasten grenzenloser Hilfsbereitschaft verstärkt auf gesinnungsethische Milieus wie die Kirchen zu verteilen. Er macht einen radikalen Vorschlag zur Neuformulierung des Asylparagrafen 16a des Grundgesetzes, die Asylsorge im Sinne internationaler Maßnahmenpolitik zur einer auch außenpolitischen Staatsaufgabe erklärt. Und er verlangt, dass die Flüchtlingspolitik unbedingt zum Gegenstand eines Bundestagswahlkampfs werden solle. All das wendet Ott aber so gelenkig hin und her, dass auch Gesinnungsethiker ihm nicht ernstlich böse sein können.
Max Weber hatte auch gesagt, „im Letzten“ seien die beiden Ethiken gar nicht unvereinbar, sie würden sich immer wieder treffen. Wo liegt hier dieser „Treffpunkt im Endlichen“, um einen Romantitel abzuwandeln? Der Rezensent vermutet: Im überwiegenden Interesse der gesamten Menschheit am Funktionieren einzelner Staaten. Anders gesagt: Wenn grenzenlose Hilfsbereitschaft zu globaler Anarchie führt, ist niemandem geholfen.
So hätte es vermutlich auch Kant gesehen, der Kant des Traktats „Vom ewigen Frieden“. Allerdings liegt dieser Gesichtspunkt so weit entfernt am Horizont, dass ein sehr weites Feld für konkreten Streit bleibt. Just do it!
GUSTAV SEIBT
Konrad Ott: Zuwanderung und Moral. Reclam Verlag, Stuttgart 2016. 95 Seiten, 6 Euro.
Wo aber liegt der Punkt,
an dem sich die Gesinnungs- und
Verantwortungsethiker treffen?
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