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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Joyce Carol Oates setzt drei Freundinnen unter Druck
Es müsse herrlich sein, wenn man ist wie sie, sagt Nadia zu Merissa, und ihre Freundin antwortet nach einem Moment des Zögerns lachend: "Ich muss mich manchmal kneifen, um sicherzugehen, dass ich echt bin." Was Nadia nicht weiß: Merissa muss sich nicht nur kneifen. Sie muss sich mit einem Messer ritzen, an den Armen, auf dem Bauch, an der Innenseite ihrer Schenkel. "Wichtig war, dass man vorsichtig ritzte, fast wie ein Kuss", schreibt Joyce Carol Oates: "Als würde ein Wesen mit rauem Mund und scharfen Zähnen sie küssen." Manchmal kann Merissa kaum erwarten, sich zu verletzen: Weil es ihr ein Gefühl von Macht und Kontrolle gibt. Weil sie, wie sie findet, bestraft werden muss.
Nadia und Merissa, die verspottete Gutgläubige und die bewunderte Selbsthasserin, sind zwei der drei Mädchenfiguren, die die amerikanische Schriftstellerin in ihrem Jugendroman "Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe" am Ende ihrer Highschool-Zeit in einer wohlhabenden Gegend in der Nähe New Yorks porträtiert. Die Dritte im Bunde ist unberechenbar, scharfzüngig, ausstrahlungsstark, der Mittelpunkt einer Gruppe von Freundinnen, die sich nach ihr benennt: Tink, Inc. - und sie ist tot. "Hey, Leute, kann sein, dass wir uns eine Weile nicht sehen", hatte Tink noch geschrieben, bevor sie sich das Leben nahm. Jetzt geistert sie durch das Leben der Mädchen, in ihren Gedanken ("Was würde Tink jetzt sagen?"), als Adressatin mancher unabgeschickten SMS, in Momenten der Verzweiflung sogar als Gefühl, als Geruch, als Stimme im Kopf der anderen.
Dass Tink als Tochter einer Schauspielerin selbst lange Jahre in einer Fernsehserie mitgespielt hatte; dass Nadias Vater im Gästeschlafzimmer einen echten Kandinsky hängen hat; dass auch Merissas Vater beruflich so beansprucht ist, dass zu Hause einfach alles perfekt sein muss; dass es an der Privatschule der Mädchen um ein ständiges gegenseitiges Bewerten und Beurteilen, um Ansehen und um einen Platz an einer Elite-Uni geht - all dies rückt die Geschichte für hiesige Jugendliche in eine erträgliche Distanz. Für die Ängste der Mädchen, für ihre Gereiztheit und Liebesbedürftigkeit, die keinem jungen Leser fremd sein dürften, findet Joyce Carol Oates einen ebenso eindringlichen und kunstvollen wie irritierenden Ton.
Mal klingt er, als gehöre die Erzählerin selbst zur Tink, Inc., mal kommt er dem emotionalen Wechsel aus Verzweiflung und Selbstbeschwörung der Mädchen so nah, als könnten wir ihnen direkt ins Herz sehen. Und immer wieder lässt die Autorin in ihrer bestürzenden Geschichte durchschimmern, dass das Erzählte letztlich eine Erfindung ist, eine Konstruktion - ein Kunstgriff der Verfremdung, der aus der Belletristik vertrauter ist, im Jugendbuch hingegen kaum gewagt wird.
Merissa, in der Schule ein Star, zu Hause allenfalls als "perfektes Mädchen" geschätzt, muss mitansehen, wie ihr Vater sich von der Familie abwendet und beide Eltern ein Gebäude aus Lügen, Selbstbetrug und der Ablehnung von Gefühlen errichten: Als Merissas Vater ihr sagen will, dass er ausziehen wird, schickt er ihre Mutter mit der Nachricht vor. Seine Abscheu gegen Tränen wird zu deren eindringlicher Bitte, nicht zu weinen, um ihn nicht zu vergraulen: "Oh Merissa, das ist wichtig für uns beide, für dich und für mich, Liebes". Kein Wunder, dass das Mädchen diese lebensfeindliche Haltung übernimmt: "Merissa hasste Schwäche", heißt es einmal, "sie sah ihre Mutter durch die kritischen Augen ihres Vaters." Den Schmerz, zugleich innerlich von der Liebe ihres Vaters ebenso abhängig zu sein wie ihre Mutter, kann sie nur durch äußerlichen Schmerz stillen. Schließlich ist es eine Erscheinung Tinks, die ihr nach einem ersten Schnitt in die Pulsadern Einhalt gebietet und sie blutend ins Bett schickt.
Nadia hingegen hat sich auf einen Jungen eingelassen und wird jetzt als "dicke Schlampe" gemobbt. Sie verliebt sich in einen Lehrer und macht ihm heimlich den Kandinsky aus dem Besitz ihres Vaters zum Geschenk, ohne dessen Wert zu ahnen. Der Vater beschuldigt den Lehrer, das Mädchen hat sich unmöglich gemacht und denkt ebenfalls daran, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebt um Haaresbreite.
Nach dem Suizid des Schauspielers Robin Williams ist wieder auf die Gefahr von Nachahmungstaten hingewiesen worden, wenn in den Medien beispielsweise "das soziale Umfeld, die Identität und die Motive ergreifend beschrieben" würden. Ihren Namen hat sie aus der Literatur, sie wird "Werther-Effekt" genannt. Wie Joyce Carol Oates in ihrem einfühlsamen Buch mit diesem Risiko umgeht? Sie führt zwei ihrer Heldinnen nicht nur an den Freitod heran, sondern auch wieder davon weg. Eine lässt sie sogar wachsen, am Beschluss, dafür zu kämpfen, dass ihr geliebter Lehrer wieder unterrichten darf: "Ob das Leben so ist?, überlegte Nadia. Man denkt nicht nur über Dinge nach und ist beunruhigt über sie: Man unternimmt etwas."
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Joyce Carol Oates: "Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe."
Aus dem Englischen von Brigitte Jacobeit. Hanser Verlag, München 2014. 272 S., geb., 15,90 [Euro]. Ab 14 J.
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"Ein Jugendbuch über das Erwachsenwerden und die Qual der Selbstzweifel." Deutschlandfunk, 04.10.14