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Unverkennbar neusachlich ist diese Weiblichkeit: Maria Kuncewiczowas Roman "Zwei Monde" aus dem Jahr 1933 ist ein moderner Klassiker der polnischen Literatur.
Die kleine Stadt am Fluss ist schön, so schön, dass Jeremi nicht abreist zurück in die große Stadt, sondern bleibt. In den Augen seiner Bewohner ist Kasimierz Dolny vielleicht nicht schön, aber nicht schlechter als andere Orte, weshalb auch sie bleiben; was man hat, hat man, und sei es noch so wenig. Zwei Welten begegnen sich in Maria Kuncewiczowas Roman, und über ihnen scheinen die "Zwei Monde" des Titels: Der rote des frühen Abends beleuchtet das Nachtlager der Kleinstädter, der weiße der Nacht die Flur der Sommergäste mit ihren Tänzen, Gesängen und Tändeleien. Am nächsten Tag scheint dann wieder die Sonne über beiden Welten und beleuchtet eine Szenerie, die auf erstaunliche Weise soziales Bewusstsein mit Elementen von Marc Chagall und den Roaring Twenties mischt.
Gleich in der ersten Geschichte ihres gut, nämlich mit hübschen Sehnsuchtsfalten gealterten "Romans in Erzählungen" aus dem Jahr 1933 stellt Maria Kuncewiczowa diesen Dualismus vor, der in immer neuen Konstellationen das Treiben am Weichselufer durchzieht. Sie führt Stadt und Provinz zusammen, Künstler und Händler, Christen und Juden, Alte und Junge, Sehende und Blinde, Arme und Reiche. Männer und Frauen natürlich auch, und alle verspüren Hunger nach Metaphysischem, das sie zugleich fürchten. Kuncewiczowa spinnt zarte Netze über die Gegensätze hinweg.
In der ersten der zwanzig Erzählungen, von Peter Oliver Loew übersetzt und mit Anmerkungen versehen, findet der Maler Jeremi nicht nur die zentrale Formel von den zwei Monden. Die Geschichte stellt auch viele Figuren des Buches vor: den Eisenwarenhändler Mistig, der von der Ministergattin die Lizenz für eine Lotterie erhofft, den Gepäckträger Moszek Ruchlingier und seine schlagkräftige Frau Sura, den Gerber Ludwis, die sich adlig gebende Schneiderin Walentyna, die Wojtalik-Tagelöhner, den Blinden Michal und die Bettlerin Agata. Dann wechselt der Mond die Farbe, und es folgt die Schar der Nachtschwärmer: die Schauspielerinnen Sylwia und Madzia, die Maler Mena, Jeremi, Szymon und Pawel, die modische Flora und weitere fortpflanzungsfähige Städter.
In immer neuen Konstellationen kreisen Einheimische und Gäste umeinander: Die Wojtalik-Tagelöhner stellen den Neubau der reichen jungen Frau so wie immer fertig, also schief und krumm; Jeremi malt, wie ein jüdisches Mädchen mit einer Konservendose fasziniert den Glanz aus der schillernden Abwasserrinne zu schöpfen versucht, was deren Mutter aus religiösen Gründen entsetzt; Szymon verkleidet sich als "Mohammedaner", um die blasse Madzia zu gewinnen, und steht erstaunt vor einer braun und wild geschminkten Frau, die mit ihm in eine exotische Freiheit aufbrechen will. Sie sollten, schlägt er ihr konsterniert vor, zum Fotografen gehen, eine Urlaubserinnerung wäre doch schön . . .
Mit feuilletonistischer Grazie zeigt Maria Kuncewiczowa eine nicht unbeschwerte, aber anmutige Welt. Dass die Juden in ihr bald in die deutschen Lager deportiert werden, konnte die Autorin nicht wissen - die Minderheit aber hat sie spürbar fasziniert: Die jüdischen Händler sind ebenso präsent wie der eine oder andere Antisemit. In einer Geschichte schickt Kuncewiczowa ein Ehepaar erst in den jüdischen, dann in den christlichen Gottesdienst. Danach "verbrüdern" sich die Anhänger beider Buchreligionen über dem Leichnam der Bettlerin Agata, und die Eheleute können verstört vom Tod nicht schlafen. Über ihnen wechselt der Mond von Rot zu Weiß, aber nun scheint er nicht den Amüsierwilligen.
Kuncewiczowa verschlüsselt nicht, sie stellt die Symbole und bricht sie ironisch. Gemüt und Erlebnisse der modischen Flora drücken sich in den Kleidern "Amour" und "Passion" aus, die darauffolgende Enttäuschung über den promisken Geliebten im feuchten, achtlos weggeworfenen Pelz "Solitude". Wenn Kuncewiczowa von den Städtern erzählt, deren braune Schenkel sich gern auf einer Insel in der Weichsel zueinander gesellen, dann erinnern Ton und Typen an Irmgard Keun und Mascha Kaléko. Die Weiblichkeit ist unverkennbar neusachlich, ihr Selbstbewusstsein im Krieg gewachsen, der noch nicht der Erste heißt, und die straffe Haut sucht das Vergnügen.
Manchmal zieht sie den Komfort vor. Weil "Herr Rechtsanwalt", je älter er wurde, für seinen erheblichen Verbrauch an "vorzüglichen weiblichen Werkstoffen" immer größere Barmittel aufwenden musste, ließ er sich von der im Kindbett erschlafften Ehefrau scheiden. Eine zweite Ehe versprach die Lösung seiner Probleme, der sexuellen ebenso wie der finanziellen, und die "marmorgleichen Schenkel" der zweiten, sehr viel jüngeren Ehefrau wären nach seiner Meinung zu großen erotischen Spielen vorzüglich geeignet. Nur bleiben sie meist geschlossen - die Schöne liebt den Komfort, nicht viele Umstände. Weshalb sich der "Herr Rechtsanwalt" voller Hoffnung den Jüngern des weißen Mondes anschließt. Auf der Insel, dem Ort mancher Ausschweifungen, wird allerdings auch er dem Tod begegnen.
Maria Kuncewiczowa (1895 bis 1989) kaufte 1927 in Kasimierz Dolny eine Kate und baute ein Haus. Die Schriftstellerin und Essayistin begann bald, berichtet Anna Artwinska im informativen Nachwort, dem bei Künstlern und Bohème beliebten Ort unweit von Lublin ein literarisches Denkmal zu setzen. Nach dem deutschen Angriff auf Polen floh sie mit ihrem Ehemann in die Vereinigten Staaten und kehrte erst 1969 nach Polen zurück. Einige ihrer Werke sind ins Deutsche übersetzt worden ("Die Fremde", 1936; "Der Olivenhain", 1972), bekannt aber wurde sie hierzulande nicht. Der "Roman in Erzählungen", die bis auf zwei, drei stimmig von Sommer und Sehnsucht, Lust und Trauer durchweht sind, könnte dies ändern.
Zumal Kuncewiczowa die Idylle geschickt vermeidet. Auch die Einwohner von Kasimierz Dolny erleben ihre Prüfungen: Anielcia wird im Gedränge beim Fleischer von Stasieks warmen und festen Armen umfangen und kurz darauf seine Frau. Die zärtliche Liebe stößt bei den Nachbarn, von denen einer die Axt auf die Ehefrau zu werfen pflegt, auf gehässige, aber folgenlose Kritik. Und dann gibt es noch die grobe Franciszkowa. Ihr Sohn Janek büxt immer aus und spricht wenig. Wenn sie ihn zu fassen kriegt, schlägt sie ordentlich zu, aber wann gelingt ihr das schon. Ein Teufel ist dieser Janek. Nur einmal kann sie ihn im Wald belauschen, wie er viel und vertraulich mit einem gleichaltrigen Mädchen spricht, und was er sagt, klingt nach einer Geheimsprache. Die Franciszkowa zweifelt: Was, wenn dieser Satan doch etwas weiß, das ihr unbekannt ist? JÖRG PLATH
Maria Kuncewiczowa: "Zwei Monde". Ein Roman in Erzählungen.
Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. Nachwort von Anna Artwinska. Guggolz Verlag, Berlin 2023. 252 S., geb., 22,- Euro.
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