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Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer um 70 n. Chr. führte zur Spaltung der jüdischen Welt in ein östliches und westliches Judentum.Der Historiker Doron Mendels und der Rechtswissenschaftler Arye Edrei zeichnen anhand zahlreicher jüdischer wie nichtjüdischer Quellen akribisch nach, welche dramatischen Konsequenzen diese Teilung für das Judentum hatte. Mehr noch als durch die Sprachbarriere zerbrach die Einheit des Judentums durch die Ausprägung zweier disparater Lebens- und Wissenswelten: Im Osten entstand das rabbinische Judentum mit einem eigenen Schriftkanon und der von ihm…mehr

Produktbeschreibung
Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer um 70 n. Chr. führte zur Spaltung der jüdischen Welt in ein östliches und westliches Judentum.Der Historiker Doron Mendels und der Rechtswissenschaftler Arye Edrei zeichnen anhand zahlreicher jüdischer wie nichtjüdischer Quellen akribisch nach, welche dramatischen Konsequenzen diese Teilung für das Judentum hatte. Mehr noch als durch die Sprachbarriere zerbrach die Einheit des Judentums durch die Ausprägung zweier disparater Lebens- und Wissenswelten: Im Osten entstand das rabbinische Judentum mit einem eigenen Schriftkanon und der von ihm hervorgebrachten mündlichen Lehre, während das westliche Judentum biblisch verhaftet blieb. Abgeschnitten von den Entwicklungen im Osten, war Letzteres der christlichen Mission ausgeliefert.
Autorenporträt
Doron Mendels ist Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2010

Was für die Beschneidung sprach

Zwei Altertumswissenschaftler, Doron Mendels und Arye Edrei, fragen nach der historischen Legitimation für den universalen Geltungsanspruch einer rabbinischen Bibelauslegungstradition.

Ein schmales Büchlein mit einer These, die unser Bild des antiken Judentums grundlegend verändert. Denn innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung hatte man bisher weithin angenommen, dass sich in der Antike das religiöse und kulturelle Leben im östlichen wie im westlichen Judentum unter dem Einfluss der Rabbinen des Landes Israel, der Tannaim (1. und 2. Jahrhundert nach Christus) und der Amoraim (etwa 220 bis 360/70), entwickelt habe.

Demgegenüber behaupten der Althistoriker Doron Mendels von der Hebräischen Universität in Jerusalem und der in Tel Aviv lehrende Rechtshistoriker Arye Edrei jetzt, die jüdische Diaspora, also die Welt der Juden, die außerhalb Palästinas lebten, sei in dieser Zeit zweigeteilt gewesen: Es habe zwei Sprachen, Griechisch (und in geringerem Maße auch Lateinisch) im Westen und Hebräisch/Aramäisch im Osten, gegeben und, damit eng verknüpft, auch zwei "Wissenskulturen", ja "zweierlei Judentum".

Diese Auseinanderentwicklung habe sich nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus, der bis dahin das "unangefochtene Zentrum" des Judentums dargestellt hatte, zum "Kommunikationsverlust" und zum "Bruch" verschärft. Jerusalem und das Land Israel verloren ihre einheits- und identitätsstiftende Funktion für das Judentum. Ein Prozess der kulturellen und religiösen Desintegration setzte ein: Während sich im Osten ein "hierarchisches Kommunikationssystem" entwickelte, "das über eine Führung, Institutionen, eine Bürokratie und eine klare Botschaft verfügte", gab es all dies im Westen nicht.

Die rabbinische Lehre, die auf der Auslegung der hebräischen Bibel basierte, sei zunächst nur mündlich weitergegeben worden, und zwar ausschließlich im Osten, weil man sie im Griechisch sprechenden Judentum des Westens nicht verstand. Hier entwickelte man stattdessen, ausgehend von der griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta, eigene, griechische Literaturgattungen: die Apokryphen und die Pseudepigraphen. Eine Praxis der Gesetzesauslegung mit entsprechenden akademischen Institutionen, wie sie in Palästina und Babylonien entstand, sucht man im Westen vergebens.

Infolgedessen beobachtete man hier auch nur die Bestimmungen des jüdischen Gesetzes, die sich eindeutig aus der Bibel ergaben, das heißt vor allem die Beschneidung, den Schabbat, die Jahresfeste und die Speisegesetze. Neuerungen hingegen, die sich nur in der "mündlichen Tora" der Rabbinen fanden (etwa bezüglich ritueller Waschungen oder der Einführung eines feststehenden Gebetsgottesdienstes), blieben im Westen unbekannt.

Zwar lassen Inschriften und römische Gesetze einen gewissen Einfluss von West nach Ost, einen Prozess der Hellenisierung erkennen: Viele Juden in Palästina sprachen oder verstanden sowohl Aramäisch (und damit Hebräisch) als auch Griechisch. Dies gilt aber nicht umgekehrt: Eine Zweisprachigkeit ist für die westlichen Gemeinden nicht belegt und darf auch nicht einfach vorausgesetzt werden. Auch gibt es für Besuche von Rabbinen in der westlichen Diaspora bis weit in das Mittelalter hinein nur wenige und dazu historisch zweifelhafte Quellen. Dazu passt dann auch, dass die Zahlung von Steuern und Abgaben aus der westlichen Diaspora, etwa zur Unterstützung des Nasi, des Oberhauptes der Juden in Palästina, offenbar nur sporadisch erfolgt ist.

Mendels und Edrei zufolge erklärt dieser Befund auch, warum die urchristliche Mission so erfolgreich gewesen ist: "Griechischsprachige Juden, die sich in der westlichen Diaspora niederließen, hätten Paulus als ehemaligen Schüler Gamliels I. leicht für einen Rabbi halten können, der gekommen war, um die mündliche Lehre zu verbreiten." Die Christen wussten das "Fehlen einer hierarchisch geordneten Kommunikation in der westlichen Diaspora" und die Isolation des westlichen Judentums von dem des Ostens zu nutzen, um "dort Fuß zu fassen und eine strukturierte Hierarchie aufzubauen. Die Menschen, die sich dieser christlichen Hierarchie anschlossen, waren Juden, die sich von ihren Brüdern im Osten entfremdet hatten."

Erst vom siebten Jahrhundert an übernahm das westliche Judentum, sofern es dieses überhaupt noch gab und es nicht bereits zum Christentum konvertiert war, allmählich die rabbinische Halacha (Gesetzeslehre), nachdem das Judentum im Osten diese mittlerweile verschriftlicht hatte.

Als wäre dies noch nicht aufregend genug, gehen die Autoren noch einen Schritt weiter: Sie behaupten, die Entwicklung neuer Formen des Antijudaismus im europäischen Mittelalter erkläre sich auch aus eben diesem Prozess der "Rabbinisierung". Die (ältere) rein biblisch orientierte Form des westlichen Judentums konnten die Christen leichter tolerieren als die unter rabbinischem Einfluss modernisierte Version: Denn nun verfügten auch die Juden Europas im Talmud über eine methodisch reflektierte, normative Auslegung des Alten Testaments, welche zu der des Christentums in unmittelbare Konkurrenz trat und somit von den Christen als viel stärkere Bedrohung empfunden wurde.

So nachdrücklich hat man die Heterogenität des antiken Judentums in der bisherigen Forschung nicht hervorgehoben. Der Charme der Theorie von Mendels und Edrei liegt darin, dass sie viele Eigenheiten im Quellenbefund elegant zu erklären vermag, wobei die Autoren allerdings eine Antwort auf die Frage schuldig bleiben, welche Faktoren für die endliche "Rabbinisierung" namhaft zu machen sind.

Die politischen Implikationen dieser wissenschaftlichen Depotenzierung des rabbinischen Einflusses durch zwei israelische Forscher sind kaum zu übersehen: Mendels und Edrei selbst machen ausdrücklich auf die Tatsache aufmerksam, dass das europäische Judentum der Spätantike "aus dem kollektiven jüdischen Gedächtnis verschwunden" ist. Darüber hinaus wird durch dieses Buch aber auch dem religiösen Hegemonialanspruch des heutigen normativen Judentums inner- und außerhalb Israels mit seinem Insistieren auf der universalen Geltung der rabbinischen Auslegungstradition der hebräischen Bibel die historische Legitimation entzogen. Das europäische Judentum, so die Botschaft der beiden Altertumswissenschaftler, war in der ausgehenden Antike eine bunte Ansammlung von Gruppen und Grüppchen mit unterschiedlicher Homogenitäts- und Organisationsdichte - und damit kaum anders als das frühe Christentum bis zur Entstehung der Reichskirche.

WOLFRAM KINZIG

Doron Mendels und Arye Edrei: "Zweierlei Diaspora". Zur Spaltung der antiken jüdischen Welt. Aus dem Englischen von Michael Dewey. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 159 S., br., 24,90 [Euro].

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